(2/6) Wahrheit

Aus seiner Trance aufwachend wandte er sich ihr zu. Als Emma seine Augen, seinen hellen, beinahe transparenten Blick sah, wusste sie plötzlich, was dieser abwesende und weltferne Ausdruck, der ihr gleich an ihm aufgefallen war, zu bedeuten hatte. Er war nicht wirklich hier, schien nach dem Tod seiner Frau nie in die neue Realität hinüber gefunden zu haben, jedenfalls nicht ganz und vollständig. Sicher war das Leben für ihn weiter gegangen, er hatte auf die Veränderung reagiert, hatte wahrscheinlich dies und das geregelt oder umgestellt, sich um die äußeren Dinge gekümmert. Aber er selbst war offenbar irgendwo verloren gegangen und schwebte nun im Nirgendwo. Es war kein Wunder, dass er seinem Sohn nicht helfen konnte, die Realität anzunehmen, wie sie jetzt war. Hilflos suchten seine Augen in den Schatten jenseits des Feuerscheins, schweiften unruhig nach hier und da, bis sie zurück in ihr Gesicht fanden. Er verzog den Mund, es hatte wohl ein Lächeln werden sollen.
"Ich bin nicht gut darin, die richtigen Worte zu finden. Oder besser gesagt: Ich habe Worte, aber sie wollen nicht heraus. Ich kann es nur versuchen."

Emma nickte und wartete, dass er weiter sprach.

"Es war ... im letzten Jahr, Ende Oktober. Ein kalter Monat mit Sturm und frühem Frost." Er hielt den Teller auf seinem Bein fest, griff in die Schale und nahm sich eine weitere Mozartkugel. "Sie ... es ging ihr nicht gut, schon länger nicht. Der Arzt sagte, es seien Depressionen, aber sie sah das anders. Sie hatte sich verändert, einfach so, wir fanden keinen Grund, keinen Auslöser. Medikamente wollte sie nicht nehmen." Er wich Emmas Blick aus und sah wieder ins Leere. "Im Oktober, da hat sie ... da ist sie ..." Er zog seine Lippen zwischen die Zähne, presste sie zusammen, als wollte er die Worte zurück halten, sein Gesicht wurde zur Maske. Schließlich hob er die Hand, wischte sich die Nase, schüttelte den Kopf. "Bitte entschuldigen Sie, das ist immer noch sehr ... es ist nicht einfach, das zu sagen."

"Oh, das ist in Ordnung. Ich weiß, wie schwer das ist. Es kann lange dauern, bis es zur Gewohnheit wird, darüber zu reden. Man muss das üben."
Dafür, dass sie, eine Fremde, hier gerade erst angekommen war, wagte sie viel. Aber sie verstand ihn so gut, sie kannte das alles - und sie wollte ihm ihr Verständnis und ihre tiefere Einsicht in das Thema nicht vorenthalten. Wer wusste schon, wie viele - oder wie wenige - ihn bisher wirklich verstanden hatten.

Hagan atmete tief ein. Die Schokolade war geschmolzen. Er steckte sich den Rest in den Mund, nahm eine Serviette vom Tablett, wischte sich die Finger ab. Emma sah, wie seine Augen glänzten. Während er kaute, blinzelte er ins Feuer.
"Wissen Sie", begann er schließlich und seine Stimme zitterte ein wenig, "Sie ... ist einfach verschwunden. Und ich vermisse sie. Aber ich kann nicht anders, ich bin auch wütend, dass sie uns so zurück gelassen hat."

"Sie ist ... verschwunden ... Das heißt, Sie haben sie seitdem nicht wieder gefunden? Aber Sie wissen, dass sie ... tot ist?"

Wieder schüttelte er den Kopf. Er fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht, als wollte er wach werden. Über seine Fingerspitzen hinweg sah er sie an, in seinem Blick stand eine Ratlosigkeit, die kaum zu ertragen war.
"Ich weiß, ich rede wirres Zeug. Das kann man nicht verstehen. Es tut mir leid. Bitte - nehmen Sie Zucker und Milch in Ihren Tee, wenn Sie mögen." Er schob ihr den Teller mit den Broten hin. "Und bedienen Sie sich. Sie waren den ganzen Tag unterwegs und haben sicher nur zwischen Tür und Angel gegessen."

Sie hatte auf einmal gar keinen Hunger mehr, aber sie wollte höflich sein. Und wer wusste schon, ob sie in der Nacht Hunger bekommen würde, wenn sie jetzt nicht zumindest eines dieser leckeren Schinkenbrote nahm. Sie hatte schon gedacht, seine Erzählung würde heute nicht mehr über mysteriöse Andeutungen hinaus kommen. Umso erstaunter war sie, als er einen zweiten Anlauf nahm.

"Sie müssen wissen, was wir wissen, Emma. Das ist wichtig. Also ... meine Frau, Shays Mutter ... Rosaleen ... sie ist ... verschwunden. Oder sie ist hier, am Horn Head, von der Klippe gesprungen. Bei The Ross wahrscheinlich. Oder auch weiter oben, sagt die Polizei." Er atmete tief aus. "So ist das. Wir haben ihren Schal gefunden, ihr Schultertuch, sonst nichts. Unten, am Strand von Dunfanaghy wurde es angespült. Nach dem Sturm."

Emma konnte nichts sagen. So viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, Bilder waren dabei, die sich wirr und sinnlos aneinander reihten.
"Sie haben ... Zweifel, ob sie wirklich tot ist?"

Er weinte jetzt beinahe. "Sie ... sie war depressiv. Aber sie hatte keinen Grund, uns zu verlassen, sie war ... zufrieden. Vielleicht sogar glücklich. Und selbst, wenn es da irgendetwas gab, wovon ich nichts mitbekommen habe, irgendetwas, das zwischen uns gestanden haben könnte, dann ... hat sie doch zumindest unseren Sohn geliebt. Er war ihr ganzes Glück, sie ... sie hätte ihm das niemals angetan. Nicht so, nicht hier, wo er aufwächst. Shay liebt das Meer und das wusste sie. Es ist gefährlich hier oben, die Klippen sind enorm hoch und der Wind ist stark, wenn er vom Land her weht. Wer dort hinunter stürzt, hat keine Chance, insbesondere, wenn das Meer aufgewühlt ist. Die Wellen vor den Klippen sind Meter hoch und entwickeln eine mörderische Kraft. Der Junge sieht die Gefahr überhaupt nicht, er ist so vertraut damit, ich muss ihm verbieten, hinter dem Wald noch weiter hinaus zu gehen. Noch niemals habe ich einen so furchtlosen Jungen gesehen. Nein, sie hätte ihm sein geliebtes Meer nicht verdorben, das kann ich nicht glauben. Wenn sie nicht mehr leben wollte, sie hätte Tabletten nehmen oder sich vor einen Zug werfen können, aber das Meer ... sie hätte es ihm erhalten, damit er es lieben kann."

"Was denken Sie, was wirklich geschehen ist?"

"Das ist nicht so einfach. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Einen Tag lang glaube ich dies, dann wieder das, einmal hoffe ich, dass sie noch lebt und nur weggegangen ist, dann wieder möchte ich wissen, dass sie unten in der Tiefe liegt, damit ich weiß, wohin ich meine Trauer richten kann ... Aber sie könnte uns auch einfach verlassen haben, das wäre ja nicht unmöglich! Es gibt so viele solcher Geschichten. Vielleicht möchte sie, dass wir denken, sie ist tot. Oder vielleicht ist ihr der Schal versehentlich davon geweht, über die Klippe hinaus, und die Strömung hat ihn bis nach Dunfanaghy getragen." Er zuckte die Schultern. "Aber wissen wir das? Können wir sicher sein? Manchmal wünsche ich, man hätte diesen Schal nicht gefunden."

"Oh", seufzte Emma. "Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Sie so sehr fürchten, dass Shay darüber reden möchte. Es gibt keine Erklärungen, keine Antworten. Was weiß er denn - was sagen Sie ihm, wo seine Mutter ist? Er wird doch ganz sicher nach ihr fragen?"

Hagan trank einen Schluck aus seiner Tasse. Als er sie wieder abstellte und sich mit hochgezogenen Schultern in seinen Sessel zurück lehnte, wirkte er wie ein kleiner Junge.
"Was wir ihm sagen ... Also bis heute denkt er, sie ist... verreist. Und je länger sie verschwunden ist, desto schwieriger wird es, diese Lüge weiter und weiter aufrecht zu erhalten, denn irgendwann, da muss man, wenn man verreist ist, ja zurück kommen, verstehen Sie? Insbesondere, wenn man eine Mutter ist, die ein Kind zurück gelassen hat. Und je länger wir warten, ihm die Wahrheit zu sagen, desto unmöglicher wird es, diese Lüge aufzulösen."
Er fuhr sich durch die Haare, seine Stirn zeigte tiefe Falten. "Soll ich ihm sagen, dass seine Mama uns verlassen hat und irgendwo anders lebt und wohl nie wieder kommt? Oder soll ich ihm sagen, sie ist tot, weil sie nicht mehr leben wollte? Aber es könnte ja auch ein Unfall gewesen sein. Auch ein Verbrechen schließt die Polizei nicht aus. Selbst mich haben sie mehrmals verhört." Er schob seinen Teller mit dem angebissenen Brot auf den Tisch. "Irgendetwas muss ich ihm sagen, etwas Klares, Festes. Etwas, worauf Verlass ist ... etwas, das nach Wahrheit klingt. Aber eines kann ich einem Siebenjährigen garantiert nicht sagen: dass ich als sein Vater keine Ahnung habe, ob sie lebt oder tot ist oder was passiert ist oder wo sie hingegangen sein könnte." Sein Blick war so wild und haltlos, dass es ihr Angst machte. "Und dass ich aufgehört habe, sie ... zu suchen." Er schüttelte den Kopf. "Verstehen Sie? Ich kann das nicht. Ich würde ihn zerbrechen."

Das war ein Schock. Es war so viel komplizierter als sie gedacht hatte.
"Dann ... soll ich ihm das also sagen, wenn er fragt? Dass sie verreist ist? Wo ist sie und was macht sie da? Wie muss er sich das vorstellen?"

"Sie ist in England bei einer Verwandten, einer Schwester, die Shay nicht kennt. Die Schwester ist sehr krank geworden und sie muss sich um sie kümmern. Eine ganze Weile lang."

Emma fühlte sich wie am Boden zerschmettert. "Er braucht seine Mutter ebenfalls", setzte sie spontan entgegen. Weihnachten kam, dachte sie, sprach es aber nicht aus. Wenn man schon nicht herkommen konnte, dann schrieb man Briefe, schickte Pakete. Packte er Pakete an ihrer Stelle? Schrieb er Briefe in ihrem Namen, damit Shay dachte, seine Mutter würde an ihn denken? Als Hagan aufbrauste, zuckte sie unwillkürlich zusammen.

"Was soll ich denn Besseres tun? Er ist noch so jung! Wenn er nur schon älter wäre, ich könnte anders mit ihm reden. Soll ich ihm jetzt die Hoffnung nehmen, dass sie wiederkommt? In diesem Alter?" Er kniff die Augen zusammen, presste den Hinterkopf gegen die Sessellehne. "Und nehmen wir einmal an, ich sage ihm, dass sie tot ist - und sie lebt aber noch und es fällt ihr eines Tages ein, plötzlich hier vor der Tür zu stehen und ihren Jungen sehen zu wollen? Er wird mich hassen, weil ich ihm weisgemacht habe, sie sei gestorben .... und er wird durchdrehen, weil sie lebt."

"Ich verstehe." Emma spürte, sie begann sich ebenso zwischen Wahrheit und Lüge zu verstricken wie Shays Vater. Ja, sie verstand das alles, sehr gut sogar. Aber sie selbst war ebenfalls eines dieser Kinder, deren Mutter aus ihrem Leben verschwunden war. Und wenn es irgendeine mysteriöse und schwer verständliche Wahrheit dazu gegeben hätte, eine andere, noch kompliziertere als Krebs - sie hätte sie erfahren, hätte sich zumindest daran versuchen wollen, egal, wie alt oder jung sie gewesen wäre. Sie hätte nicht belogen werden wollen.

"Mein damaliger Therapeut", begann sie vorsichtig, "hat einmal gesagt, Kinder entwickeln oft Mechanismen, um mit der Wahrheit zurecht zu kommen. Sie machen das auf ihre Weise. Wenn man es ihnen erlaubt und sie dabei unterstützt."
Es war einen Versuch wert. Vielleicht würde es allen in der Familie besser gehen, wenn sie sich erlaubten, viel näher an der Wahrheit zu sein und somit auch offener darüber sprechen zu können. "Das Schwierige mit Lügen, die schützen sollen", erklärte sie, "ist, dass Kinder oft ein gutes Gespür dafür haben, wenn man nicht ehrlich mit ihnen ist. Und da wird dann noch mehr Schaden angerichtet und der Verlust wird noch größer. Denn wenn jemand lügt, setzt er Vertrauen aufs Spiel. Ich denke, da Shays Mutter bereits weg ist, braucht er Sie als Vater umso mehr, Hagan. Wem soll er jetzt trauen, auf wen soll er sich verlassen, wenn sein Vater, der ihm geblieben ist, nun diese große Lüge zwischen sie beide stellt? Das wird sich auf Ihr Verhältnis zueinander auswirken, wenn er dahinter kommt. Er hat schon die Mutter verloren, das ist eine derbe Erschütterung der Welt, deren Verlässlichkeit er vertraut hat. Vielleicht sollten Sie jetzt besser nichts tun, was ihn auch noch an seinem Vater zweifeln lässt?"

Seine Verwirrung war ihm anzusehen. "Wie alt sind Sie noch gleich, Emma? Hundertdreiundvierzig?"

Trotz des ernsten Themas musste Emma lachen. "Ich bin zwanzig. Immer noch ein Küken, sozusagen. Aber ich bin auch eines dieser Kinder, die da durch mussten, und das verändert einen. Ich erinnere mich gut an meine Therapiestunden, die sehr hilfreich waren - aber auch an ein Umfeld, das es für nötig hielt, jede Auseinandersetzung mit mir und dem Thema zu meiden. Dass meine Mutter starb, war eine Katastrophe. Meine Welt ging unter und nichts konnte mir das reparieren. Aber indem man sich in den Jahren danach gesträubt hat mit mir über ihren Tod zu reden und was das für mich bedeutete, hat man noch einmal so viel Schaden angerichtet. Das Vertrauen in die Beziehungen war im Eimer, ich habe mich isoliert gefühlt, vergessen, verraten, allein gelassen. Wenn ich nicht rechtzeitig meine Tante gehabt hätte, die sehr schnell entschied mich bei sich aufzunehmen und offen und klar mit mir zu reden ... mein Leben, meine weitere Entwicklung wäre wohl gegen die Wand gefahren."
Sie lächelte. "Nicht, dass ich sagen will, das sei für jede Situation und jeden Menschen gültig, nein! Ich denke, man muss da behutsam vorgehen. Was dem Einen gut tut, kann für den Anderen überfordernd sein. Es ist nur eine andere Perspektive, ein weiterer Gedanke. Ob das hier brauchbar ist oder nicht, das entscheiden Sie. Ich wollte Ihnen nur davon erzählt haben. Weil manchmal übersehen wird, dass auch eine herzliche gut gemeinte Notlüge viel kosten kann, wenn es schief läuft. Wenn man Vertrauen verliert, ist das sehr schwer zurück zu gewinnen. Es ist wichtig, dass man Kindern nicht die Möglichkeit nimmt ... zu trauern. Wirksame Trauer, die einen weiterbringt, geschieht immer an der Wahrheit. Nicht an erfundenen Geschichten. Nur über die Wahrheit, also, wenn wenn man sie ansieht und ertragen lernt, können die Dinge abheilen."

Er hatte da gesessen und zugehört; wenn er sie auch nur einmal unterbrochen, wenn er irgendwelche Einwände gehabt hätte, sie hätte aufgehört zu sprechen und sich geschämt, dass sie hier einem wildfremden Menschen einen so persönlichen Vortrag hielt. Aber nichts dergleichen war geschehen - und dass er jetzt ein paar Tränen wegwischte, zeigte ihr nur, wie sehr all das bei ihm angekommen sein musste.
"Ich weiß, ich kenne Ihren Sohn nicht - und Sie selbst ebenfalls nicht. Wenn Sie mir meine Einmischung nun also übel nehmen, dann verstehe ich ..."

"Nein, ganz und gar nicht! Ich bin nur erstaunt! Was Sie mir da erklärt haben, ist nicht ganz neu für mich, und doch habe ich es so klar und eingängig noch nicht gehört. Ich denke, es hat mich vorher nie wirklich überzeugt. Shays Arzt und Therapeut, Doktor Toole, hatte ganz ähnliche Ansichten geäußert, als er hörte, in welchem Glauben wir Shay bestärken. Dabei war es nicht einmal unsere Idee, es kam von Shay selbst, während hier die Ermittlungen zum Verschwinden seiner Mutter auf höchsten Touren liefen. Er selbst hatte es sich so erklärt. Wir haben es dann übernommen und ihn darin bestätigt, für den Moment. Als hier alles auf dem Kopf stand, erschien es uns tröstlich und hilfreich, dass er es uns so leicht machte. Irgendwie gingen alle davon aus, dass seine Mutter wieder auftauchen und sich alles aufklären würde - bis wir bemerkten, dass es sich zu einer Katastrophe entwickelte. Dann wurde es mit Shay schlimmer, ich selbst war völlig mit den Nerven runter, die Polizei dachte an Selbstmord oder Mord und begann mich zu verdächtigen ... und dann lief mir Mary, unser Kindermädchen, weg."

Er nahm seine Serviette und putzte sich damit die Nase. "Inzwischen sind es vier, die gekommen und gegangen sind", gestand er und sah zu Emma auf. "Dabei kann Shay nichts so sehr gebrauchen wie Beständigkeit und Verlässlichkeit. Es ist dramatisch: seine Erfahrungen des Verlusts gewohnter Menschen in seinem Umfeld wiederholen sich und ich kann nichts daran ändern! Ich denke, ich habe vieles falsch gemacht. Sie haben ganz recht, darin steckt nun viel Arbeit. Die Situation ist fatal. Ich habe ja selbst dazu beigetragen."

"Aber was geschieht jetzt? Wo fangen wir an?"

Emma konnte sein Lächeln nicht einordnen, dazu war sie viel zu müde.

"Sie sagen wir, Emma. Das ist schön. Nachdem dieser Austausch hier bereits so fruchtbar war und ich Ihre sensible und kluge Seite kennenlernen durfte, habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit den Eindruck, es könnte wieder bergauf gehen. Oh, nicht, dass Sie denken, ich habe vor, Ihnen Ihre Aufgabe, beziehungsweise meinen Sohn wie einen Mühlstein um Ihren Hals zu hängen. Aber seien Sie einfach so besonnen und verständig, wie Sie sich hier nun gezeigt haben, auch mit meinem Sohn, das wird ihm sehr gut tun. Er wirkt einsam und ein wenig orientierungslos in letzter Zeit und er hat sich ein paar seltsame Eigenheiten angewöhnt. Lassen Sie sich durch sein Verhalten nicht irritieren, seien Sie einfach da. Er wird Ihr Angebot schon annehmen, davon bin ich überzeugt. Aber haben Sie Geduld und erwarten Sie nicht zu viel auf einmal."

"Und der Therapeut? Sprechen Sie mit ihm?"

"Oh ja, wir hatten bis vor einigen Wochen sogar regelmäßige Gespräche. Diese müssen wir unbedingt wieder aufnehmen. Er wollte sowieso darauf hin arbeiten, Shay so stabil zu bekommen, dass man ihm die Wahrheit über das Verschwinden seiner Mutter sagen kann. Er muss sich heran tasten. Da wir dieses Versteckspiel nun einmal begonnen haben, wird es ein Schock für den Jungen sein. Aber Sie haben mich daran erinnert, worum es hier geht: Er muss trauern dürfen, ganz gleich, wie die Umstände auch sein mögen, unter denen seine Mutter verschwunden ist. Sie ist weg, seit geraumer Zeit. Er leidet darunter und das muss irgendwie seinen Ausdruck finden. Absolut wichtig ist mir bei alldem aber, dass er sein Vertrauen zu mir nicht verliert. Sie haben mir so drastisch klar gemacht, wie viel auf dem Spiel steht ... das will ich auf keinen Fall. Mein Sohn muss auf mich zählen können." Er blinzelte mehrmals. "Ich bin sehr froh, dass Sie da sind, Emma. Ich habe ein gutes Gefühl."

Sie hatte seinen Bericht mit zunehmender Anspannung verfolgt. Ihr Nacken schmerzte.
"Ich denke, ich auch", sagte sie und spürte, sie drängte gerade sämtliche Zweifel, die in ihrem Bauch rumorten, rabiat beiseite. "Diese Geschichte ist sehr ungewöhnlich. Wenn ich ehrlich bin, macht sie mir ein bisschen Angst. Aber was geschehen ist, interessiert mich sehr; ich freue mich darauf, Ihren Sohn kennen zu lernen und hoffe, wir können uns gleich morgen über den Tag schon ein wenig vertraut machen. Ich werde mir jedenfalls große Mühe geben, das verspreche ich."

"Oh, das werden Sie, davon bin ich überzeugt. Nur wird das bis übermorgen warten müssen, denn Shay ist noch nicht zuhause. Er ist über die Tage bei seinem Onkel in Dublin. Wir fanden, es sei eine gute Idee, ihn einmal von der rauen und ungemütlichen Küste weg zu bekommen. Heraus aus der Einsamkeit. In der Stadt gibt es viel zu sehen für einen interessierten Jungen wie ihn. Und Ablenkung kann er gebrauchen."

"Natürlich ... wie schön, dass er diese Möglichkeit hat. Dann geht er im Moment nicht zur Schule?"

"Nein. Er ist bis zu den Weihnachtsferien von der Schule beurlaubt, weil er durch seine Verschlossenheit und ein paar kleine ... Eigenheiten ... die negativen Reaktionen der Kinder provoziert. Er reagiert darauf sehr sensibel. Sein Verhalten wird immer weniger kalkulierbar, wenn er unter Druck steht. Was wiederum seine Mitschüler bewegt, ihn noch mehr zu provozieren und auszugrenzen. Wir sind uns mit der Schulleitung einig, dass wir ihm nicht den Start in die Schule vermiesen sollten, indem wir ihm nun auch noch eine Mobbingsituation, die Position eines gehandicapten Außenseiters und dazu diverse Lernprobleme zumuten. Er könnte in der Schule einen ganz anderen Stand haben, hätte er nicht dieses furchtbare Trauma zu bewältigen. Wir hoffen, dass er sich stabilisiert, wenn er ein wenig zur Ruhe kommt."
Er seufzte tief. "Aber ich denke, für heute ist es nun genug. Es muss gleich Mitternacht sein." Sein Lächeln wirkte unglücklich. "Sie sehen, Emma, da kommt einiges auf Sie zu. Sagen Sie mir auf jeden Fall, wenn es Ihnen zu viel wird, Sie können selbstverständlich abbrechen. Ich hätte größtes Verständnis dafür. Ein vernünftiges Zeugnis wäre Ihnen sicher." Er erhob sich aus seinem Sessel. "Obwohl ich natürlich hoffe, dass Sie sich der Sache gewachsen fühlen, auch noch in einem oder zwei Monaten. Wir sind bei Ihnen und unterstützen Sie, so gut wir können."

Emma nickte nur. Sie hätte noch tausend Fragen gehabt, vor allem auch, was Shay betraf, aber ihr fielen die Augen vor Müdigkeit beinahe von selbst zu. Er kam erst übermorgen zurück, sie hatte noch einen ganzen Tag Zeit. Sie trank ihren Tee aus. Er war beinahe kalt; der bittere Geschmack ließ ihren Kopf zumindest für den Moment ein wenig klarer werden. Während Hagan das brennende Holz im Kamin auseinander schob, dachte sie daran, was sie eben erfahren hatte. Das würde nicht einfach werden ... aber lieber hatte sie eine anspruchsvolle Aufgabe, bei der sie wertgeschätzt und gebraucht wurde, als sich noch einmal so überflüssig und gelangweilt zu fühlen wie bei der Familie Saunders. Es war das letzte Mal, dass sie an die Zeit bei diesen Leuten zurück denken wollte, das versprach sie sich in diesem Moment. Ab hier würde es nun ganz anders weiter gehen. Shadow Hall und seine Bewohner waren eine Klasse für sich. Was es ihr bringen würde, hier mit anzupacken, wer konnte das sagen. Auf jeden Fall hatte sie Blut geleckt.
Der kleine Shay interessierte sie. Und an der Situation des Jungen hing auch sein Vater, wie sie gerade zu begreifen begann. Sie hatte geglaubt, sie würde hier einem einzelnen Jungen begegnen. Was sie gefunden hatte, war ein verworrenes Netz aus Problemen, Beziehungen und Emotionen. Und alles wirbelte um ein mysteriöses schwarzes Loch, das eine Frau und Mutter und mit ihr ein dramatisches Geheimnis verschlungen hatte ... und es nicht wieder hergeben wollte.

Ende Teil 12


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