KAPITEL 6

Elona

Die letzten Tage waren anstrengend, nervenaufreibend und haben mich an den Rand der Verzweiflung getrieben. Jede Bank hat mich abblitzen lassen und die bisherigen guten Kontakte meiner Eltern scheinen sich aufzulösen. Das Vertrauen in Steel ist dahin.

Danke Dad!

Neben den klassischen Geldquellen überlegen Erin und ich, uns an ausländische Investoren zu wenden, die an der Qualität der Manufaktur sicher Interesse hätten. Der nächste Termin mit M & B Trading soll das Kaufinteresse abblocken, denn wenn wir Geld auftreiben können, wird es für sie uninteressant und teuer. Aber es ist nicht leicht, gerade in unserer aktuellen Situation, denn die Auftragslage ist desaströs und ein Ende ist nicht in Sicht. Wir müssen uns mit den Kunden – den verbliebenen – treffen, um zu signalisieren, dass wir weitermachen. Zudem ist es dringend notwendig, die Mitarbeiter und damit das Know-how im Unternehmen zu halten. Erin streckt sich und sieht mich abgekämpft an. Wir sind seit dem Meeting nur zum Duschen und Schlafen nach Hause gefahren und die Sorge und Anstrengung der letzten Tage machen sich allmählich bemerkbar.

»Wir müssen mit den Leuten sprechen. Sie müssen wissen, das wir alles für den Erhalt der Firma und damit ihrer Arbeitsplätze tun«, seufze ich und Erin nickt gähnend.

»Das ist eine gute Idee. Sie sollen wissen, dass wir für sie kämpfen.«

»Willst du das übernehmen?«, frage ich zaghaft und sie sieht mich erstaunt an.

»Aber das hier – die Firma – das war doch immer dein Baby«, argwöhnt sie und ihre dunkelbraunen Rehaugen werden schmal und funkeln wachsam.

»Schon, aber ich ... WIR sind jetzt die Firma, zumindest bis Dad wieder auftaucht. Und du bist eindeutig besser darin, vor Leuten zu sprechen«, gebe ich kleinlaut zu, denn das hat sie eindeutig in dem Meeting mit M & B Trading bewiesen.

»Wenn du meinst. Ich will aber nicht hinterher hören, ich würde mich in den Vordergrund spielen und alles an mich reißen«, gibt sie nörgelnd zu bedenken und ich nicke seufzend.

»Erin, es tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich ...«

»Nein, schon gut. Im Grunde hast du ja recht. Ich war eine ignorante, aufgeblasene Schnepfe, die sich von dem Glamour hat anziehen lassen, wie die Motte vom Licht. Wenn der widerliche, arrogante, hinterfotzige Arsch nicht gewesen wäre – aber er war nun mal da und ich bin drauf reingefallen.« Ihre Miene verhärtet sich, wie jedes Mal, wenn sie über ihren Ex-Verlobten spricht, dem ich die Pest an den Hals wünsche.

»Du würdest mir wirklich einen Stein vom Herzen nehmen«, gebe ich zu und sie lächelt mich spitzbübisch an, wie damals, als wir im zarten Kindesalter von fünf und acht Jahren Mums Schminkutensilien ausprobiert und sämtliche Lippenstifte abgebrochen haben und wir aussahen, als wollten wir in einer Clown-Parade mitlaufen.

»Aber du musst mir mit den Inhalten helfen. Du kennst die Leute hier besser als ich«, lächelt sie mich an und ich bin dankbar, dass wir unsere Differenzen zumindest hier beiseiteschieben können. Als wir das nächste Mal auf die Uhr schauen, ist es bereits nach 21 Uhr. Meine Augen brennen und ich bin hundemüde.

»Komm, Sunshine, lass uns für heute Feierabend machen. Die gruseligen Zahlen laufen schon nicht weg«, beendet Erin unsere heutige Nachtschicht und ich bin froh, nach Hause zu kommen. Vor dem Tor, das elektronisch hinter uns zufährt, verabschieden wir uns und sie ermahnt mich, den Termin bei der Kosmetikerin am Samstag nicht zu vergessen. In all der Hektik um Dads Verschwinden war mir mein Äußeres vollkommen egal, doch meine Schwester wäre nicht angehendes Supermodel gewesen, wenn sie nicht in jeder Lebenslage perfekt gestylt den divenhaften Auftritt hinlegen könnte. Schmunzelnd verdrehe ich die Augen und nicke nur, bevor ich ins Auto steige, und heimwärts fahre. 

Auf dem Weg wandern meine Gedanken automatisch zu Dad, den wir auch in unserem Landhaus nicht finden konnten. Erin wurde panisch und rief die Polizei an, die uns versicherte, dass sie sich der Sache annehmen würde, was ich zugegeben abscheulich finde. Nie haben unsere Eltern uns Anlass gegeben, uns Sorgen um sie zumachen – na ja, da war Mum ja auch noch da. In den letzten Tagen kamen immer wieder Bilder hoch, wie erschreckend schnell mein Vater abgebaut hatte. Sonst energiegeladen und positiv gestimmt, schien er ab dem Schicksalsschlag eingefallen, fast zerbrechlich geworden zu sein.

Warum ist mir das damals nicht schon aufgefallen? 

Weil ich so mit mir selbst und in dem eigenen düsteren Trauerprozess gefangen war, der mich eine ganze Zeitlang nicht losgelassen hatte. Versunken in Verzweiflung, die mich zu ersticken drohte, gequält von der kreischenden Angst, zu versagen, sodass ich mein Umfeld – meine Familie – völlig außer Acht gelassen hatte. Schuldgefühle überkommen mich augenblicklich und mein Magen zieht sich krampfartig zusammen. Noch immer schwelt die emotionale Wunde unter der hauchdünnen Schicht des Verdrängens, juckt, wenn ich es wie jetzt zulasse, und erinnert mich mahnend daran, was für eine schlechte Tochter und Schwester ich bin. 

Als Nesthäkchen wollte ich es allen recht machen, habe versucht, neben Erin zu bestehen, die von allen bewundert und verehrt wurde, wenn wir früher in der Öffentlichkeit auftraten und sie ihr Talent als Mittelpunkt der Veranstaltung ausspielte. Ja, ich war neidisch auf Erin, auf ihr umwerfendes Äußeres, wie leicht es ihr fiel, mit Leuten in Kontakt zu kommen und wie unnahbar sie sein konnte, wenn sie es für nötig hielt. Ihr Charme und Liebreiz waren so enorm, dass ich daneben wie ein blasser Abklatsch wirkte und mich oft heimlich davonschlich. Da ich mit Erin eh nicht mithalten konnte, entdeckte ich Sport für mich und Surfen gehört seit meinem sechsten Lebensjahr zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Ja, in England kann man auch surfen. Erin zog mich damals damit auf, dass ich immer nach abgestandenem Wasser stinken würde. Insgeheim war sie jedoch neidisch, dass ich mich ganz ungezwungen mit normalen Leuten am Strand tummelte, während sie von Beautybehandlung zu Fotoshootings hetzte, strenge Diät halten musste und nichts ohne einen riesen Rummel an Kameras tun konnte. Sie hatte den perfekten Porzellan Teint, die perfekte Figur einer sexy Ikone und ihr braunes seidiges Haar gab ihr einen eleganten Touch. Ja, meine Schwester war und ist eine Schönheit. Ich hingegen bin hellblond und meine Haut ist zu jeder Jahreszeit goldgebräunt. Ja, die Steel-Mädels hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Zu Hause angekommen, gehe ich sofort duschen. Vom vielen Sitzen ist mein Nacken ganz steif und ich genieße das heiße Wasser und das sündhaft teure Duschgel und Shampoo, das Erin mir geschenkt hat. Obwohl ich mir vorgenommen habe, die Firma und die Sorgen heute mal draußen zu lassen, wandern meine Gedanken wieder zu dem arroganten Trio, das uns aufkaufen will. Tash Montgomery – wenn er nicht so abartig gut aussehen würde, fiele es mir leichter, ihn zum Teufel zu jagen.

Wieso spukt er mir gerade jetzt im Kopf herum? 

Immerhin ist Dad verschwunden und wir müssen dringend einen Geldgeber finden und ... Stöhnend lasse ich mich mit meinem Abendessen auf die Couch fallen. Zum ersten Mal bin ich wirklich dankbar, dass Erin an meiner Seite ist. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind und unterschiedliche Vorstellung in vielen Bereichen des Lebens haben, ist sie meine Schwester. Jetzt, wo ich näher darüber nachdenke, kommen mir unsere Zankereien und Sticheleien völlig bescheuert und kindisch vor. Wir sind erwachsen, haben Mum verloren und ganz offensichtlich auch unseren Dad und das Einzige, was uns einfällt, ist alte Eifersüchteleien auszugraben.

Erbärmlich!

Dass sie heute angeboten hat, die Mitarbeiteransprache zu übernehmen war großartig. In den letzten Jahren hat sie sich sehr verändert, ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, was ich gut nachvollziehen kann. Sie wurde auf Schritt und Tritt von Reportern verfolgt, die ihre Schmach in Hochglanzbildern meistbietend verschachern wollten, um mit ihrem Scheitern reich zu werden. Widerlich. Erin hat sich abgeschottet, ging kaum noch aus und löschte alle ihre Social Media Accounts. Dates hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr, hasst die Männerwelt nun abgrundtief und wittert hinter jedem netten Wort eine Hinterhältigkeit. Verdenken kann ich es ihr nicht. Es war hart für sie und wir alle haben mit ihr gelitten. Nur mit unserer besten Freundin Ashley geht sie aus, aber nur in Clubs, die nicht für das Fußvolk zugänglich sind und auch nur, wenn Ashley sie dazu nötigt. Ich bin ein paarmal mitgegangen, doch die snobistischen Partygäste sind nicht mein Fall. Ich bin eher der Beachparty-Typ, mit Lagerfeuer unterm Sternenhimmel.

Was Mum wohl zu all dem sagen würde ... 

Über die Erinnerungsreise ist mein Essen kalt geworden und kopfschüttelnd stelle ich es in den Kühlschrank und gehe ins Bett. Morgen ist ein wichtiger Tag und ich hoffe, dass Erin und ich einigen Boden gut machen werden.

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