KAPITEL 2

Elona

Erin starrt fassungslos auf die Mahnungen der Banken, die sich in einem Schuhkarton auf dem Schreibtisch gesammelt vor der Wahrheit verstecken wollen. Mrs. Fuller schnieft in ein Taschentuch, denn sie ist von dem Ausmaß des Desasters, das wir vorgefunden haben, erschüttert.

»Und er hat nichts gesagt?«, frage ich zum gefühlt hundertsten Mal, obwohl ich die Antwort bereits kenne. 

»Nein, nichts«, beteuert sie leise und holt zittrig Luft. »Einige der Mitarbeiter waren zwar in den letzten Wochen öfter hier oben, aber Sie kennen ja Ihren Vater. Er schaffte es, alle zu beruhigen und na ja, keiner traute sich wirklich, auf den Tisch zu hauen – wegen Mrs. Margret.« Meine schlimmsten Befürchtungen bestätigen sich damit. Dad hat Mums Tod nie wirklich verwunden. Und das Ergebnis ist der Bankrott der Firma. Der sture Esel ließ sich nie helfen oder hat Erin oder mich an sich herangelassen. Mürrisch und eigenbrötlerisch wurde er und hat sich von uns nur zu den zwingend erforderlichen Geburtstagen oder Feiertagen besuchen lassen. 

Ich gebe zu, auch ich war froh, mit mir und der Trauer alleine fertig zu werden, doch das es so dramatisch um ihn steht, haut mich um.

»Wie um alles in der Welt kann das so lange nicht auffallen?«, fragt sich Erin angespannt und lässt den Blick durch das Büro schweifen. »Mum würde ihm den Kopf abreißen. Sieh dir nur das ganze Chaos hier an. Sie hatte immer eine strikte Ordnung gehalten und jetzt herrscht hier nichts als ein riesiger Saustall.« Sie trifft damit einen entscheidenden Punkt. 

Mum hat die Bücher geführt, die Aufträge an Land gezogen und sich um die ganze Organisation gekümmert. Dad war für die Produktion verantwortlich und hat wenig Talent für Kundengespräche oder die penible Planung der Budgets. Dafür hatte er den Blick für die richtig gute Ware und war Experte in Sachen Leder und dessen Verarbeitung. Ob handschuhweich, naturgewachsen, unbehandelt oder veredelt – es gab nichts, was er nicht hinbekam. Zusammen waren sie ein absolutes Dreamteam. 

»Wir müssen rauskriegen, wie schlimm es wirklich ist. Ohne einen konkreten Überblick haben wir keine Chance, einen vernünftigen Plan aufzustellen«, werfe ich ein und Mrs. Fuller nickt zustimmend, während meine Schwester sich bereits einen der Ordner schnappt und sich in die Sitzecke verzieht. »Können Sie nochmal versuchen, Dad zu erreichen?«, frage ich Mrs. Fuller, die dankbar über eine Aufgabe sofort an ihren Platz rauscht. »Hör zu, ich mache eine Aufstellung mit allen Punkten, die wir benötigen und einer Liste mit den Banken, Gläubigern und so weiter. Dann lassen wir uns die Unterlagen geben – falls das überhaupt möglich ist – und machen diese Woche die wichtigsten Termine«, schlage ich Erin vor, die mich ansieht und stumm nickt. 

Den Rest der Woche habe ich mir frei genommen, was meinem Chef gar nicht passte, aber was soll ich machen. Die Existenz von Steel Leather Manufacture steht auf Messers Schneide und damit der ganze Stolz der Familie. Mein Großvater hat die Firma aufgebaut, mit Aufträgen der Flug-, Möbel- und Automobilindustrie, und Mum hat mit ihrer Hingabe für feinstes Leder und ein gutes Gespür fürs Geschäft das Ganze richtig groß gemacht. Wir sind sogar international bekannt – zumindest waren wir das mal. 

Wie konnte Dad das nur zulassen?

»Ach Ms. Elona, da war eine Firma am Telefon, die den Termin wegen des ausgeschriebenen Angebots bestätigt hat.« Wie von der Tarantel gestochen springt Erin auf und gemeinsam stürmen wir zu Mrs. Fuller.

»Was denn für ein Angebot?«, hake ich nach.

»Es scheint, als habe Ihr Vater vor, die Firma zu veräußern.«

»Das kann er nicht machen! Mum würde ausrasten. Es ist unsere Firma. Ich glaub das alles nicht!« Erin ist stocksauer und stapft wütend vor dem Schreibtisch auf und ab, hinter dem Mum immer gesessen hatte und zuletzt unser Vater.

»Und wenn es so schlimm ist, dass es eine Überlegung wert ist?«, gebe ich zu bedenken, obwohl mit bei dem Gedanken daran ganz schummerig wird.

»Hast du den Verstand verloren, Elona Steel? Es ist das Vermächtnis der Steels. Grandpa hat sich den Arsch aufgerissen und Mum hat das Unmögliche geschafft. Und jetzt soll das alles Geschichte sein. Nein! Auf keinen Fall können wir das zulassen.« Ihre Augen sprühen Funken und ihre Wangen sind gerötet, so sehr echauffiert sie sich über das Desaster.

»Du warst doch noch nie begeistert, dich um die Firma zu kümmern.«

Verflixt!

Kein guter Zeitpunkt, um in alten Wunden zu stochern, doch auch meine Nerven liegen blank. Mit einem hasserfüllten Blick fährt sie zu mir herum und deutet mit dem Zeigefinger auf mich.

»War ja klar das du ausgerechnet jetzt mit dem alten Scheiß um die Ecke kommen musst. Wir stecken bis zum Hals in der Krise und du kommst mir jetzt damit?« 

Es stand schon immer zwischen uns, dass Erin, meine ältere, bildhübsche Schwester, das Rampenlicht in vollen Zügen genoss und durch ihr atemberaubendes Äußeres eine Karriere als Leinwanddiva erträumte, anstatt sich für unser Unternehmen zu begeistern. Nach der Schule hatte sie einige lukrative Werbeshootings, drehte mehrere TV-Werbespots und wurde als das neue Gesicht für diverse Kosmetikprodukt gehandelt. Ihr damaliger Manager versprach ihr die große Karriere als Filmstar und sie glaubte ihm nur zu gerne. Sie war wirklich gut, doch ihr Manager und späterer Verlobter war ein Abzocker und Schürzenjäger der übelsten Sorte. Trotz aller Warnungen verlobte sie sich mit ihm. Er verstrickte sich immer mehr in widersprüchlichen Aussagen zu den anstehenden Filmprojekten, für die sie vorsprach, Deals platzten und einen Tag vor der Hochzeit ließ er Erin mit gebrochenem Herzen, einem leergeräumten Bankkonto und einem nicht erfüllten Hollywoodtraum sitzen. 

Seitdem verachtet sie die Männer und hat sich völlig zurückgezogen, aus Angst vor Häme und Spott über die verpatzte Karriere als Model und Superstar. Zu der damaligen Zeit hat sie sich nie um das Familienunternehmen geschert, sondern nahm nur den monatlichen Scheck gerne an. Ich habe mich dafür sehr für unsere Sattlerei interessiert, wie alles von Grandpa aus dem Nichts aufgezogen wurde und wie nach und nach die Aufträge größer wurden. Zu verstehen, wie der ganze Prozess funktioniert, hat mich sehr fasziniert und Mum und Dad waren stolz, dass wenigstens eine Tochter in ihre Fußstapfen treten wollte. Mit Mum sprach ich über die Firmenzukunft, doch wir waren uns einig, dass ich erst mein Studium beende und Erfahrungen in anderen Unternehmen sammeln sollte, bevor ich mich dem Familienbusiness widme. Nach ihrem Tod lief alles aus dem Ruder, Dad hat sich zurückgezogen, ich war dankbar, am anderen Ende der Stadt einen gutbezahlten Job zu haben und meine eigenen Wunden zu lecken. Ein riesen Fehler wie sich nun rausstellt.

»Wenn du weniger damit beschäftigt gewesen wärst, dich zu verkriechen, anstatt mal nach Dad zu sehen, würden wir uns jetzt nicht in dieser Situation befinden«, schieße ich zurück.

»Ach ja? Nur weil du ein Studium und alles gemacht hast, was Mum von dir verlangt hat, ohne eine eigene Idee vom Leben zu haben, bin ich nun schuld an dem Drama hier? Typisch Elona – immer die vorzeige Tochter raushängen lassen. Zum kotzen«, giftet sie mich an, rauscht aus dem Büro und knallt die schwere Tür hinter sich zu, dass die Wände wackeln. Resigniert lasse ich den Kopf hängen und versuche, nicht auszuflippen. Dramatische Auftritte sind ganz nach Erins Geschmack und im Laufe der Jahre hat sie sie perfektioniert. Mrs. Fuller steckt vorsichtig den Kopf zur Tür herein und ich winke sie zu mir. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie zaghaft.

»Kommen Sie rein. Ja, es ist nur ... wir sind nur beide geschockt. Und Erin ist ...«

»Ich versteh' schon. Soll ich Ihnen einen Tee machen?« Dankbar nicke ich und mache mich an die Liste der Unterlagen, sortiere die offenen Posten und lasse mir die Namen und Telefonnummer der Banker geben, mit denen wir seit jeher zusammen arbeiten.

»Geben Sie mir bitte die Nummer von Sir Malcom Clifford«, rufe ich und eine Minute später steht Mrs. Fuller vor mir und hält mir die elfenbeinweiße Visitenkarte des Juristen und langjährigen Freundes meines Vaters unter die Nase.

»Er hat immer versucht, an Ihren Vater heranzukommen. Es tut mir wirklich leid. Hätte ich geahnt, wie schlimm es tatsächlich ist, hätte ich ...«

»Machen Sie sich keinen Vorwurf. Es scheint, als hätten wir alle kläglich versagt«, winke ich ab und sie sieht mich mitleidig an. »Ich werde nicht zulassen, das es so endet.« Damit wähle ich die Nummer von Sir Malcom, in der Hoffnung, er könne etwas Licht ins Dunkel bezüglich des ominösen Termins bringen, der für Donnerstag Vormittag bei uns im Büro anberaumt wurde.

»Ms. Elona, unter diesen besonderen Umständen würde ich gerne morgen früh direkt zu ihnen kommen. Wissen Sie, wo Howard ist?« Sir Malcom klingt angespannt, so als würden sich seine schlimmsten Befürchtungen mit meinem Anruf für ihn bestätigen und das wiederum versetzt mich in helle Aufregung.

»Ehrlich gesagt ist er verschwunden. Keiner hat ihn seit gestern gesehen. Und ans Telefon geht er auch nicht«, seufze ich und kneife mir an die Nasenwurzel, um den Anflug der Kopfschmerzen zu unterdrücken.

»Der verrückte alte Mistkerl. Oh – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Ms. Elona. Aber ich habe ihm damals schon geraten, jemanden in die Geschäftsleitung zu holen, der ihm den ganzen Bürokratiemist abnimmt, den er so hasst. Aber stur wie er ist, wiegelte er all meine Empfehlungen ab.«

»Verstehe.« Einzig meine Mum konnte ihn einfangen. Eine Katastrophe. »Sagen Sie, was genau ist das für ein Termin, den wir am Donnerstag mit ... wie heißt die Firma gleich?«

»M & B Trading – Konzern spezialisiert auf den Kauf von Firmen jeglicher Art, die in Schieflage geraten sind. Neben Sanierungen und Restrukturierungsprojekten, bei denen sie eine Menge Geld machen, sind sie auf Grundstückskauf in Metropolen spezialisiert, da dort das Bauland knapp und teuer ist.«

»Das heißt, sie kaufen etwas für einen Dumpingpreis, um es dann für teures Geld an den Meistbietenden zu veräußern?« Bei der Vorstellung wird mir schlecht.

»Sehr präzise auf den Punkt gebracht. Ihre Strategie ist bemerkenswert und sie haben einen wahren Spezialisten im Bereich der Steuerschlupflöcher und sind extrem gut vernetzt.« Mir schnürt es die Kehle zu. Mit diesen Aasfressern soll ich mich an einen Tisch setzen?

»Können wir den Termin nicht verschieben. Ich brauche mehr Zeit für die Vorbereitung. Wenn wir ...« Sein Seufzen deutet nichts Gutes an. 

»Elona, ihr Vater hat den Termin vereinbart. Er wollte es so.« Wie erstarrt kralle ich den Telefonhörer fest und schließe die Augen. »Strategisch wäre das kein gutes Signal. Solche Verhandlungen dauern in der Regel mehrere Wochen, teils Monate. Ich bin mir sicher, mir fällt Einiges ein, um das Ganze in die Länge zu ziehen, wenn es soweit ist. Lassen Sie uns den Termin abwarten und dann können wir uns um die bestmögliche Strategie kümmern.«

»Aber das Geld. Wir ... es ist nichts mehr da, oder?« Fast versagt mir die Stimme, als ich die Frage stelle, vor der mir am meisten graut. Einen Moment herrscht am andern Ende der Leitung Stille.

»Ich habe nicht alle Zahlen vorliegen, aber ... ja, die Banken haben alles eingefroren, da die Kredite seit einiger Zeit nicht mehr bedient werden. Und die Aufträge, nun, die sind ausgeblieben.«

»Aber wir hatten doch die ...«

»Ich weiß. Offenbar hat Ihr Vater alles schleifen lassen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, doch seit der Tragödie mit Ihrer Mutter hat er sich und alles andere aufgegeben.«

»Warum hab ich das nicht gesehen? Wieso hat er nichts gesagt?«

»Nun, Howard ist ein verrückter, alter Bastard und hat schon immer nichts auf die Meinung anderer gegeben. Nur Margret, Ihre Mutter, hatte die Gabe, ihn in die richtige Richtung zu schupsen. Selbst mir hat er sich nicht anvertraut.«

»Gibt es eine Chance? Egal wie klein – aber ist es möglich, die Firma zu retten?« Mit angehaltenem Atem starre ich auf das Bild meiner Mutter, das auf dem Schreibtisch steht.

»Ehrlich gesagt nein.« Sir Malcom holt tief Luft und ich schließe gequält die brennenden Augen. »Das Einzige, was wir tun können, ist Schadensbegrenzung. So hart es klingt, aber mehr sehe ich im Augenblick nicht. Tut mir leid.« Ich bedanke mich bei ihm und beende das Telefonat, lege den Kopf auf den Tisch und versuche, nicht hysterisch zu werden.

So geht es also zu Ende.

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