~ Achtundfünfzig ~
„Willst du etwas trinken?“, fragte Niall sie wenige Minuten später scheinbar unbefangen. Geschickt wich Aleyna seinem Blick aus, in der letzten Zeit waren ihre Blickwechsel intensiver geworden, als Aleyna sich gewünscht hatte.
„Ja, ich denke schon“, erwiderte sie zerstreut und sah in die Ferne zu den Trinkbuden, um sich auf etwas Anderes als Niall zu konzentrieren. Da kam ihr eine Idee.
„Aber ich gehe“, fügte sie standhaft hinzu, um Niall keine Möglichkeit zur Widerrede zu geben.
Sie brauchte das jetzt einfach, versuchte sie ihm irgendwie klar zu machen, aber die merkwürdige Gabe von Niall ihre Gedanken lesen zu können, konnte nur zum Einsatz kommen, wenn er ihr ins Gesicht sehen konnte.
Dann musste es anders gehen, dachte sie wütend. Sie würde ihren Blick nicht heben. Sonst würde all ihre Willensstärke in der Luft verpuffen und ein Mädchen zurücklassen, dass leicht zu beeinflussen war.
Ein Mädchen, das handelte und nicht dachte. Das Schlimme daran war, dass sie jetzt gerade – auch wenn sie sich schämte es eingestehen zu müssen- ohne jeden Zweifel das Mädchen sein wollte, das handelte.
Der Wunsch Niall noch einmal zu küssen war immer noch da, penetrant und unüberwindbar stand er im Zentrum ihres Denkens und ließ sich einfach nicht verdrängen.
„Bist du sicher?“, fragte Niall und versuchte erneut in ihrem Gesicht zu lesen. Zum ersten Mal seit Aleyna ihn kannte, wirkte er irgendwie hilflos. Hilflos wegen ihr, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf.
„Sie werden dir keinen Tropfen Alkohol ausschenken und außer Wasser haben sie sonst glaube ich nichts.“
„Natürlich werden sie das“, widersprach Ali ihm etwas zu aufbrausend. „Ich bin 17, ich darf rechtlich gesehen Alkohol kaufen.“
„Meinst du, sie werden dir glauben, dass du schon 17 bist?“, fragte Niall sie. Aus den Augenwinkeln sah sie ihn lächeln.
„Klar und wenn nicht, dann zeige ich ihnen einfach meinen Ausweis, soweit wird es aber nicht kommen“, entgegnete sie trotzig.
Musste er sie denn jetzt unbedingt demütigen? Am liebsten würde sie sagen, dass es besser zwischen ihnen laufen würde, wenn er nicht sprach, sondern sie küsste.
Schalte dein Gehirn wieder ein, wies sie sich selbst für ihren dummen Gedanken zurecht. Denk nach. Aber anscheinend hatte sich ihr Gehirn für heute verabschiedend. Wenn man sich einmal auf jemanden verlassen musste…
„Okay, versuch es“, gab Niall schließlich seufzend nach. Er wirkte müde.
„Mache ich“, erwiderte sie trotzig und marschierte stolz davon. Keine zehn Minuten später war sie wieder bei ihm und sprach ihn kleinlaut an.
Sie hasste es zu versagen, vor allem, wenn sie eigentlich wusste, dass sie keine Chance hatte.
Niall drehte sich mit strahlendem Lächeln zu ihr um und brach in ein amüsiertes Lachen aus.
„Keine Chance, oder?“, fragte er. Sie nickte. „Komm mit, wir regeln das.“
Dicht aneinander gedrängt pressten sie sich erneut durch die Menschenmenge bis sie an der Trinkbude angekommen waren, die Ali von nun an für immer verfluchen würde.
An der Bar stand noch immer der gleiche Typ, der vielleicht ein Jahr älter als sie war, aber definitiv jünger als Niall und sah sie dümmlich grinsend an.
Na, warte, dachte sie wütend. Du wirst auch noch dein Fett abkommen.
Als sie vor wenigen Minuten an die Bar gekommen war und für sich ein Wasser und für Niall ein Bier bestellt hatte, hatte er sie nur grinsend angesehen und gesagt:
„Na klar, hier dein Wasser, aber für das andere bis du noch ein bisschen jung. Du bist ja noch grün hinter den Ohren.“
Daraufhin hatte sie ihn fassungslos angesehen und etwas verwirrt erwidert: „Nein, ich bin 17.“
„Ja, klar und ich bin 37.“
„Nein, ich bin wirklich 17“, hatte sie weiterhin auf ihrem Recht beharrt und ihm ihrem Personalausweis vor das Gesicht gehalten.
„Geh weg, Kleine“, sagte er grinsend und bediente dann den nächsten Kunden, während er mit seinem Kollegen, der mindestens genauso „grün hinter den Ohren“ war wie sie über Ali scherzte.
Nun sah er sie wieder mit diesem überlegenen, aber amüsierten Blick an, den sie ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen wollte.
Neugierig beobachtete sie, wie Niall lässig an die Bar trat und ein kurzes Gespräch mit dem Barmann führte.
Leider konnte sie das Gespräch nicht belauschen, denn obwohl sie nah dran stand, war nur die Musik der gerade auftretenden Bands zu hören und Gesprächsfetzen anderer Unterhaltungen. Und noch näher ran zu gehen, traute sie sich nicht.
Stattdessen beschloss sie, sich ausschließlich auf die Gesichtseindrücke der Beiden zu beschränken. Niall hatte seine typische lässige und leicht ironische Maske aufgesetzt, die sie schon oft eingeschüchtert hatte.
In dieser Situation fand Ali sie nur bewundernswert. Der Typ an der Bar schien zuerst noch leicht amüsiert, dann weiteten sich seine Augen schockiert, bis schließlich ein flehender Blick auf seinem Gesicht lag und er begann hektisch auf Niall einzureden.
Ha!, dachte Ali triumphierend. Ein paar Minuten später stand Niall mit einem Bier und einem Wasser in der Hand vor ihr und lächelte sie grinsend an.
„Und?“, sagte sie scheinbar gelangweilt, als sie das Getränk dankend in Empfand nahm, doch die Neugier in ihrer Stimme verriet sie. „Was hat er gesagt?“
„Du bekommst jetzt alle Getränke wann du willst und umsonst“, sagte Niall ernst, doch dann hoben sich seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln an.
„Okay, was hast du ihm erzählt?“, schoss es unverhohlen neugierig aus Aleyna hinaus.
„Sagen wir es so, du bist für einen Abend die Backgroundsängerin von Linkin Park, die auf diesem Festival nach neuen Talenten sucht. Und da der Dummkopf an der Bar eine Freundin hat, die hier aufgetreten ist, musste er sein Faux – Pas von gerade eben schnell wieder gut machen. Ich habe ihm gesagt, dass du es leid bist wegen deiner Größe nicht für voll genommen zu werden. Da war er natürlich untröstlich.“, begann Niall ausgiebig grinsend zu erzählen.
„Aber Linkin Park hat keine Backgroundsängerin “, widersprach Ali erschüttert.
„Ja, aber das weiß der Typ doch nicht“, erwiderte Niall ihr. Ali senkte kurz den Blick, während ihr ein Lächeln über das Gesicht huschte.
„Er hat dir tatsächlich geglaubt“, erwiderte Aleyna ungläubig. „Ich meine, dass kann ihm schließlich jeder erzählen. Du hattest doch gar keine Beweise.“
„Ja, aber so läuft das Musikbusiness nun mal“, entgegnete Niall ihr. „Es geht viel um den Schein, wie du agierst und dich gibst. Niemand weiß bei so einem großen Konzert wirklich Bescheid, welche Leute sich da so rumtummeln. Wenn du dich arrogant und beschäftigt gibst, werden sie dich letztendlich für den Manager oder Ähnliches halten.“
„Na gut, okay du hast ihn also überredet“, gab Aleyna schließlich nach. „Aber die kostenfreien Getränke gelten doch nur für mich, du musstest die Getränke also doch bezahlen. Wieso hast du mich nicht einfach gerufen?“
„Achso das“, sagte Niall lässig, dann trat ein verschmitzter Ausdruck auf sein Gesicht. „Ich habe ihm gesagt, dass ich dein Freund bin, deswegen gilt für mich das gleiche Recht.“
Verdutzt starrte sie ihn an, den Mund weit geöffnet und mit geweitete Blick. Das hatte Ali nicht von ihm erwartet.
Jetzt war es an ihr möglichst locker zu reagieren, auch wenn ihr nach etwas ganz Anderem zu Mute war.
„Du profitierst also von mir“, stellte sie mit gespielt tadelnden Ton in der Stimme fest.
„So wie immer, Leyna“, stimmte er ihr zu und schob sie mit einer Hand auf ihrem Rücken durch die Menge bis sie ihren alten Platz wieder erreicht hatten.
Dort schweifte ihr Blick sofort wieder zur Bühne, auf der sich eine echte Rockröhre befand, die gerade eine interessante Version von „My Immortal zum Besten gab“.
Umrandet wurde sie von einer typischen Rockband mit ein paar Langhaarigen E – Gitarristen und einem gut gebauten Schlagzeuger.
Ihre Stimme schien beim ersten Hören nicht besonders gut zu dem Song zu passen, da sie ihn eine Oktave tiefer sang und deshalb die wichtigen hohen Töne, die dem Lied seinen geheimnisvollen Klang gaben einfach ignorierte, aber die rockigen Teile waren dafür umso besser.
Sie hatte eine solche Kraft in der Stimme mit der sie die Spannung im Song so gut umsetzen konnte, dass Aleyna nichts anderes übrig blieb als sie zu beneiden.
Auch sie hatte bereits ein Song von Evanescene performen müssen, aber an diese Leistung würde sie wohl niemals herankommen. Dafür war ihre Stimme einfach zu schwach. Unwillkürlich verglich sie sich immer wieder mit der Frau auf der Bühne und wurde immer enttäuschter.
So jemand hätte Niall in seiner Band gebraucht, schoss es ihr durch den Kopf. Eine Frau mit einer Rockstimme, die auch die tiefen Töne treffen konnte, ohne dass es sich anhörte wie das Brummen eines hungrigen Bären.
Und nicht ein Mädchen mit einer Stimme aus Glas.
Das Publikum schien Aleyna scheinbar recht zu geben, den es tobte. Von überall wurden begeisterte Jubelrufe zur Bühne hinaufgerufen, während die Sängerin sich strahlend von der Menge verabschiedet.
Als sie fast von der Bühne verschwunden war, sah Aleyna sie noch aus den Augenwinkeln auf den Gitarristen zu gehen und ihn überschwänglich küssen.
Na toll, dachte Ali ernüchternd. Musste sie den wirklich alles haben? Gab es denn nichts, was sie nicht konnte?
Sie kannte diese Frau noch nicht einmal, tadelte sie sich selbst. Wie konnte sie da schon so eifersüchtig sein?
Na gut, dann hatte sie halt eine unglaubliche voluminöse Stimme, was soll's.
Vielleicht litt sie stattdessen unter schlimmen Herpes. Deswegen hatte sie ihren Freund ja auch gerade geküsst, widersprach sie sich selbst.
Als die nächste Sängerin auf die Bühne trat, hatte Ali sich beinahe wieder eingekriegt, bis sie ihre Stimme vernahm.
Im Gegensatz zu der vorherigen Sängerin, trat diese allein auf und hatte eine engelsgleiche Stimme, für die jeder Chorleiter töten würde, um sie in seiner Gruppe zu haben.
Mit einer glasklaren Seufz – Stimme sang sie nur mit einer Gitarre im Arm zu Ed Sheerans Acousitc Song „A – Team“
"It's too cold outside. For angels to fly. Angels to fly”, sang sie bittersüß, doch anders als in Ed Sheerans Song, konnte dieser Engel auf der Bühne tatsächlich auf den weichen Tönen davon schweben.
Vor ihr konnte sie ein paar Jugendliche ausmachen, die der Sängerin schmachtende Blicke zu warfen. Genervt stöhnte sie auf. Neben sich konnte sie Niall leise lachen hören, seine Schultern begannen zu beben, als er versuchte sein Lachen zu unterdrücken.
Schnell warf Ali ihm einen bösen Blick aus dem Augenwinkeln zu und sofort stoppte sein Lachen und seine Miene versteinerte sich, während er starr nach vorne sah.
Als der Song schließlich endete und die Menge begeistert applaudierte, konnte Aleyna nicht anders, als erleichtert aufzuatmen. Endlich musste sie sich nicht mehr so schlecht fühlen.
„Endlich“, stieß auch Niall plötzlich neben ihr aus und löste seine verschränkten Hände, sodass sie nun locker an den Seiten hinunterfielen.
„Ich hasse diese Seufz – Stimmen“, murmelte er laut genug, dass Aleyna ihn hören konnte.
Sofort wandte sie sich ihm zu, bereute es aber, da sie nun ihren Blick nicht mehr von ihm lösen konnte. Er hatte sie in einer gemeinen Situation dazu gebracht, ihn anzusehen.
Sie zog eine Augenbraue nach oben und warf ihm einen ungläubigen Blick zu.
„Was?“, rechtfertigte er sich lachend. „Das ist doch echt geschmacklos. Aber fast noch schlimmer war die davor mit ihrer Raucherstimme. Das war ja beinahe fremdschämen.“
Aleyna sah in dem ironischen Funkeln seiner Augen, dass er seine Aussage nicht wirklich ernst meinte und sie nur ärgern wollte, aber obwohl sie sauer war, konnte sie nicht anders als zu lächeln.
Wieder begegneten sich ihre Blicke und sie strahlten einander um die Wette an, bis Ali wieder zu sich kam und Niall mit dem Ellenbogen in die Seite stieß.
Dieser schien den Schlag noch nicht einmal wirklich bemerkt zu haben, dafür aber die Absicht dahinter.
„Entschuldige mal“, rechtfertigte er sich schelmisch grinsend. „Wenn ich eine Sängerin für eine Rockband suche, dann will ich doch keine Raucherin, die klingt, als ob sie ein Reibeisen verschluckt hätte oder so ein kleines Mädchen, das ständig herum seufzt.“
„Und was willst du dann?“, fragte sie ihn grimmig.
„Ein Mädchen mit Persönlichkeit, das nur neidisch wird, wenn ein anderes weibliches Wesen zu singen beginnt und sich gar nicht mehr einkriegen kann.“
„Na dann viel Spaß bei der Suche“, erwiderte sie wütend und stieß erneut zu.
„Okay, okay“, redete Niall beschwichtigend auf sie ein. „Ich gebe mich geschlagen, hör du nur auf mit deiner Körperverletzung, ich könnte dich mittlerweile deswegen verklagen.“
„Und ich nicht, oder was?“, rief Aleyna empört aus.
„Schmerzensgeld ist doch wohl das Mindeste, was mir zusteht bei all dem Mist, den ich bei euch mitmachen musste.“
„Ich denke der Plattenvertrag und die Vorstellung, dass du für einen Tag so tun kannst, als ob ich dein Freund wäre, ist doch mehr als ausreichend“, konterte er geschickt.
Wütend wandte sie den Blick von ihm ab, diese Runde hatte eindeutig sie verloren.
Aber ihre Wut verrauchte schnell und machte dem Gefühl von widersprüchlicher Freude Platz, während Aleyna still in sich hinein grinste.
„Leyna?“, fragte Niall plötzlich, als sein Gesicht kein zwei Zentimeter von ihr entfernt auftauchte und er sie schelmisch angrinste. Er hatte sie ertappt.
Der Wunsch den kleinen Abstand zwischen ihren überwinden zu können, um seine Lippen auf ihren zu spüren, schien sie beinahe zu überrennen, doch sie konnte ihm nicht nachgeben, wenn sie noch das bisschen Würde retten wollte, das ihr geblieben war.
„Weißt du?“, sagte sie und lächelte ihn freundlich und von seiner Nähe scheinbar vollkommen eingenommen an.
„Ich glaube…“, fuhr sie flüsternd fort, während Niall immer neugieriger wurde.
Er nickte ihr auffordernd zu, vollkommen von der Intensität der Situation gefangen. Sie hatte ihn an der Angel.
„Ich gehe jetzt mal zu dem Typen an der Bar und sage ihm, dass ich mich von dir getrennt habe und dann fliegst du im hohen Bogen hier raus“, beendete sie ihre Attacke auf Niall schnell und hart.
Jede gespielte Wärme aus ihrer Stimme war gewichen und sie sah ihn überlegen an. Doch Niall reagierte anders, als sie gedacht hatte.
Anstatt ertappt zu wirken, senkte er nur den Blick, während ein kurzes Lächeln über das Gesicht huschte. Es sah irgendwie angsteinflößend aus.
„Weißt du Leyna“, hauchte er beinahe, während sei Atem ein paar ihrer wilden Strähnen davon pustete. „Das war echt geschickt…“
Seine Augen leuchteten sie glücklich an. „Aber nicht geschickt genug“, sagte er dann und trat ein Schritt zurück. Sofort vermisste Ali die Wärme seines Körpers.
„Woher willst du denn wissen, dass ich dir die Wahrheit erzählt habe?“
Mist, dachte Aleyna. Sie hatte wohl doch nicht alles bedacht. Wie konnte er sie nur schon wieder austricksen? Ein unsicherer Ausdruck trat auf ihr Gesicht, ohne dass sie ihn verhindern konnte.
„Na, Muffensausen Leyna?“, fragte Niall sie grinsend und sah sie von oben herab an. Seine Körpergröße wirkte nun einschüchternd auf sie. Er machte ihr deutlich, dass er am längeren Hebel saß.
„Nein“, erwiderte Ali, obwohl sie sich bewusst war, dass sie bereits verloren hatte.
„Aber?“, half ihr Niall auf die Sprünge. Aber… aber leider war sie gerade zu keinem einzigen Gedanken mehr fähig. Selbst wenn sie den Blick von Niall abwenden würde, das half alles nichts mehr. Seine Blicke verfolgten sie sogar in ihren Gedanken.
„Aber der Song ist gerade echt gut“, versuchte sie sich irgendwie zu retten und wippte im falschen Takt zu dem Song mit, den sie bis gerade eben noch nicht einmal wahrgenommen hatte.
„Das ist ein Song mit Synthesizer – Musik“, klärte Niall sie ungläubig auf, während Ali wieder einmal das Gefühl bekam sich an diesem Tag bis auf die Knochen blamiert zu haben.
„Na und?“, erwiderte sie scheinbar desinteressiert von seinem Einwurf.
„Du hasst elektronische Musik.“
Musste er sich denn wirklich alles merken, was sie jemals von sich gegeben hatte? Auch wenn es ihr irgendwie schmeichelte, in dieser Situation war es alles andere als vorteilhaft.
Seufzend starrte sie hinunter auf ihre Schuhe und gab sich schließlich geschlagen.
„Du hast gewonnen“, sagte sie betrübt, während Niall leise lachte. So glücklich hatte sie ihn schon lange nicht mehr erlebt. Wann immer er lachte, hatte sie sofort den Drang mit zu machen.
„Wollen wir uns langsam auf den Weg nach Hause machen?“, fragte Niall und überging ihr Faux – Pax höflicherweise.
Ali sah sich ertappt um. So spät konnte es doch gar nicht sein? Aber tatsächlich war bereits die Dämmerung angebrochen. Sie hatte vollkommen das Zeitgefühl verloren.
„In Ordnung“, stimmte sie ihm zu und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Auto.
Im Auto herrschte wieder ein bedeutunsschwangere Stille zwischen ihnen. Wirklich, wenn Aleyna nicht wusste, dass sie durchaus in der Lage waren viel und vor allem laut miteinander zu kommunizieren, hätte sie ein gestörtes Gesprächsverhalten der Beiden diagnostiziert.
Immer wieder versuchte sie sich mit dem Blick durch das Fenster abzulenken, doch weder die Betrachtung des farbenfrohen Himmels, dessen verschiedene Rot – und Rosatöne beinahe in einem fließenden Wechsel zueinander übergingen, noch die vielen verschiedenen Bäume, die an ihnen beinah nahtlos vorbeiflogen, konnte ihre innere Unruhe irgendwie vermindern.
„Können wir bitte Musik anmachen?“, wandte sich Ali schließlich beinahe flehend an Niall. „Bitte, auch wenn du Harrys Musik hasst.“
Nialls Hände, die sich vorher noch verkrampft am Lenkrad festgehalten hatten, wurden nun wieder entspannter. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, doch er sah sie nicht an – glücklicherweise.
„In Ordnung, aber die medizinische Versorgung wegen meines Ohrenkrebses musst du dann übernehmen.“
„Ach, jetzt stell dich nicht so an“, schalte sie ihn und schaltete die Anlage an.
Aus den Lautsprechern klang –wie konnte es auch anders sein – Harrys Lieblingssong: Erase Me von Kid Cudi.
Wie passend.
Niall stöhnte kurz auf, während Aleyna sich grinsend zum Rhythmus bewegte – so gut es beim Sitzen eben möglich war. Okay, ihr Geschmack war es auch nicht, aber auf jeden Fall ein Gute Laune Song, auch wenn der Titel ein anderes Programm versprach.
Ali nickte lässig mit in bester Rap –Manier, aber das ironische Funkeln in ihren Augen verriet ihre Absichten.
Niall lachte. In einem Anfall von Selbstbewusstsein, öffnete Aleynq das Fenster und beugte sich hinaus in die kühle Abendluft, während sie die Lautstärke erhöhte.
Auf der anderen Straßenseite konnte sie ein älteres Pärchen ausmachen, dass sie verwirrt ansah und die Stirn runzelte.
„She said I don’t spend time like I really should, she said she don't know me (anymore). I think she hates me deep down. I know she does she wants to erase me. A couple days no talking. I’ve seen my baby and this what she tells me”, sang sie lachend mit, während ihre Stimem sich ein paar mal vor Gelächter überschlug.
Sie war eine schlechte Rapperin, für diesen Wortgesang fehlte ihr einfach das gewisse Rhythmusgefühl, aber es machte Spaß, so zu tun, als ob sie es könnte.
Es war ihr sogar egal, dass es nicht gut klang oder dass Niall oder die Menschen draußen ihr zu hören konnten und möglicherweise die Stirn runzeln würden.
Ali war einfach nur glücklich.
Auch Niall schien ihr kleiner Anfall Spaß zu machen, auch wenn er dafür seine strikten Ideale für ein paar Minuten auf den Kopf stellen musste.
Als sie schließlich zum Refrain kam, ließ Aleyna es sich nicht nehmen, einen kurzen Trommelwirbel zu symbolisieren und Niall einen grinsenden Blick zu zu werfen.
Es war ein Fehler, aber das hatte sie vorher gewusst, denn wie immer heftete ihr Blick an Seinem.
Sie holte tief Luft um wieder klar denken zu können, dann wandte sie sich ab und sang weiter:
„She said, I keep on running, keep on running and nothing works. I can’t get away from you no, I keep on ducking keep on tucking your nothing else. I can’t stop missing you”
Dann wandte sie Niall erneut ihren Blick zu und ließ ihn dort, sie konnte sich ihm nicht mehr entziehen und wollte es auch nicht mehr. Es war sowieso schon zu spät dafür.
Aber Niall schien sie dafür nicht zu tadeln oder auszulachen, auch er strahlte sie glücklich an und gab ihr mit dem Trommeln auf dem Lenkrad einen Beat.
Immer wieder fuhren sie an Menschen vorbei, die sie verwirrt ansahen, aber sie konnten nicht aufhören zu lachen.
Dabei lag es nicht nur an den verblüfften Gesichtsausdrücken der Menschen, sondern eher an ihnen.
Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Sie waren aufgedreht, verwirrt und einfach nur glücklich.
Als Niall schließlich das Auto anhielt, um sie zu Hause abzusetzen, konnte sie gar nicht fassen, wie viel Zeit doch vergangen war, seit sie heute Morgen in das Auto gestiegen war.
Die Hinfahrt war ihr wie ein endlos langer Weg in einem dunklen Tunnel erschienen, aber die Zeit danach? Sie war verflogen wie im Flug. Einzelne Bilder des Tages schossen durch ihren Kopf, es war verrückt.
Heute Morgen hatte sie diesen Tag gleichzeitig verflucht und herbeigewünscht, und nun? Sie wollte nicht, dass er endete. Niall, der ihre Unsicherheit bemerkte, machte sich an der Anlage zu schaffen und blendete die Musik leise aus.
Dann war es wieder still zwischen ihnen und obwohl Aleyna wusste, dass sie gehen musste, konnte sie nicht.
Aber diesmal lag etwas in dieser Stille, ein Knistern, so leise, dass es eigentlich nicht zu hören war, aber für Beide doch lauter, als jede Sirene.
Und schon wieder spürte sie das Verlangen in ihr hochkommen, Niall zu küssen. Dieser Wunsch lag, nachdem sie ihn das erste Mal geküsst hatte – oder eher er sie – wie ein dichter Schleier um sie, und ließ Aleyna einen getrübten Blick auf die Dinge haben, sie konnte einfach nicht mehr klar sehen.
Denn jedes Mal, wenn sie versuchte einen bedeutungsvollen Gedanken zu entwickeln, kam sie an einen unsichtbare Barriere in ihrem Kopf, die alles in ihr in Flammen setzte und nur noch eine hormongesteuerte Jugendliche zurückließ, die sie nie war und auch nie sein wollte.
Schalte dein Gehirn ein, tadelte Ali sich. Krieg dich wieder ein, er ist nur ein Kerl.
Wütend verflocht sie ihre Finger miteinander, bis sie einen kurzen schmerzvollen Stich spürte, aber ihre Gedanken wurden anders als gedacht, nicht klarer.
Im Gegenteil alles wurde nur noch schwammiger, undurchsichtiger.
Schluss jetzt, schrie sie sich selber an. Du verabschiedest dich jetzt von ihm und gehst.
Keine schmachtenden Blicke, keine halbstündige Blickwechsel.
Entschlossen nickte Aleyna, hob den Blick und traf sofort auf Nialls Augen, die ihren scheinbar gefolgt waren. Kurzschluss. Alle Lichter waren aus, es war stockdunkel in ihr. Keine Gedanken mehr, nur Verlangen.
Stürmisch beugte Aleyna sich zu Niall hinüber und stieß sich am Autodach den Kopf. Niall, der ihr helfen wollte und selbst den Abstand zwischen ihnen überwinden wollte, kam ihr wieder näher, nur damit sie keine Sekunde später mit den Köpfen zusammenstoßen und schwer atmend sich wieder jeder in seinen Sitz fallen ließ.
Gott, war sie dumm. Denn anstatt einfach abzuwarten, bis er zu ihr kam, hatte sie sich schon wieder nach vorne bewegt. Ali hielt sich schmerzerfüllt die Hand vor die Schläfe, während sie sich tausendmal beunruhigt bei Niall entschuldigte.
„Schon in Ordnung, Ali“, antwortete Niall ihr, während er sich zerknirscht über den Hinterkopf rieb. Wo war der Meteorit, wenn man ihn brauchte?
„Okay“, sagte Aleyna seltsam kleinlaut und warf ihm aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zu.
Sie hörte ihn kurz aufseufzen und fassungslos den Kopf schütteln, dann beugte er sich wieder zu ihr hinüber. Unwillkürlich – es war wie ein Reflex – tat Aleyna es ihm gleich, doch Niall drückte sie an der Schulter vorsichtig wieder in den Sitz.
Sein Blick sagte etwas wie: „Beweg dich bloß nicht“ Aleyna nickte, während Niall sich wieder langsam zu ihr vordrang.
Zwischen ihnen lag vielleicht ein Abstand von höchstens einem Meter, aber er schien unmöglich zu überwinden.
Ali hörte sich selbst laut und gespannt atmen, während Niall ihr immer näher kam.
Sie konnte bereits sein Atem auf ihrem Gesicht spüren, seinen Duft ausmachen.
Als sein Gesicht schließlich seitlich vor ihrem war, während sie immer noch starr geradeaus wie angeordnet sah, umfasste er vorsichtig ihr Kinn und drehte es zu ihm um.
Ihre Nasenspitzen berührten sich beinahe, während sie beide einander etwas atemlos ansahen und Ali die Wärme seines Körpers genoss.
Aleyna traute sich nicht, sich zu bewegen, sie wollte auf gar keinen Fall etwas tun, das diese gespannte Situation zwischen ihnen entzauberte.
Atmen, wies sie sich zurecht. Kurz dachte sie, dass sich ihre Lippen nie berühren würden, da drückte Niall sanft seinen Lippen auf ihre.
Er wollte wirklich sanft sein, den ganzen Kuss über, das konnte sie ihm ansehen, doch sein Versprechen löste sich in Luft auf, als ihre Lippen sich berührten.
Wieder schien jede Vernunft in ihnen ausgelöscht zu sein, während sie sich aneinander pressten, sodass kein Blatt Papier mehr zwischen ihnen passte.
Als Aleyna dachte ihm nicht näher sein zu können, spürte sie, wie er sie mit dem Arm um ihre Mitte noch näher an sich heranzog.
Immer wieder trennten sich ihre Lippen, um wieder Luft zu holen, dann ging es so weiter, als ob nichts geschehen wäre. Sie wollte mit ihren Fingern durch seine Haare fahren, über sein Gesicht streicheln, aber sie traute sich nicht.
Dafür hatte sie viel zu viel Angst etwas falsch zu machen, aber dafür genoss sie Nialls Berührungen umso mehr.
Der Kuss endete als Beide kurz davor waren zu ersticken und sich schwer atmend voneinander lösten, um ermattet in ihre Sitze zu gleiten.
Als ihre Atmung sich wieder stabilisiert hatte, hörte Aleyna sich selbst etwas wie: „Okay“ sagen.
Sollte sie jetzt aussteigen? Oder bleiben? Würden sie sprechen? Aber Niall sagte nichts und sie selbst wusste auch nicht, wie sie diese Situation wieder ernüchtern konnte, weshalb sie mit der Hand am Türgriff verharrte und sagte: „Okay, wir sehen uns dann.“
Sie wusste selbst, wie dumm diese Worte klangen nicht nur in ihren Ohren, aber was sollte sie sonst sagen?
„Ali?“, sagte Niall, als sie beinahe ausgestiegen war. „Hast du morgen Zeit, oder bringen dich deine Eltern um, wenn du wieder solange weg bist?“
„Na klar habe ich Zeit“, sagte sie verblüfft, während sich ihre Miene erhellte. „ Meine Eltern sind für ein paar Tage weggefahren“, sagte sie und das war noch nicht einmal eine wirkliche Lüge gewesen.
„Geht’s bei dem Treffen wieder um die Perfektion unserer Musik?“, fragte Aleyna ihn lachend, um die Situation aufzulockern.
„Nein, nein“, erwiderte Niall. „Es ist etwas vollkommen Normales. Treffen wir uns am Park?“
Sie dachte an den morgigen Tag, der vor zwei Jahren der dunkelste Tag in ihrem Leben geworden war. Zum ersten Mal seit zwei Jahren würde sie sich endlich auf den morgigen Tag freuen können. Und sie würde ihn mit Niall verbringen.
„In Ordnung“, entgegnete sie und lächelte Niall an. Sie verabschiedeten sich kurz und als Aleyna bereits im Haus war, hörte sie Niall geräuschvoll die Ausfahrt verlassen.
Ali hatte sich nie als normales Mädchen gesehen, doch als sie nach oben in ihr Zimmer ging, ihre Tasche fallen ließ und aus ihrer Anlage die sanften Töne von Sixpence Non The Richers „Kiss Me“ erklangen, war sie genauso wie alle anderen Mädchen auch.
Einfach nur irgendwie hormongeladen und glücklich.
“Kiss me out of the bearded barley. Nightly, beside the green, green grass. Swing, swing, swing the spinning step. You wear those shoes and I will wear that dress.”
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Ach, ist das süß. Wie sagt man so schön „was sich neckt das liebt sich”
Ich würde mal sagen die beiden haben ein Date?
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