~ Siebenundfünfzig ~

„Aleyna! Aleyna!“, hörte sie eine Stimme von weiter weg rufen, als sie sich am Montagmorgen für die erste Aufnahme im Plattenlabel mit den Jungs fertig machte. 
Erschrocken fuhr sie zusammen, sie war in letzter Zeit paranoid geworden, aber wenn man eine solange Zeit allein im Haus war, konnte die eine oder andere Stimme im sonst stillen Haus einem einen ganz schön großen Schrecken einjagen. 

Sie sollte dazu übergehen Selbstgespräche zu führen. Schnellen Schritts ging sie zum Fenster, hinter dem sie die dumpfe Stimme hatte hören können und sah hinaus. 
Draußen stand ihr Onkel Scott neben seinem blauen VW und packte einige Einkaufkisten aus dem Kofferraum aus. 
Der wöchentliche Einkauf natürlich, schalte sich Aleyna. Wie konnte sie das nur vergessen, schließlich hatte Scott die letzten 4 Wochen den Einkauf übernommen, solange ihre Mutter auf Tagung war. 

Aleyna öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um von strahlendem Sonnenschein begrüßt zu werden. Es würde wieder ein heißer Tag werden, vermutete sie. 
Und dann bereitete sich ein kleines, aber echtes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als sie der Gedanke durchfuhr, dass sie diesen Tag im kühlen Plattenlabel verbringen würde. 
Heute würde definitiv ihr Tag werden. 

„Hallo Scott!“, rief sie hinunter und winkte. 

„Hey“, begrüßte er sie mit einem überschwänglichen Lächeln. Und selbst wenn sie ihn aus dieser Entfernung nur schlecht ausmachen konnte, sah sie vor ihrem geistigen Auge bereits wie sich einige Lachfältchen um seine Augenwinkel bildeten. 

„Kommst du raus und hilfst mit bitte?“, fuhr er fort.
Aleyna nickte und keine Minute später war sie bereits am Auto angekommen und hatte sich eine Wasserkiste und einen Korb geschnappt, um wieder zum Haus zu wanken. 

„Hättest du nicht den kleinen Korb nehmen können?“, fragte Scott mit einem Lächeln, während er versuchte ihr die schwere Kiste abzunehmen. Nicht besonders erfolgreich. 

„Ich schaffe das schon“, sagte sie gespielt beleidigt, sonst hatte sie auch mit ihrer Mutter zusammen den Einkauf rein getragen, schwere Lasten zu tragen war nichts Neues für sie. Als sie zweimal hin und hergegangen waren, hatten sie es endlich geschafft und saßen schwer atmend in der Küche, während Aleyna Kaffee für Beide machte. 

„Hast du für eine ganze Fußballmannschaft eingekauft oder was?“, zog sie ihn auf und stellte ihm seine dampfende Kaffeetasse auf den Tisch.

„Danke“, entgegnete er ihr kurz. „Nein, aber ich weiß nicht, wann deine Mutter wiederkommt, aber ich vermute im Laufe der Woche müsste es soweit sein.“ 

Aleyna nickte kurz, versuchte sich aber ihre aufkommende Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. 
Es war falsch so zu empfinden, tadelte sie sich. Ihre Mutter würde endlich wieder nach Hause kommen, sie sollte sich freuen das große leere Haus nicht mehr für sich alleine zu haben.
Aber was würde dann mit No Name werden?, fragte sie sich selber. Sie konnte unmöglich weiter zu Konzerten und Proben gehen ohne, dass ihre Mutter etwas ahnen würde.

„Aleyna“, unterbrach Onkel Scott ihre Überlegungen und sah sie ernst an. 

Aleyna stockte der Atem beim ernsten Ton seiner Stimme. Was würde nun kommen? 
Langsam drehte sie sich von der Küchentheke weg zu ihm, um in ein besorgtes Gesicht sehen zu müssen. Oh nein. 

„Du weißt, dass es morgen wieder soweit ist“, sprach er ernst und akzentuiert zu ihr. Sie nickte kurzangebunden. Sie wollte nicht darüber reden. 

„Willst du noch ein bisschen Kaffee?“, wechselte sie das Thema und hielt ihm einladend die Kaffekanne entgegen. Er schüttelte den Kopf.
„Oder irgendetwas anderes?“, fuhr sie fort, ohne auf seine besorgte Miene zu achten, die sie nur allzu gut kannte. 
„Ich habe heute Morgen Brötchen geholt. Willst du eins?“

„Aleyna“, unterbrach er sie mit versteinerter Miene, bevor sie sich um Kopf und Kragen reden würde. 

„Ich will nicht darüber reden“, informierte sie ihn knapp.

Scott nickte und fuhr sich verzweifelt über seinen Bart, der sich in den letzten Wochen gebildet hatte. Er hatte vergessen sich zu rasieren.

„Ich verstehe das wirklich“, entgegnete er ihr und sah sie mitfühlend an. Er wusste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte, schoss es Aleyna durch den Kopf. 

Scott hatte keine Kinder und vor allem wusste er nicht, wie er mit einem Jugendlichen umgehen sollte. Vor allem, wenn es sich dabei um ein Mädchen handelte.
Er war gut darin über unbedeutende Dinge zu spaßen oder interessante Gespräche zu führen, aber wenn es um Zwischenmenschliches, Ernsteres ging, dann war er auf unbekanntem Terrain. Es war ihm anzusehen, dass ihm die ganze Situation unangenehm war, vielleicht bereute er es sogar das Thema überhaupt angerissen zu haben. 
Aber da konnte sie ihm auch nicht mehr weiterhelfen, er hätte es schließlich auch lassen können. 

„Aleyna, du musst irgendwann verzeihen können“, sagte er nun leise und sah sie mit traurigen blauen Augen an. Unwillkürlich fühlte sie sich an Niall und seine starrblauen Augen erinnert, die im Gegensatz zu Onkel Scotts, klar und etwas dunkler waren. 

Niall, die Band, die Musik, daran musste sie sich halten, versprach sie sich. Es würde alles gut werden. Dieses Gespräch würde enden und dann würde alles wieder gut werden. 

„Ich kann aber nicht“, erwiderte sie ernst, ohne trotzig klingen zu wollen.
Es war einfach ihre Reaktion als trotzig abzustempeln, wenn man die Hintergründe, sie nicht kannte. Schwerer war es allerdings heraus zu finden, was wirklich dahinter steckte. Denn sie wusste es selbst nicht. 

„Dir ist bewusst, dass das nicht richtig ist, oder?“, versuchte er erneut auf sie einzureden und ihrem Blick zu folgen. 

Sie senkte ihn und starrte auf ihre schwarzen verschlissenen Chucks. Sie hatten in den letzten Wochen einiges durchmachen müssen. Große Wasserpfützen, gleißende Sonne, unebene Bühnen und gepflasterte Asphalte. Sie hatten Persönlichkeit. 

„Aber was meine Mutter macht ist richtig?“, floss es bitter aus Aleyna heraus. „Sich einfach für ein paar Wochen irgendwo zu verkriechen und so tun, als ob nichts passiert wäre?“ 

Scott sah sie erschrocken an, seine verwaschenen blauen Augen weiteten sich. Eine solche Reaktion hatte er nicht von ihr erwartet. 
„Es ist einfach schwer für sie alles zu verkraften“, erklärte Scott ihr nun beinahe flüsternd. Als ob ihr das nicht bewusst gewesen wäre. „Für dich natürlich auch“, beeilte er sich zu sagen, als er sah, dass sich ihr Blick verfinsterte. 
Er dachte, dass sie deswegen wütend war, weil sie nicht bemitleidet wurde. Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte sie wütend. 

„Sie braucht das einfach, auch wenn es besser für euch beide wäre nicht allein in dieser Zeit zu sein, aber ich bin hier. Und ich biete an, mit dir zu kommen, Aleyna“, fuhr er leise und langsam fort, auch wenn er gegen Satzende immer schneller wurde. Und die Schnelligkeit strafte seiner Fürsorglichkeit lügen. Er wollte ihr nicht die Wahl überlassen, sondern sie überreden. 

„Ich will das nicht, tut mir leid“, erwiderte sie hart. Wann war sie so gemein geworden, fragte sie sich selbst. Onkel Scott meinte es nur gut mit ihr. 
Aber er wollte sie zu etwas zwingen, dass sie ganz klar nicht wollte, sie musste sich wehren.

Nialls rauer Umgang war auf sie umgeschlagen, versuchte sie sich aufzumuntern. Wenn sie bei ihm, bei den Jungs war, dann würde alles wieder gut sein, redete sie sich immer wieder ein und es half ein wenig. 
Onkel Scott nickte niedergeschlagen. 

„Möchtest du noch ein Kaffee?“, fragte sie kurzangebunden, um ihm klar zu machen, dass ihr Gespräch hier zu Ende war.

„Nein, danke“, entgegnete er ihr und stand seufzend, aber weiterhin verblüfft von ihrer schroffen Art auf.
„Soll ich morgen noch einmal kommen?“, fragte er sie hoffnungsvoll. „Nur falls du es dir anders überlegst.“

„Nein, bitte nicht“, sagte Aleyna und senkte den Blick. Aber diesmal klang sie weder trotzig noch frech, sondern einfach nur enttäuscht. 

„In Ordnung“, antwortete er ihr, tätschelte kurz ihre Schulter und verschwand. 

Wenige Minuten später, hörte sie sein Auto geräuschvoll die Ausfahrt verlassen.
Aleyna setzte sich ermattet auf dem Stuhl, auf dem vor wenigen Sekunden noch ihr Onkel gesessen hatte und versuchte sich wieder zu beruhigen. Es sollte eigentlich einer der schönsten Tag ihres Lebens werden, dachte sie niedergeschlagen.
Aber lange blieb ihr keine Zeit Trübsal zu blasen, da kurze Zeit später das Vibrieren ihres Handy in ihrer Hosentasche anfing, sie aus ihrem tranceartigen Zustand riss. 
Erschrocken sprang sie abrupt auf, bis sie sich der Tatsache bewusste wurde, dass es sich nur um ihr Handy handelte. Atemlos nahm sie schließlich den Anruf entgegen.

„Hallo?“, fragte sie erschrocken. 

„Hey Ali, alles in Ordnung?“, fragte Niall abwartend. 

Sie konnte ihn schon vor sich sehen, mit einer Augenbraue spöttisch nach oben gezogen und einem überlegenen Gesichtsausdruck im Gesicht. 
Sich selbst scheltend für ihren dummen Tonfall, schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und schrie sofort fluchend vor Schmerz auf. 
Sie hatte es etwas übertrieben. 

„Aleyna?“, fragte Niall wieder und an der Tatsache, dass er ihren vollen Namen benutzte, konnte sie sich sicher sein, dass er sich insgeheim wieder lustig über sie machte.

„Entschuldige“, sagte sie etwas zerknirscht und setzte sich wieder auf den Stuhl weit entfernt von allen Gegenständen, mit denen sie sich verletzen konnte und ihre Hände flach auf die Sitzfläche gelegen.
„Was gibt´s?“, versuchte sie ihn möglichst lässig zu fragen, aber die Aufregung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. 
Er hatte sie noch nie angerufen, schoss es ihr durch den Kopf.

„Um genau zu sein nichts“, sagte Niall und lachte über seinen eigenen Witz, denn Ali zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachvollziehen konnte. 
„Ava hat die Aufnahme heut abgesagt, private Angelegenheiten“, fuhr er fort, doch der abwertende Ton in seiner Stimme, ließ Aleyna ahnen, worum es sich bei den „privaten Angelegenheiten“, handelte. 

„Hat Ava etwa die Aufnahme abgesagt, weil sie ein Date mit Cole hat oder hatte?“, schoss es ungläubig aus Aleyna hervor. 

Sie musste Grinsen, Ava war Cole doch nicht so abgeneigt gewesen, wie sie vorher beteuert hatte. Aber das hatte sie vermutet, es war schön, dass sie glücklich war, dachte sie schmunzelnd. Auch wenn sie es die ganze Zeit irgendwie gewusst hatte. 

„Ja, beides denke ich“, entgegnete Niall ihr. Aleyna konnte das Grinsen in seinem Gesicht aus seinem Lächeln heraushören. 

„Okay, dann danke für die Nachricht“, sagte Ali nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. Sie hatte einen Tag frei. Endlich. Aber genau jetzt, wollte sie ihn nicht. 
Sie wollte in der Umgebung anderer Menschen sein, gerade in der von Niall und den Jungs, die sie immer aufmuntern konnten. 
Auch wenn der gegenteilige Effekt nicht weniger selten vorkam, sie wusste nicht, wohin sie sonst hinkonnte. Sie konnte sich einfach keinen anderen Platz vorstellen. Gerade wollte sie auflegen, da fuhr Niall ihr dazwischen. 

„Aber ich hab da schon ein Alternativprogramm aufgestellt“, sagte er nun mit einem merkwürdigen Ton in der Stimme, denn sie nicht deuten konnte.

„Schieß los“, erwiderte sie und bettete inständig darum, dass es sich um keine Stimmübungen oder Ähnliches handeln würde, aus denen Niall ein „Mach – Leyna – Fertig – Tag“ machen konnte. 

„Keine Sorge keine weiteren Übungen. Wir zwei gehen auf ein Konzert“, sagte Niall triumphierend. „Genauer gesagt ein Cover – Konzert“ 

„Wieso nur wir zwei?“, schoss es unreflektiert aus Aleyna hervor, bevor sie sich die Hand vor den Mund schlagen konnte.
Ihr Herz schlug seltsam schnell, bei dem Gedanken daran Zeit mit Niall alleine zu verbringen. Auch wenn die letzten Male nicht ganz so positiv gelaufen waren, bereitete sich Vorfreude in ihr aus.

„Die Jungs haben schon was vor“, sagte Niall kurzangebunden. Wenn sie sich nicht vollkommen täuschte, klang er etwas beleidigt. Das konnte nicht wahr sein, redete sie sich ein. 

„Also gucken wir uns schlechte Cover – Bands an, um neue Songideen zu finden, während die Anderen einen freien Tag haben“, brachte sie die Sache schmunzelnd auf den Punkt. hIr gefiel die Idee.

„Ähmmm…ja“, beeilte sich Niall zu sagen. 

„Kann ich absagen?“, fragte Aleyna hoffnungsfroh, aber ihr Grinsen wollte einfach nicht aus ihrem Gesicht verschwinden.

„Ganz sicher nicht“, sagte Niall nun wieder streng, er schien sich wieder gefangen zu haben.
Doch der lächelnde Unterton in seiner Stimme strafte seiner Strenge Lügen. Bevor sie ihm eine passende Antwort geben konnte, hörte sie plötzlich ein Auto, höchstwahrscheinlich nicht weit entfernt von ihrem zu Hause, hupen. 

„Niall, entschuldige“, versuchte sie zu sagen, um ihm ihre ausbleibende Antwort zu erklären, da wurde sie wieder von einem Hupen unterbrochen. Diesmal dauerte es viel länger an und war öfter. 
„Tut mir leid!“, schrie sie beinahe ins Telefon hinein. „Irgendein Idiot kapiert nicht…“, begann sie erneut, bis sie sich endlich bis zum Fenster herangetastet hatte.
„Oh nein“, entfuhr es ihr, als sie ein Blick auf das Auto warf, dass ihr nicht unbekannt war. Es war Nialls Auto. 
Bitte, flehte sie. Lass mich schnell sterben. Kurz und schmerzlos. 

„Der Idiot“, äußerte sich nun Niall wieder und auch wenn ihn aus dieser Entfernung nicht sehen konnte, sah sie ihn vor sich mit verbissener Miene und einem zynischen Lächeln auf dem Gesicht. „...möchte, dass du deinen Hintern sofort hierher bewegst“, fuhr er fort. 

Sie konnte nur starr nicken. Dieser Tag war wohl an Peinlichkeiten nicht mehr zu übertreffen. 
Schnell schnappte sie sich ihre Umhängetasche und hörte erst auf zu laufen, als sie sich auf dem Beifahrersitz platziert hatte. Dann schenkte sie Niall ein verschmitztes Lächeln, der sie nur kopfschüttelnd ansehen konnte. Doch er schien nicht wirklich erzürnt zu sein, denn keine Sekunde später, senkte er den Kopf und seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Fassungslos startete er schließlich den Motor und fuhr los. 

Die Fahrt zum Cover – Konzert, welches in der Stadt stattfand, hatten sie mehr oder weniger schweigend verbracht. Aleyna fühlte sich immer noch bloßgestellt von ihrem Fettnäpfchen von vorhin und die Tatsache, dass Niall gerade sie zum Konzert mitnehmen wollte, verunsicherte sie. Einerseits freute es sie, dass er sich gerade für sie entschieden hatte, sie mochte es sich mit ihm zu unterhalten, andererseits konnte sie nicht sagen, ob er es nur getan hatte, weil Aleyna sein Notnagel war oder er, schlimmer noch, ihr irgendeine Lektion erteilen wollte. 
Wie gesagt, die ganze Sache war etwas heikel.

Als Aleyna mit der Frage:
„Hörst du keine Musik beim Auto fahren?“, das Eis brechen wollte, begann Niall ihr von seinem Musikfehde mit Harry zu erzählen. 
Da sie sich das Auto teilten und immer abwechselnd fuhren, hatten beide die Angewohnheit, die CDs des jeweils Anderen in den Kofferraum zu verfrachten. 
Und da Niall erstens zu faul war, auszusteigen, den Kofferraum zu öffnen und seine CDs zu holen und zweitens auf gar keinen Fall Harrys Musik hören wollte, war es die ganze Zeit über still im Auto gewesen. 
Das ein oder andere Mal hatte sie sich während der Fahrt gefragt, ob sie zu laut atmen oder ihr Herz zu laut schlagen würde. Kompletter Unsinn. 
Aber auch Niall schien sich heute merkwürdigerweise mit Sprüchen zurückzuhalten. 

Zuerst hatte Aleyna das Gefühl, dass er sich einfach nur auf das Auto fahren konzentrieren wollte, aber als er dann einfach jemandem die Vorfahrt nahm – obwohl die Vorfahrt laut Schild dem Gegenverkehrt galt – war sie sich sicher, dass etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. 
Wobei es sich dabei handelte, war sie sich noch nicht sicher, aber manchmal hatte sie den Eindruck, dass er sie heimlich mustern würde. 
Sie selbst machten diese kurzen Blicke, die er von der Straße auf sie wechselte, vollkommen verrückt, weil sie sich fragte, ob sie einen Fleck auf dem T – Shirt hatte oder es falschrum trug. Nachdem sie also ein paar Mal an ihrem blütenweißen Top heruntersah und ihrer ausgeblichenen Jeans – deren weißen Farbkleckse gewünscht waren – und keinen Fleck oder Ähnliches erkennen konnte, beschloss sie sich anders abzulenken. 

Manchmal, wenn sie dachte, dass er sich wieder auf das Fahren und die Straße vor sich konzentrierte, beobachtete sie ihn selbst ein wenig. 
Sie stellte verwundert immer wieder fest, dass sie seine Haltung, die eine Verbindung aus lässigem vor sich hin vegetieren und einer trotzdem aufrechten Sitzhaltung war, mochte, sie machte ihn interessant. 
Wenn sie Jungs in ihrem Alter sonst beobachtete, war oft die gleiche irgendwie lasche Haltung festzustellen, die viele Menschen irgendwie entstellten. 
Aber auch sonst gab es nicht viel, was Niall entstellen konnte. Sein Gesamtpacket stimmte einfach. Er war attraktiv.
Auch wenn er immer nur die gleiche Kombination aus Shirt – heute ein schwarzes mit V – Ausschnitt – und Jeans trug, seine Haare nie bürstete und sonst auch nicht viel für sein Aussehen zu tun schien. 
Sie hatte in der letzten Zeit ihn viel beobachten können, doch wenn sie daran zurückdachte, waren es nur Momentaufnahmen, einzelne Bilder, an die sie sich erinnern konnte. Ihre volle Aufmerksamkeit war immer der Musik zugewandt gewesen, die Menschen um sie herum waren immer nur Begleiterscheinungen gewesen. 

Natürlich hatte sie bereits, als sie Niall zum ersten Mal traf, gewusst, dass er gutaussehend war, aber normalerweise machte sie sich daraus nicht viel. 
Denn meistens war es doch so: Gutes Aussehen, aber kein bisschen Charakter, oder nur einen schlechten und sehr viel Oberflächlichkeit. 
Aber keins dieser Dinge konnte man Niall vorwerfen. 
Im Gegenteil: Er schien von allem etwas zu besitzen. 
Während der Fahrt trafen sich ihre Blick ein einziges Mal und das gerade zu dem Zeitpunkt, als Aleyna gerade dabei war, Niall ausgiebig zu mustern.
Ertappt senkte sie also ihren Blick – genau die falsche Reaktion- , während Niall sich wieder aufs Fahren konzentrierte. 
Irgendwann wurde ihr – oder besser gesagt – ihrem Unterbewusstsein die Stille zu blöd, und sie – oder auch es- begann vor sich hin zu summen. 
Unwillkürlich musste Ali feststellen, dass sie  sich für „Snow (Hey Oh)“ von den Red Hot Chilli Peppers entschieden hatte. Leider wurde der ganze Song allein von einem Gitarrengriff begleitet, der nicht besonders einfach zu imitieren war.
Ihre gesummten „Dumdums“ begannen sich also zu überschlappen und irgendwann war ein Wortsalat in ihrem Mund entstanden. Irgendwann als sie selbst wahrnahm, dass sie summte, stoppte sie sich sofort und presste ihre Hand auf ihren Mund. Fettnäpfchen Nummer Hundertfünfundneunzig war überstanden.

„Snow von den Red Hot Chilli Peppers, oder?“, fragte Niall plötzlich in die Stille hinein.

„Was?“, entgegnete Ali ihm entgeistert, die schon wieder in Gedanken versunken war. Dann, als seine Frage bei ihr angekommen war, fasste sie sich und nickte. „Genau.“ 

„Kein schlechter Song“, entgegnete Niall ihr und wenn sie sich nicht vollkommen täuschte, konnte sie eine Spur Begeisterung aus seiner Stimme heraushören. 
Das war allerdings auch alles gewesen. Mehr Umfang hatte ihre geistreiche Unterhaltung leider nicht gehabt. 

Nun war Niall gerade dabei, dass Auto geschickt in eine Parklücke rein zu manövrieren, während Aleyna einen Blick nach draußen in die gleißende Sonne warf. 
In kurzer Entfernung konnte sie bereits eine große Bühne, eine Menge Trinkbuden und eine unglaublich große Menge an Leuten ausmachen, die begeistert zur Bühne hinauf sahen, auf der sich bereits eine Band vollkommen verausgabte. 
Niall brachte währenddessen das Auto zum Stehen und stieg gemeinsam mit ihr aus.
Auch er warf zuerst einen Blick auf die Bühne und zog begeistert die Luft durch die Zähne auf.

„Das wär doch mal was für uns, oder?“, sagte er staunend, den Blick immer noch auf die riesige Bühne geheftet. 
Ali, die selbst nicht unbeeindruckt von der ganzen Szenerie war, nickte nur.

„Ist das ein Marathon oder so?“, fragte sie, als sie sich auf den Weg zur Bühne machten.

„Ja. 24 Stunden lang spielen Coverbands Songs, ist eine ganz schön große Veranstaltung“, pflichtete Niall ihr bei.

„Wieso ist No Name dann nicht dabei“, sagte Aleyna mit einem Lächeln in dem Gesicht, obwohl sie heilfroh war, dass sie nicht dort oben stehen musste. Das war dann wohl doch eine Nummer zu groß für sie.

„Das sind richtige Coverbands, die überall bekannt sind und alle haben einen Plattenvertrag“, antwortete Niall ihr. 

„Wir haben auch einen Vertrag“, widersprach sie ihm weiterhin mit einem Grinsen und warf einen Blick auf ihn. 

„Ja, seit gestern, ich glaube ein bisschen Vorbereitung hätten wir schon gebraucht“, erwiderte Niall ihr ehrlich, doch sie wusste, dass er es nicht ganz ernst meinte. Er hätte alles dafür gegeben, dort zu spielen.
„Nächstes Jahr vielleicht“, sagte er und lächelte sie mit seinen funkelnden blauen Augen an, während Aleyna plötzlich einen Kloß im Hals bekam. 

Nächstes Jahr? Sie wusste noch nicht einmal, ob sie nächste Woche noch dabei sein würde. 
Wenn ihre Mutter wiederkam und die Schule wieder anfing. Sie konnte ihr Leben nicht einfach so der Musik widmen wie die Anderen, Ali hatte Verpflichtungen zu erfüllen.
Auch wenn es sich dabei nur, um das gemeinsame Abendessen mit ihrer Mutter handelte oder ihrer Schulpflicht nachzukommen. 

„Nächstes Jahr seid ihr bestimmt schon auf Welttournee“, überspitzte Aleyna ihren Eifer und grinste Niall frech an. 

„Du meinst wir“, berichtigte er sie wie immer. Sie nickte nur, sie durfte sich ihre Zweifel nicht ansehen lassen. 
Niall sah sie jetzt schon so merkwürdig an, aber einen wirklichen Verdacht schien er aber nicht zu haben, denn er wirkte weiterhin merkwürdig zufrieden. 
So hatte sie ihn schon lange nicht mehr erlebt, aber sie mochte diesen zufriedenen Niall wirklich. Es war so einfach ihn gern zu haben. 

„Okay wohin wollen wir?“, fragte er, als sie auf dem Platz angekommen war. Der ganze Platz war brechend voll, überall tummelten sich schaulustige und ein paar wichtig aussehende Menschen mit einem Backstageausweis über den Hals gehängt und einem Telefon zwischen Ohr und Schultergeklemmt.

„Irgendwo nach hinten“, antwortete sie ihm. „Da ist die Chance von unberechenbaren Fans angepöbelt zu werden am geringsten und bei einem Massenauflauf auf die Trinkbuden können wir schnell flüchten.“

„Dann nach hinten“, stimmte er ihr zu. Gemeinsam schoben sie sich durch die Menge, wobei Aleyna es deutlich schwerer hatte, sich durch die Menge zu pressen, weil man sie erst wahrnahm, wenn sie schon jemanden auf den Fuß getreten oder jemanden angerempelt hatte. 

Nialls Erscheinung dagegen war deutlich größer und selbstbewusster, sodass die Leute ihm zwar nicht sofort Platz machten, aber ihn zumindest bemerkten. 
Als sie endlich einen freien Stehplatz neben einer Treppe ergattern konnte, war Aleyna die Anstrengung anzusehen. Sofort versuchte sie einen Blick auf die etwa fünfzig Meter entfernte Bühne werfen zu können, da hörte sie jemanden dort gerade sagen: 
„Wir machen jetzt eine etwa zwanzigminütige Pause, dann geht es weiter.“ 

Ein paar Fans der Gruppe stöhnten genervt und machten sich auf zu den Trinkbuden, zu der sie sich erst einmal boxen mussten. Besonders erfolgreich und schnell schienen sie aber nicht zu sein, da es nach ein paar Minuten bereits zu einer Rangelei kam. 
Grinsend wandte Aleyna ihren Blick zu Niall.
„Siehst du, ich weiß doch, wovon ich spreche“, sagte sie grinsend. 

„Das habe ich auch nicht in Frage gestellt“, antwortete er ihr, während er sich auf einer der Treppenstufen setzte. Aleyna folgte ihn und setzte sich nur wenige Zentimeter von ihm entfernt hin. 

„Toll, jetzt sind wir gerade gekommen und schon machen die Pause“, beschwerte Aleyna sich und warf einen Blick auf ihre Schuhe.

„Dumm gelaufen“, stimmte Niall ihr zu. „Aber in den Pausen kommen immer ein paar Radiomoderatoren und machen Programm. Die Witze sind zwar flach und so schlecht, dass sie schon wieder witzig sind.“

Aleyna brach in ein kurzes Lachen aus, doch es klang nicht besonders heiter. Es war nicht so, dass sie sich unwohl fühlte in Nialls Nähe, aber es war komisch ihn so nah bei sich zu wissen. 
Sonst waren immer die Jungs um sie herum gewesen, um ihr Konfliktpotential zu mindern, aber jetzt waren sie schon eine ganze halbe Stunde allein unterwegs und noch nichts wirklich Gravierendes war geschehen. 
Nur wusste Aleyna nicht, ob das gut oder schlecht war. Vielleicht war es nur die Ruhe vor dem Sturm. 
Allerdings musste sie zugeben, dass Niall unglaublich freundlich sein konnte, wenn er wollte. Sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Aleyna konnte sich schon immer gut mit ihm unterhalten, besser als mit den meisten anderen Menschen, vielleicht sogar besser als mit allen Anderen, wenn sie ehrlich war aber, dass er auch umgänglich war, war ihr doch irgendwie neu. 
Wieso musste sie gerade jetzt feststellen, dass sie ihn doch gar nicht so schlecht fand, wie sie eigentlich dachte? 
Hatte sich das ganze Universum gegen sie verschworen? 

„Und?“, fragte sie, um irgendwie ihre Gedanken zum Schweigen zu bringen und keine Stille zwischen ihnen zu zu lassen. „Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?“ 

„Wieso sollte ich?“, entgegnete Niall ihr scheinbar lässig, doch hinter seiner Fassade konnte sie so etwas wie Verblüffung über ihre Frage und vielleicht auch Angst erkennen.

„Niall, du hast endlich Erfolg als Musiker, dass solltest du mit ihnen teilen können. Sie werden stolz auf dich sein“, widersprach sie ihm. 
Wieso mischte sie sich in seine Privatangelegenheiten ein? Es war seine Sache, er ließ sie – meistens – auch in Ruhe. Wieso wollte sie also, dass er Kontakt mit seinen Eltern hatte? Weil es das Richtige war, antwortete sie sich selbst und wusste tief in ihrem Inneren, dass das die Wahrheit war.

Es war das Richtige für seine Eltern und für Niall. Auch wenn er es nicht zu gab, er brauchte die Bestätigung seiner Eltern. Den Stolz, denn nur Eltern fähig waren richtig zu empfinden.

„Ali, meine Eltern ticken einfach anders“, versuchte er ihr zu erklären. „Na gut, dann habe ich einen Plattvertrag, aber Geld verdienen werde ich noch lange nicht tun, zumindest nicht so viel um den Maßstäben meiner Eltern gerecht zu werden. Sie würden sich freuen, wenn ich ihnen sagen würde, dass ich einen Job habe“, sagte er und mit einem Seitenblick auf Aleyna fügte er hinzu: 
„Einen richtigen Job. Welcher es ist, ist ihnen relativ egal, ich könnte auch bei der Müllabfuhr arbeiten. Hauptsache es ist ein fester Job, denn ich noch lange ausüben kann. Musik ist das für sie nicht und ich verstehe sie. Aber ich habe mich dafür entschieden. Und ich will sie nicht noch weiter damit demütigen, wenn ich ihnen illusionäre Hoffnungen machen.“

Aleyna nickte etwas enttäuscht. Sie fühlte mit ihm, verstand seine Argumentation, aber das Funkeln in seinen Augen, das während er gesprochen hatte, verschwunden war, hatte ihr Angst gemacht. 
Sie hatte sich tatsächlich Sorgen um ihn gemacht. Und tat es immer noch, wenn sie es sich endlich ehrlich zugestehen würde. Dabei war doch nichts Schlimmes dran, oder?

„Ali?“, zog Niall nun wieder die Aufmerksamkeit auf sich, nachdem sie sich weggedreht hatte, um nachdenken zu können.

„Hmm?“, fragte sie ihn gedankenverloren und wandte sich wieder zu ihm. Niall sah sie nachsichtig an und schon wieder bereitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Für einen kurzen Augenblick musste Aleyna den Kopf über ihn schütteln. Ein Lächeln im Gesicht stand ihm wirklich gut. 

„Was sagen denn deine Eltern dazu?“, fragte er sie neugierig. Und genau da kam die Frage vor der sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. 
Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich bereits gefragt, wann er sie stellen würde. Er war sonst immer sehr aufmerksam, aber diese Frage hatte ihn anscheinend bist dato nie wirklich beschäftigt. Vielleicht war sie auch unwichtig für ihn. 

Aleyna sang, sie erschien pünktlich und machte, was er sagte, vielleicht reichte ihm das. Sie musste kurz schlucken, bevor sie fähig war, ihm zu antworten. 
Sie hasste es ihn anlügen zu müssen, vor allem jetzt, wo sie sich doch so gut verstanden und Aleyna begann sich zu wünschen, sich ihm öffnen zu können. 
Dieses Gefühl hatte sie schon lange nicht mehr verspürt, genauer gesagt nie, sie wollte sich nie jemand öffnen, ihr Leben war immer ihres gewesen, nicht der Tratsch eines Anderen.
Es ging ihn nichts an, versuchte sie sich selbst zu Räson zu bringen. Er würde es nicht verstehen. Nicht jetzt, wo so viel Zeit vergangen war, in der sie es ihm erzählen konnte. 

„Nichts besonders eigentlich“, log Aleyna scheinbar lässig und knibbelte an ihren Fingernägeln.

„Das heißt?“, versuchte Niall mehr aus ihr herauszubekommen. 

„Das heißt, dass es ihnen egal ist, was ich in meiner Freizeit mache“, sagte sie, bemüht standfest zu klingen und mit einer Betonung auf die Worte „meiner Freizeit“. 

„Wie es ist ihnen egal?“, entgegnete Niall ihr empört. Er klang leicht angesäuert. Sie wusste nur nicht, ob er auf sie wütend war oder auf jemand anderen. 

„Nicht egal“, versuchte Aleyna sich erneut zu rechtfertigen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn sie sich rechtfertigen würde, sah Niall sich im Recht, aber das war er nicht.
„Es ist ungefähr wie bei deinen Eltern“, fuhr sie mürrisch fort. „Sie unterstützen mich aber einfach nur bei der Musik. Aber es ist ja auch nicht so, dass ich etwas erreicht hätte. Ich bin einfach bei euch eingestiegen und habe von eurem Erfolg profitiert. Da steckt keine Eigenleistung dahinter.“

„Ali“, erwiderte Niall plötzlich ernst und suchte ihren Blick, um ihn nicht mehr loszulassen. Seine funklenden blauen Augen sahen starr in ihre suchenden Grünen. Selbst wenn sie ihren Blick von ihm lösen wollte, sie konnte nicht.
Sein Gesichtsausdruck war nun wieder ernst, keiner seiner Gedanken ließ sich aus seiner Miene herauslesen. 

„Ich wollte dir, dass eigentlich nicht sagen, weil ich dachte, du hättest dir das bereits zusammengereimt“, begann er ernst zu sagen. Aleyna musste beinahe lachen. 
Die Situation war einfach zu paradox. Überall um sie herum genossen die Leute das gute Wetter und hatten gute Laune. Nur sie beide vertieften sich wieder in ernste Gespräche.

„Aber ich habe es anscheinend nicht verstanden“, fuhr sie fort, um ihn zum Reden anzutreiben. Seine Mundwinkel hoben sich kurz bei ihrem abwertenden Tonfall, dann wurde er wieder ernst.

„Ali, wir haben den Plattvertrag nur wegen dir bekommen. Du hast das geschafft.“

„Aber...“, wollte sie erwidern und ihm alle ihre Gegenargumente auf dem Silbertablett präsentieren, doch sie wurde von den Radiomoderatoren auf der Bühne unterbrochen, die ihr Programm präsentierten. 
Niall sah starr nach vorne zur Bühne, für ihn war die Unterhaltung hier vorbei. Wenn Ali ehrlich war, wusste sie auch nicht, was sie ihm hätte sagen sollen. 
Dafür war sie viel zu überrascht von dem neuen Wissen. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie einen Zweck in der Band hatte, aber welcher das war, war ihr bis zu dem jetzigen Zeitpunkt schleierhaft gewesen. 

Es war unsinnig, was Niall sagte, versuchte sie sich wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. 
Bloß keine Hoffnung aufkommen lassen, schalte sie sich selber. Ein Plattenvertrag für eine Band zu bekommen war immer ein Gemeinschaftsprojekt und nicht die Arbeit eines Einzelnen. 
Sie hatte vielleicht einen kleinen Beitrag dazu geleistet, aber mehr auch nicht. 
Aber wenn es so war, warum hatte No Name dann nicht schon früher, ihre Musik aufnehmen dürfen, widersprach ihr eine Stimme in ihrem Inneren. 
Weil, versuchte sie sich selbst zu rechtfertigen, doch erneut fehlten ihr die Worte. Weil das nicht möglich war. Weil Niall so etwas doch niemals ernst meinen konnte, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass er ihr das gesagt hatte. 
Das war einfach nicht möglich. Mehr gab es da nicht zu sagen. Trotzdem: Sich für einen Moment dieser Vorstellung hingeben zu können und von einem Leben zu träumen in dem Ali die Heldin war, war unglaublich verlockend. Und falsch.
Am besten sollte sie die Türen zu ihren Träumen wieder verschließen, sie brachten ihr nur Unglück.
Stattdessen wandte sie sich nach vorne und lauschte dem albernen Gespräch der beiden Radiomoderatoren. 

„Und wie immer auf einer großen Veranstaltung haben wir uns auch etwas für euch ausgedacht“, sagte gerade eine schmächtige Frau in den Dreißigern zum Publikum, welches ohne jeden Grund jubelte. 

„Genau“, erwiderte nun der Mann neben ihr, ebenfalls Moderator. „Haben wir hier denn auch einige Singles unter uns?“, fragte er möglichst motivierend in die Menge hinein, die tobte und ihre Hände begeistert hochwarf, während Aleyna nur die Augen verdrehen konnte. Was für ein Mist.

„Na gut, dann aufgepasst liebe Singles. Wir suchen mit unserer KissCam überall auf dem Gelände nach einem passenden Paar. Also, wenn ihr jemanden entdeckt habt, der euch gefällt, stellt euch einfach neben ihn. Und los geht's.“

Neben der Bühne waren auf beiden Seiten Bildschirme angebracht, die die Kamerafahrt durchs Publikum auf der Suche nach Opfern zeigte. 
Aleyna hatte jetzt schon Mitleid mit den Betroffenen. So etwas konnten sich auch nur Idioten ausdenken.
Auf den Bildschirmen sah sie einige Menschen, die begeistert die Hände hochhoben und auf den Menschen, der neben ihnen stand, zeigten, doch die Kamera fuhr ihren Weg fort, ohne sie zu beachten.

Irgendwann, als es ihr zu bunt wurde, sah sie weg, um die Leute, um sie zu beobachten. Doch ihr Blick ging durch sie hindurch. Ihre Gedanken waren noch viel zu sehr mit Niall und seinen Worten beschäftigt. 
Er hatte ihr ein Kompliment gemacht. Ohne jeden Hohn oder Sarkasmus. Konnte sie seine Aussage überhaupt ernst nehmen? Vielleicht wollte er auch einfach nur nett sein? Vielleicht… Es war unsinnig sich über Nialls Aussage Gedanken zu machen, schalte sie sich schließlich. 
Er hatte es ihr gesagt ohne jeden Hintergedanken. Nur eine einfache Aussage, ein paar Worte ohne jede tiefere Bedeutung. 

Plötzlich hörte sie ein paar Leute lachen, erst leise dann immer lauter. Das Lachen wurde kräftiger, immer mehr neue Stimmen kamen dazu. 
Schließlich drehte Aleyna sich wieder um, um den Grund für ihre Freude zu erfahren. 
Sofort fiel ihr Blick auf Niall, der starr gerade aussah und wie in Trance wirkte. Er lachte nicht. 
Dann schweifte ihr Blick weiter zu den anderen Menschen, die lachten und sie grinsend ansah. 
Einer von ihnen, eine junge Frau, zeigte nach vorne. Aleyna folgte ihrem Blick und sah sich in kurzer Entfernung selbst auf dem Bildschirm. Aber nicht nur sie war dort. 
Die Kamera hatte auf sie beide geschwenkt, sie und Niall und um das Kamerabild war ein Herz als Rahmen positioniert. 
Sie sah sich selber die Stirn verwirrt runzeln bis ihr endlich einfiel, was das zu bedeuten hatte. 

„Oh Gott“, entfuhr es ihr, ohne dass sie es verhindern konnte. Sofort hörte sie einige Leute vor und hinter ihr leise Lachen, aber sie konnte sich nicht über sie ärgern. 
Dafür war sie selbst viel zu geschockt. Wie in Trance wandte sie schließlich Niall ihren Blick zu, doch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie einen der Radiomoderatoren rufen.

„Na wunderbar, wir haben unser heutiges Pärchen gefunden“, rief er erfreut durchs Mikrofon und sogleich wurde Beifall geklatscht. „Na sehen wir einen kleinen Kuss?“ 

„Küssen, küssen“, hörte sie die Menge penetrant schreien und fühlte sich im vollkommen falschen Film.
Wenn sie zurechnungsfähig gewesen wäre, wäre Aleyna spätestens jetzt ausgerastet. Sie hätte der Menge wütende Worte an den Kopf geworfen und wäre davon gestiefelt ohne mit der Wimper zu zucken. 
Nur in diesem Moment schien ihr keins der Worte einzufallen. Ihre Beine waren schwer wie Blei und ihr Durchsetzungsvermögen hatte sich in die hinterste Ecke ihres Denkens verzogen. 

Langsam drehte sie sich schließlich zu Niall um, während die Menge weiterhin tobte. 
Sie tauschten einen kurzen, verwirrten Blickwechsel und dann…
Und dann, fühlte es sich für einen kurzen Moment an, als ob etwas ihre Lippen berührt hätte. 
Die Berührung war so kurz, dass sie noch nicht einmal ausmachen konnte, ob es sich tatsächlich um Lippen, um Nialls Lippen handelte, die ihre berührt hatten oder etwas Anderes. 
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Einen langen leidenschaftlichen, aber doch irgendwie gezwungenen Kuss? Das Verschmelzen ihrer Lippen? 
Eins war sicher: Sie hatte Erwartungen gehabt. Und genau diese Tatsache machte ihr Angst. 
Sie wollte ihn küssen. Richtig. Kein kurzer Kuss wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, keine kühle Brise im warmen Sommer oder ein unsichtbares Hauchen. 
Ali traute sich noch nicht einmal Niall in die Augen zu sehen. Wieso musste es denn immer so kompliziert zwischen ihnen sein?

„Was meint ihr?“, hörte sie den Moderator aus weiter Entfernung rufen. „Können wir ihnen mehr abverlangen? “ 

„Ja, mehr!“, rief die Menge nun wieder. „Einen richtigen Kuss!“ Ali sah starr nach unten und errötete. Die ganze Situation war ihr unglaublich unangenehm. 
Sie war so wütend und gleichzeitig so willenlos. Sie konnte einfach nichts tun. 
Da spürte sie plötzlich wie Niall ihr Kinn kurz anhob, begleitend von den Jubelrufen des Publikums, seine Hand schnell sinken ließ, sich zu ihr hin beugte und seine Lippen fest auf ihre drückte.

Zuerst war Aleyna so überrascht von dem Druck seiner Berührung, dass sie zurückschrecken wollte, doch seine Lippen schmiegten sich so nahtlos an ihre, dass ihr Gehirn vollkommen aussetzte und ihr Herz die Leitung über sie bekam. 
Sie drückte sich fest an ihn, ohne es wirklich bewusst zu wollen, hielt sich aber zurück. 
Nialls Lippen waren so geschickt, dass sie sich im Vergleich zu ihm wie ein Elefant im Porzellanladen fühlte. Sie hatte neben ihm nur ihren Ex - Freund geküsst und sich bei ihm so eingeschüchtert gefühlt, dass sie sich nie getraut hatte die Initative zu ergreifen. 
Aber damals hatte sie denken können, wenn er sie geküsst hatte, bei Niall gab es keine Gedanken mehr, sondern nur der Wunsch, dass er nicht aufhören sollte.

Niall wurde immer fordernder, zupfte an ihrer Unterlippe, um dann wieder seine Lippen fest an ihre zu drücken und jegliche Zweifel im Keim zu ersticken. 
Auch wenn es schwer war irgendetwas außer ihm und seine Lippen wahrzunehmen, registrierte Aleyna, dass man ihren Kuss einen Soundtrack gegeben hatte. 
Alex Clare, Too Close. 

Für einen kurzen Augenblick überlegte Aleyna sich, wie wütend Niall darüber sein musste, wenn er wusste, dass sie sich zu einem Pop – Song küssten, doch als der Refrain begann und sie sich Nialls Lippen auf ihren wieder bewusst wurde, genoss sie nur noch. Für den Song schien er sich nicht wirklich zu interessieren.

„And it feels like I am just too close to love you. There's nothing I can really say. I can't lie no more, I can't hide no more. Got to be true to myself”, sang Alex Clare sich gerade die Seele aus dem Leib, während Aleyna sich noch einmal vollkommen Nialls Kuss hingab. 

Doch sie war sich sicher, dass es niemals einen Song, ein Wort oder einen Vergleich geben konnte, der jemals das Gefühl beschreiben konnte, Niall zu küssen. 
Es würde niemals wirklich der Realität entsprechen. Sie würde immer tausendmal besser sein, dachte sie, als sich Nialls Lippen langsam von ihr lösten. 
Sie blieben nah beieinander sitzen, ihr Knie berührte sein Knie, sie sahen sich in die Augen und wenn sie sich noch ein bisschen weiter nach vorn bewegen würde, würden ihre Lippen direkt auf Seine treffen und das Feuer in ihrem Inneren würde erneut von vorne beginnen. 

Schwer atmend sahen sie einander fassungslos an.
Nialls Blick weitete sich immer weiter, doch er wandte sich nicht, wie sonst immer, wenn sie sich irgendwie in seine Privatsphäre eingemischt hatte, den Blick ab, sondern fesselte sie weiterhin mit seinen blauen Augen, die sie nun eine Spur verwundert ansahen. 
Was ist mit ihnen geschehen? 
Mehr, dachte ihr Herz unbeeindruckt von der Tatsache, dass Aleyna etwas vollkommen Verrücktes getan hatte, während ihr Verstand immer wieder „Halt!“ schrie. 

Auch in Niall schien ein ähnlicher innerer Konflikt zu herrschen. Immer wieder erhellte und verdunkelte sich seine Miene wieder, ohne dass er die fließenden Übergänge überhaupt mitbekam.  
Was hatte sie sich da nur wieder eingebrockt?

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Ihr könnt euch nicht vorstellen wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe 🎉🎉

Ich hoffe ihr habt es genossen. ❤

Wie wird es nun weiter gehen?
Und vor allem was verheimlicht Aleyna die ganze Zeit?

An der stelle muss ich einfach mal wieder ein danke an die treuen Leser geben. Danke für eure Votes und auch Kommentare. Das ermutigt einem immer wieder weiter zu schreiben. ❤❤

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