Chapter 22

„Sie hat eine Strafe verdient, findest du nicht auch Alec?", fragte er den Jungen, den ich noch zuvor nicht erkannt hatte. Doch mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Ich sog scharf die Luft ein und versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Der Riese trat noch einen Schritt auf mich zu, beobachtete jede meiner Bewegungen und trat schließlich hinter mich, sodass mich die Jungen einkreisten.

„Sag mal, ist das nicht die Kleine, die du gerettet hast?" Diese Frage war eindeutig an Alec gerichtet und ich versteifte mich automatisch.

„Doch, das ist sie", hörte ich Alecs tiefe Stimme brummen und schloss die Augen, um nicht ein weiteres Mal vor ihm in Tränen auszubrechen. Seit wann war ich zu so einer Heulsuse mutiert? „Welche Strafe wäre denn für dich angebracht?", überlegte er laut, während ich seinen Blick auf mir ruhen spürte.

„Guck sie dir doch an, sie ist nicht mal einen wert", mischte sich nun auch einer der beiden Ruhigeren ein. Ich sah die Boshaftigkeit in ihren Augen glitzern und bemühte mich um eine neutrale Mine. Sobald sie bemerken würden, dass ihre niveaulosen Sprüche bei mir wirkten, würden sie immer weiter machen. Ich atmete tief durch und begann langsam, darauf bedacht, dass mir keiner von den Jungen zu nahe kam, die auf dem Boden liegenden Bücher einzusammeln und behutsam die Knicke, die sich durch meinen Sturz gebildet hatten, wieder in die richtige Position zu biegen.

„Steh wieder auf!", befahl der Riese und ich blickte zu ihm auf. „Verdammt, du sollst aufstehen, habe ich gesagt!", schrie er wütend und packte meine Haare am Schopf. Mit einem Ruck wurde ich nach oben gezogen und ich spürte das Brennen jeder einzelnen Haarwurzel. Ich biss die Zähne zusammen und gab keinen Laut von mir.

„Ich mag es nicht, wenn man mir nicht gehorcht, hast du verstanden?" Ich nickte leicht eingeschüchtert. „Ob du mich verstanden hast?", brüllte er und ich zuckte bei der schneidenden Lautstärke seiner Stimme ungewollt zusammen. „Ja."

Er entspannte sich nach meiner Antwort wieder und schubste mich von sich: „Dann geh und hör auf hier rumzuflennen." Ich schnappte mir so schnell es ging meinen Bücherstapel, der noch auf dem Boden stand und blickte noch ein letztes Mal zu Alec. Doch der wich meinem Blick aus, während seine Mine ausdruckslos blieb.

Enttäuscht über seine fehlenden Emotionen wand ich mich ab und verfiel in einen schnellen Laufschritt, auf dem Weg zu meinem Zimmer. Die Gänge, die ich entlang stürmte, wurden einzig und allein von den Fackeln beleuchtet, die in den Halterungen in der Wand steckten. Draußen herrschte tief schwarze Dunkelheit, nicht einmal der Mond, der noch vor wenigen Nächten voll gewesen war, schien durch die dicke Wolkenschicht, die sich am Himmel befinden musste. Einzelne Lichtstrahlen aus dem Schloss zogen sich lang in den dunklen Wald und erschufen unheimliche Schatten.

Ich beeilte mich, noch schneller zu gehen und hetzte ängstlich den Flur entlang. Jedes Mal, wenn der Wind furchteinflößende Laute erzeugte, zuckte ich schreckhaft zusammen und drehte mich um die eigene Achse, auf der Suche nach möglichen Gefahren.

In meinem Zimmer angekommen, schlug ich die Tür hinter mir zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Ich schloss erschöpft die Augen und versuchte meine hektische Atmung zu beruhigen. Was war das gerade eben gewesen? Wer waren diese Typen und warum, warum zum Teufel hatte Alec bei ihnen gestanden und zugeguckt, wie sie sich über mich lustig gemachten und mich bedroht hatten?

Bei meiner Rettung war er so anders gewesen... Welcher Alec war wohl der Richtige? War seine Reaktion als Rache gedacht, weil ich ihn beim Training einfach hatte stehen lassen? Ich stützte meinen schweren Kopf auf meinen Händen ab und bemerkte, dass meine angewinkelten Beine zitterten.

Womit hatte ich nur so etwas verdient, fragte ich mich selbst. Das laute, monotone Schnarchen von Keira, die mit einer Decke umwickelt in ihrem Bett lag, beruhigte mich auf irgendeine Weise und ich verbrachte eine Weile nur damit, ihren Geräuschen zu lauschen und mich auf die Gleichmäßigkeit zu konzentrieren.

Schwer seufzend erhob ich mich schließlich und stellte den schweren Bücherstapel, den ich neben mir fallen gelassen hatte auf den Tisch, der neben dem Fenster an der hellen Wand stand. Ich zog den schwarzen dichten Vorhang zu, sodass ich morgen nicht direkt von den grellen Sonnenstrahlen geweckt werden würde.

Während ich mich ins Bett legte und versuchte zu schlafen, durchlief ich immer wieder die gleiche Szene.

„Hey, Kleine! Du hast meine Schuhe schmutzig gemacht!", hörte ich über mir ein dreckiges Lachen.

Automatisch umklammerten meine Arme meine Schultern fester und eine Gänsehaut überkam mich.

Er stand über mir, wie ein riesiger Berg, und schaute bedrohlich auf mich herab.

„Du hast Glück gehabt, dass nichts Ernsthafteres passiert ist", flüsterte meine innere Stimme und ich musste ihr fröstelnd recht geben, als ich an die schrecklichen Horrorgeschichten dachte, die anderen Mädchen durchaus schon passiert waren und zog mir die Bettdecke bis zu den Ohren.

Wind umspielte meine kurze Mähne. Ich spürte den harten Boden unter meinen Füßen, spürte das befreiende Gefühl, dass das Rennen in mir auslöste. Ich sog den Duft des Waldes ein und schloss betört die Augen. Plötzlich begann sich mein Körper zu deformieren. Mein Fellwuchs wich zurück, nackte Haut ersetzte die frei gewordenen Stellen und der ziehende Schmerz machte sich in meinem Inneren breit, verdrängte die Leichtigkeit, mit der meine Pfoten während dem Rennen vom Boden abgehoben waren.

Ich krümmte mich qualvoll am Boden und musste mit vor Schreck geweiteten Augen beobachten, wie sich meine Beine streckten, immer länger wurden, während sich die Krallen an meinen Pfoten zu immer kleiner und weicher werdenden Nägeln formten. Mit jedem Knochen, der durch die Umformung in mehrere Teile gebrochen wurde, löste sich meiner Kehle ein weiterer Schmerzensschrei.

Schwarze Raben wurden durch meine verzerrten Lauten aus den Bäumen gescheucht und flogen in einer großen Schar direkt auf mich zu. Sie verschwammen zu einer Dunkelheit, die mich zu umgeben schien und verschluckten alles, was ich zuvor gesehen hatte. Auch meine Schmerzen verschwanden mit dem Licht, jedoch blieb eine Angst zurück, die mich verrückter machte, als es die Qualen zuvor getan hatten.

Die Dunkelheit schürte meine Panik, machte die Stille zur Folter. In der Schwärze tauchte ein Licht auf. Das Licht schien mich zu führen, ich ging immer weiter darauf zu. Doch ein Schrei entfuhr mir, als ich in dem Licht plötzlich wieder die glühenden Augen erkannte, die mich wie auch beim letzten Mal feindselig anstarrten. Ich kniff die Augen fest zu, doch das Glühen drang durch meine geschlossenen Augenlider hindurch und schien mich zu verschlingen, während ich in einem tiefen Strudel versank.






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