(2/4) Shadow Hall

Die Tür schien sich von selbst zu öffnen - bis sich gegen das schwache Licht, das in die Nacht hinaus fiel, der Umriss einer männlichen Gestalt zeigte. So wie Hagan Ò Briain dort stand, gab es keinen Zweifel darüber, wer er war, ein Angestellter hätte eine förmlichere Haltung eingenommen. Noch bevor er zu sprechen begann, stieg Emma der Geruch des alten Hauses in die Nase. Ein bitterer Duft von brennendem Holz und der flackernde Schimmer hinter der Silhouette des Hausherrn verrieten ihr, dass es da drinnen einen Kamin geben musste. 

"Schön, dass Sie da sind, Miss Sperling. Ich hatte Ihre Ankunft schon vom Fenster aus erwartet." Er trat rückwärts und machte ihnen Platz. "Kommen Sie nur herein, es ist nass draußen."

Seine markante Stimme brachte Emma aus ihrem verschreckten Zustand heraus und zurück in die Realität. So verschlossen und still, wie Flann ihn beschrieben hatte, wirkte er gar nicht; sie nahm sich vor, Flanns Reden zukünftig weniger ernst zu nehmen, insbesondere, wenn er über seinen Cousin sprach.
"Es ist schade, dass Sie diese Gegend ausgerechnet in der dunkelsten Zeit kennenlernen", entschuldigte sich Ò Briain. "Der Sommer ist weitaus angenehmer. Aber ich denke, wir machen das Beste daraus."

Er schloss die schwere Tür hinter ihnen und reichte Emma die Hand. Sie war kaum wärmer als ihre eigene.
"Es tut mir so leid, dass ich Sie nicht selbst abholen konnte - ausgerechnet für heute Abend hatte sich eine telefonische Besprechung angekündigt, die ich nicht verschieben konnte. Aber willkommen in Shadow Hall! Ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen."

Noch immer konnte sie das Gesicht ihres neuen Arbeitgebers nicht erkennen, dazu hätte er sich dem schummrigen Licht zuwenden müssen, das von der Rückseite der Halle zu ihnen herüber glomm.
"Vielen Dank ... Mr. Ò Briain. Ganz bestimmt, das werde ich." Sie hatte einen Frosch im Hals.

Ò Briain klopfte Flann auf die Schulter. "Und Doyle - hat er Sie gut hergebracht?"

"Ja", beeilte sie sich zu sagen. "Mr. Doyle scheint mit jeder Wetterlage zurecht zu kommen. Die Fahrt war interessant. Leider konnte ich nichts von der Landschaft sehen, ich hatte gehofft, das Meer ..."

"Das sehen Sie schon noch."

Emma nickte und senkte den Blick, sah auf das schachbrettartige Muster auf dem Boden. In seinen letzten Worten hatte etwas Ungeduldiges, beinahe Aggressives gelegen, genauer gesagt in der Art, wie er sie unterbrochen hatte. Vielleicht war es das - diese zwei Seiten, die er in sich barg. Womöglich hatte Flann doch recht.

Ò Briain wechselte einige Worte mit seinem Cousin. Schließlich lud er ihn zum Bleiben ein. Beinahe hoffte Emma, Flann würde ihren Einstieg in ihr neues Leben mit seiner redseligen und menschlichen Art noch einen Moment länger begleiten, aber er lehnte ab; er erklärte, er müsse nach Hause zu seiner Hündin, die trächtig sei. Der Tierarzt hatte gesagt, er sollte sie in den letzten Tagen im Auge behalten.
Während Flann die besorgten Fragen Ò Briains beantwortete und dabei so richtig ins Erzählen kam,  nutzte Emma die Gelegenheit, einen Blick in die Halle zu werfen. Der gewaltige Kamin hatte es ihr angetan. Wie ein offenes Maul gähnte er dort hinten in der gegenüber liegenden Wand. Er musste um die zwei Meter breit sein, auf die Entfernung ließ es sich schwer schätzen. Und er war so hoch, dass der wuchtige Armlehnstuhl, der rechts daneben stand, wie eine Miniatur wirkte.

"Geben Sie mir doch Ihre Jacke, Miss", unterbrach Ò Briain ihre Betrachtungen, "ich hänge sie gleich weg."

"Oh, vielen Dank."

Während Emma sich aus ihrer klammen Jacke schälte und dabei den Blick neugierig umher schweifen ließ, traten weitere Details aus der düsteren Umgebung hervor. Neben dem Feuer gab es zwei Stehlampen, ihr Schein reichte aber kaum weiter als bis zu den alten Bücherregalen und einem Sofa aus dunkelgrünem Samt. Dieser Raum war entschieden zu groß für eine so karge Beleuchtung. Abgesehen von den dunkleren Bereichen jenseits des Kamins wirkte er aber heimelig, wenn auch auf urige Weise.

Dort hinten, halb unter der Treppe versteckt, stand eine Frau im Rahmen einer schmalen Tür. Beinahe hätte Emma sie übersehen, ihre dunkle Kleidung hob sich kaum von der Umgebung ab. Einen Stapel Wäsche oder Handtücher auf den Armen haltend schien sie zu warten.
Das musste die Haushälterin sein, die Miss Potts erwähnt hatte. Über dem weißen Kragen wirkte ihr Gesicht ernst und blass. Ihre Ausstrahlung empfand Emma als unnahbar und distanziert; wenn sie gehofft hatte, in der Angestellten des Hauses eine moralische Unterstützung zu finden, konnte sie diesen Gedanken wohl streichen. Sie nickte ihr höflich zu. Ohne den Gruß zu erwidern trat die Bedienstete unter dem Türrahmen hervor und in die Halle hinein.

Wahrscheinlich hatte sie nicht stören wollen, aber jetzt, wo sie gesehen worden war, schien sie sich auf ihre Aufgabe zu besinnen. Aufrecht und mit der Haltung eines pflichtbewussten Soldaten steuerte sie auf ein Vertiko zu, das unter der mit mächtigen Balken gestützten Empore stand. Dort öffnete sie eine Schublade und nahm etwas heraus, das wie ein Bündel Kerzen aussah. Sie versenkte es in ihre Schürzentasche, wandte sich zur linken Seite und stieg die Treppe hinauf.
Die Stufen führten über zwei im Winkel zueinander ausgerichtete Abschnitte ins obere Stockwerk. Auf dem Absatz wurden ihre Schritte langsamer. Emma fühlte sich kritisch begutachtet, als die hagere Frau einen Moment lang über die Schulter und zu ihr hinunter blickte. Verunsichert sah sie ihr nach, bis sie oben in den Schatten der Galerie verschwunden war.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sich die Halle über beide Stockwerke erstreckte. Die hohe, im Dämmerlicht verborgene Decke wurde von einem komplizierten Gerüst uralter bogenförmiger Balken gehalten. Was sie davon erkennen konnte, erinnerte an Rippen und Wirbelsäule eines gigantischen Wals.
Wie alt war dieses Haus? Gerne wollte sie die gewölbten Balken einmal aus der Nähe sehen; wenn man dort oben stand, musste man einen besseren Blick auf die meisterhaft gearbeitete Konstruktion haben. Die Galerie, zu der die Treppe hinauf führte, überdachte den Sitzbereich vor dem Kamin von Wand zu Wand. Sie bestaunte die mächtigen Balken aus dunklem Eichenholz, die nicht nur die Empore stützten, sondern zugleich als dekorative Elemente Sitzmöbel, Bücher und Kamin zum Rest der Halle abgrenzten.

Obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie erwartet hatte: Dieser erste Eindruck war überwältigend. Nicht, dass die Halle, deren Größe sie auf achtzehn oder zwanzig Meter im Quadrat schätzte, vor Pracht und Wohlstand strahlte oder auch nur irgendwelche nennenswerte Eleganz besaß, im Gegenteil: die Wände beider Seiten bestanden aus purem Stein und das hölzerne Geländer der Treppe wirkte ebenso schmucklos. Dies war ganz und gar nicht die Wohnhalle eines hochherrschaftlichen Hauses in seiner prächtigsten Phase. Glanz und Gloria, wenn es hier derartiges jemals gegeben hatte, schienen längst vorbei. Es war, als hätte sich ein Schatten über die Vergangenheit gelegt. Aber die Größe und Höhe des Raumes, die mächtigen dunklen Balken, der graue Sandstein und natürlich der wuchtige Kamin, all das besaß dennoch eine beinahe einschüchternde Präsenz.

Von der Feuerstelle bis über die Raummitte hinaus bedeckte ein riesiger Teppich das schlichte Mosaik aus hellen und schwarzen Quadraten; ebenso wie die übrige Einrichtung musste er einmal bessere Tage gesehen haben. Aber sie mochte alte Teppiche, insbesondere die gemusterten, sie waren wie Märchenbücher. Wenn man sie lange genug betrachtete, begannen sie Geschichten zu erzählen.

Die Männer standen immer noch bei der Tür, ihre Stimmen drangen leise zu ihr herüber. Sicher wollte Ò Briain nicht unhöflich sein und sie hier einfach so stehen lassen, aber es schien etwas zu geben, das nicht warten konnte. Sie redeten schnell und Flann fiel immer wieder ins Gälische. Unter den englischen Brocken, gemischt mit fremden Klängen, konnte Emma nur das Wort "Holz" heraus hören; sie erinnerte sich, es in dem Gälisch-Wörterbuch gelesen zu haben, das sie sich für ihre Zeit in Donegal vorsichtshalber gekauft hatte. Flann nannte irgendwelche Preise und Ò Briain sagte etwas dazu. Sie wollte ihre Besprechung nicht stören, sich aber auch nicht stumm daneben stellen, da sie sowieso nichts verstand. Es war wohl in Ordnung, wenn sie sich ein wenig umschaute.

Schüchtern wagte sie einen, zwei Schritte in die Halle hinein. Der Kamin hatte ihre Faszination geweckt; sie traute sich aber nicht den Teppich zu betreten und ganz hinüber zu laufen, also betrachtete sie ihn von dort, wo sie stand.
Die steinerne Umrandung, die im Schein des Feuers zu erkennen war, brachte sie ins Grübeln. Sie hatte nichts von dem opulenten Zierrat, den sie an einem so gewaltigen Kamin erwartet hätte, sie wirkte grau und schmucklos wie Beton. Das einzige Dekor, das sich entdecken ließ, schien ein gemeißelter Schriftzug zu sein. Er befand sich auf der massiven steinernen Platte, die einen Teil der Wand oberhalb des Kamins abdeckte. Die untere Kante war stellenweise schwarz vom Feuer.

Ob dieser Kamin sich irgendwann einmal üppiger präsentiert hatte, ließ sich nicht sagen. Trotz seiner Größe wirkte er in seiner aktuellen Verkleidung jedenfalls nicht, als sei er zur Repräsentation geschaffen, ganz offenbar wurde er seit Ewigkeiten als Hauptwärmequelle für einen guten Teil des Hauses genutzt. Das war es wohl, was ihn in seiner Schlichtheit so authentisch machte. Der einzelne Ohrensessel, der im Licht der züngelnden Flammen stand, verlieh der Feuerstelle dennoch beinahe etwas Märchenhaftes. Das abgewetzte Leder war matt und fleckig vom Alter, und durch die Fransen der grob karierten Wolldecke, die seitlich von der hohen Lehne herab hing, schien das Feuer hindurch.

Nur die Wand, in der sich der Kamin befand, trug Farbe zwischen all dem Holz und Stein. Das satte, tiefe Rot wirkte uralt und bei dem wenigen Licht stellenweise beinahe bräunlich, es bot dem verblassten Beige und Grün des Teppichmusters und auch dem dunkelgrünen Samt des altmodischen Sofas einen dramatischen Kontrast. Rot und Tannengrün ließen sie immer an Weihnachten denken .... Sie hatte gelesen, die Iren seien sehr traditionell; wie man in diesem Haus Weihnachten beging, würde sie bald erleben. Sie begann sich darauf zu freuen. Es gab ein Kind in diesem Haus. Da gab man sich sicher Mühe, die Weihnachtstage heimelig zu gestalten.

Etwas weckte sie aus ihren Gedanken - als sie sich zur Eingangstür zurück wandte, bemerkte sie, was es war. Die Männer standen da und sahen schweigend zu ihr herüber. Sie mussten sie beobachtet haben. Emma konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man gerade über sie gesprochen hatte. Flanns Augenzucken ließ sich als ein ermunterndes Zwinkern deuten, aber vielleicht war es schlichtweg, was es war: das Blinzeln eines müden älteren Mannes, der seine Augen bei einer Fahrt durch Nacht und Regen überanstrengt hatte und nach Hause wollte.

"Sehen Sie sich ruhig um, Miss Sperling", ermunterte Ò Briain sie. "Morgen, bei Licht, zeige ich Ihnen den Rest des Hauses." Er legte seinem Cousin die Hand auf die Schulter. "Doyle verlässt uns jetzt. Es ist spät. Sicher sind Sie müde. Ihr Zimmer wartet auf Sie."

"Das ist nett, danke", erwiderte Emma und verfluchte ihre Unfähigkeit, in Situationen wie dieser viel mehr als die obligatorischen Höflichkeiten heraus zu bringen. Sie trat zu ihnen und gab Flann die Hand. "Auf wiedersehen. Und gute Fahrt."

Lächelnd tippte er sich an den Hut. "Also dann, Miss. Machen se' s gut erst mal. Ich komm' wieder, man sieht sich."

Urplötzlich hatte Emma die eigenartige Erscheinung wieder vor Augen. Die Frau auf dem Weg. Die Frau, die Flann nicht gesehen hatte. In der letzten Minute hatte sie gar nicht mehr daran gedacht. "Das mache ich." Ihr Lächeln misslang. "Und vielen Dank nochmal fürs... Fahren. Und für die Kartoffeln und den Kaffee, das war sehr nett."

"Is' schon gut, junge Miss. Und vertrau' n se mir, Sie haben' s nich' übel getroffen, wirklich nich'. Könnt' schlimmer sein, möcht' ich meinen." Jetzt zwinkerte er tatsächlich und lächelte verschmitzt - was Emma darauf brachte, sein anderes Zwinkern eben doch richtig interpretiert zu haben. Flann war real. Die Fahrt in seinem Wagen war real. Die Frau auf dem Weg... war es nicht gewesen. Jedenfalls nahm sie sich in diesem Moment vor, das zu glauben. Sie würde sie vergessen und sich einleben. Alles würde gut werden. Es brauchte nur ein paar Tage Zeit.

Ò Briain öffnete die Tür und schob Flann in die Dunkelheit hinaus. Ein Windstoß drang in die Halle, das Feuer loderte auf. Draußen heulte der Wind. "Ist schon gut, Doyle", hörte Emma ihn sagen. "Geh jetzt. Und komm gut heim."

Ende Teil 10



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