9
Aidan
Der Wecker klingelte um Punkt sieben Uhr. Ein gewöhnlicher Montag begann. Nach diesem seltsamen Wochenende kam es mir beinahe absurd vor, dass jetzt wieder die Normalität einkehren sollte. Aber es fühlte sich auch gut an, wieder in einen strukturierten Tag starten zu können, bei dem ich genau wusste, was auf mich zukam. Doch mein Enthusiasmus verließ mich ganz schnell wieder, als ich von meinem Bett aufstand, aus dem Fenster sah und vor lauter Schneeflocken nichts erkennen konnte. Mal wieder. Ich wollte den kleinen, elfjährigen Aidan in mir ausgraben, damit ich dem Ganzen etwas abgewinnen konnte, aber mein elfjähriges Ich blieb versteckt. Ich zog mir warme Sachen an und ging in die Küche. Es war keiner da. Meine Schwester und Trev schliefen wahrscheinlich noch und Chase war vermutlich bereits beim Training. Ich setzte Kaffee auf und warf mich mit meinem Handy auf die Couch um meine Nachrichten durchzugehen. Ein paar unnötige Mails, die ich löschte, eine Nachricht von Mom, ob es mir und Addie gut ginge und ein Nachhilfeschüler, der schrieb, dass unser heutiges Treffen ausfallen würde. Ich schrieb meiner Mom, dass es uns gut ging und sie sich nicht so viele Sorgen machen sollte. Meinem Nachhilfeschüler schlug ich vor, dass wir das Treffen auf morgen verschieben könnten.
Ich machte mich wieder auf den Weg in die Küche, um mir meinen Kaffee zu holen. Normalerweise trank ich meinen Kaffee schwarz, aber heute fühlte ich mich danach Zucker und Milch hineinzutun.
Irgendwie störte es mich, dass mein Nachhilfeschüler heute abgesagt hatte. Jetzt hatte ich nämlich zwei Stunden, in denen ich nichts zu tun hatte, in meinem vollgestopften Tag. Normalerweise wäre ich dankbar darüber gewesen und wäre in dieser Zeit nach Hause gefahren, bevor ich mich mit meiner anderen Nachhilfeschülerin getroffen hätte. Aber heute bedeuteten diese zwei Stunden, dass alle Ereignisse vom Wochenende Gelegenheit hatten, in meinem Kopf herumzuspuken und mir auf die Nerven zu gehen. Dabei hatte ich so sehr gehofft, dass ich an einem stressigen, vollgepackten, freizeitlosen Montag, zumindest von acht bis sieben, keine Gelegenheit haben würde, an Beverly zu denken.
„Morgen." Ich drehte mich um. Trev schlurfte verschlafen zum Esstisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Morgen. Kaffee?", fragte ich. Trev nickte und so goss ich ihm ebenfalls eine Tasse des dampfenden Wachmachers ein. Er trank seinen Kaffee, genau wie ich normalerweise, schwarz. Ich stellte ihm die Tasse auf den Tisch und setzte mich ihm gegenüber hin. Mir fiel auf, dass Trev heute nicht besonders ausgeschlafen aussah, was ziemlich untypisch für ihn war. Normalerweise war er derjenige von uns, der morgens nur so vor Energie strotzte und eine Runde laufen ging. Aber heute sah er einfach nur fertig aus, mit den dunklen Ringen unter seinen Augen und den total zerzausen Haaren.
„Alles okay? Du siehst wirklich fertig aus", bemerkte ich daher. Trev rieb sich übers Gesicht und trank dann einen Schluck Kaffee.
„Ich habe nicht viel geschlafen."
„Sag bloß." Normalerweise war doch ich derjenige mit den Schlafproblemen. Die sich seit der Begegnung mit meiner Großmutter nicht wirklich gebessert hatten. Das konnte aber durchaus auch daran liegen, dass ich abends noch Stunden wach lag und wie ein Besessener darüber nachdachte, wann sich wieder eine Gelegenheit bieten würde, Beverly zu treffen, und was geschah, wenn sie nach Modoc kommen würde.
„Warum?"
„Addie", sagte Trev und starrte nachdenklich in seine Tasse. Ich sah ihn fragend an.
„Das musst du erklären", bemerkte ich, ein bisschen amüsiert. „War es die Art von sie-hat-mich-wach-gehalten-und-unser-Bett-ist-jetzt-kaputt, oder eher sie-hat-so-laut-geschnarcht-dass-ich-sie-gerne-erstickt-hätte?"
Er zog amüsiert die Augenbrauen zusammen. „Addie schnarcht nicht."
„Woher soll ich das wissen? Also war es Nummer eins?"
Trev rollte mit den Augen, sah kurz hinter sich, zur Tür seines und Addie's Zimmer, aber Addie schlief mit Sicherheit noch. Denn sobald sie wach war, hörte man sie für gewöhnlich deutlich in ihrem Zimmer herumstöbern. Er drehte sich wieder zu mir. „Aber sag ihr nicht, dass ich dir das erzählt habe. Sie will nicht, dass du dir Sorgen machst." Ich nickte irritiert und fragte mich, was er mir gleich erzählen würde. Denn egal was es war, wenn Trev so ein Geheimnis daraus machte, konnte es nicht harmlos sein. Und alles was nicht harmlos war und mit meiner kleinen Schwester zu tun hatte, bereitete mir Sorgen.
„Sie hat diese Alpträume", begann er. „Diese wirklich schlimmen Alpträume, aus denen ich sie aufwecken muss, weil sie um sich schlägt und weint. Oder sie schreckt selbst auf und sieht aus als hätte man gerade versucht, sie zu entführen, oder so. Und manchmal sind diese Träume so schlimm, dass sie nicht mehr einschlafen kann." Ich sah Trev überrascht und auch ein bisschen erschrocken an. Warum hatte Addie mir davon nichts erzählt? Und warum war mir nicht aufgefallen, dass mit ihr etwas nicht stimmte? Dass es ihr nicht gut ging. Ich war wirklich ein schlechter großer Bruder.
„Warum hat sie mir das nicht gesagt?", fragte ich kopfschüttelnd.
„Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich dir vor wenigen Sekunden den Grund genannt", entgegnete Trev und zog die Augenbrauen hoch. Ich verdrehte die Augen. Dass Addie nicht wollte, dass ich mir Sorgen machte, war keine Antwort, mit der ich zufrieden war. Wenn sie so schlimme Alpträume hatte, hätte sie mir definitiv davon erzählen sollen. Nicht, dass ich ihr groß hätte helfen können, aber ich, als ihr Bruder, hatte doch wohl das Recht, mir Sorgen um sie machen zu dürfen, oder?
„Seit wann geht das schon so?"
Trev zuckte mit den Schultern. „Ein paar Wochen, schätze ich." Wie bitte? Ein paar Wochen?
Wahrscheinlich waren Addie's Alpträume auch der Grund gewesen, warum sie unsere Großmutter ebenfalls hatte sehen wollen. Vielleicht hatte sie gehofft, dass es mit ihrem Verhältnis zu ihr zu tun haben könnte. Offenbar nicht.
„Wovon träumt sie denn?"
Trev zuckte wieder mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Sie will nicht darüber reden. Aber harmlos sind diese Träume sicher nicht." Am liebsten hätte ich Addie selbst gefragt. Ich hätte es schon aus ihr herausbekommen. Aber ich hatte Trev schon versprochen, diese Alpträume ihr gegenüber nicht zu erwähnen. Und ich wollte nicht riskieren, dass sie dann sauer auf Trev war.
„Okay, aber wenn sie es dir erzählt, sag es mir bitte", bat ich. Er nickte und stand auf, um sich noch eine Tasse Kaffee zu holen.
Vielleicht würden diese beiden freien Stunden heute Nachmittag, doch nicht mit Gedanken über Beverly gefüllt werden, sondern viel eher mit Sorgen um meine Schwester.
„Schläft sie noch?", fragte ich Trev. Er antwortete ohne sich umzudrehen.
„Noch? Sie ist erst vor einer Stunde wieder eingeschlafen. Sie muss heute erst am Nachmittag an die Uni, warum sollte ich sie also wecken?" Ich sah auf die Uhr. Für mich war es langsam Zeit aufzubrechen. Ich hatte erst zwei zweistündige Kurse, dann die langweiligen zwei Stunden in denen ich mir Sorgen um Addie machen konnte und danach bis fünf Nachhilfe.
Ich ging in mein Zimmer um meinen Rucksack zu packen und machte mich dann auf den Weg zur Uni. Draußen hatte es sicher minus zehn Grad. Der kalte Wind wirbelte die Schneeflocken durch die Luft. Mein Auto war, wie nicht anders zu erwarten, wieder völlig zugeschneit, aber ich hatte keine Lust, es erst von den Schneeschichten zu befreien, mich dann in diesen Kühlschrank zu setzen und im morgendlichen Verkehr, im Schritttempo zur Uni zu fahren. Da war ich ja zu Fuß schneller unterwegs, obwohl es wahrscheinlich locker vierzig Minuten dauerte. Die Kälte grub sich mit jeder Sekunde, die ich mich durch diesen Schneesturm kämpfte, mehr und mehr in meine Knochen. Aber mir war es ganz recht. Die Kälte sperrte wenigstens alle anderen Gedanken aus meinem Gehirn, weil ich nur daran denken konnte, so schnell wie möglich zu gehen, um nicht komplett einzufrieren.
An der Uni angekommen, musste ich mich erst einmal ein bisschen aufwärmen. Ein wenig Zeit hatte ich noch, also ging ich in den zweiten Stock und setzte mich dort in die Bibliothek. Als ich die Halle betrat, schlug mir stickige, warme Luft und der undefinierbare Geruch von Büchern, entgegen. Die Regale reichten bis zur Decke und bildeten Wände aus Wissen. Zwischen ihnen standen immer mal wieder vereinzelt Tische mit Stühlen, aber der Mittelgang war von einer langen Reihe an Tischen durchzogen. Ich ließ mich an einem der einzelnen Tische nieder, etwas abseits von anderen Schülern, und zog meine Notizen vom letzten Mal hervor. Ich las mich auch ein wenig in das heutige Thema ein.
Schon als ich sechzehn gewesen war, hatte ich genau gewusst, dass ich irgendetwas mit Naturwissenschaften studieren wollte. Selbst gegen den Willen meiner Mutter, die mich am liebsten als Chirurg gesehen hätten, hatte ich mich durchgesetzt. Ich studierte Neurowissenschaften und Mathematik, wobei Mathematik strenggenommen keine Naturwissenschaft ist. Um meiner Mom unter die Nase reiben zu können, dass ich für mich die richtigen Studien gewählt hatte, was auch tatsächlich so war, lernte ich meist extra viel für die Prüfungen und schnitt als einer der Besten ab. So konnte meine Mutter wenigstens nicht behaupten, dass ein Medizinstudium für mich besser gewesen wäre. Ein langweiliges, endloses Medizinstudium.
Plötzlich drang eine mir bekannte Stimme in mein Unterbewusstsein und riss mich aus meiner Konzentration. Ich sah auf und sah mich um. Nein, ich halluzinierte nicht. Trish stand ein paar Tische weiter und unterhielt sich mit einem Mann, der aussah als würde er hier unterrichten, allerdings hatte ich ihn in den letzten zwei Jahren noch kein einziges Mal hier gesehen. Ich beobachtete die Beiden und versuchte zu erörtern worum es bei ihrem Gespräch ging. Aber sie unterhielten sich viel zu leise miteinander. Nach ein paar Minuten verabschiedeten sie sich voneinander und Trish wandte sich zum Gehen, als sie mich bemerkte.
„Hey", lächelte sie und kam auf mich zu.
„Was machst du hier?", fragte ich verwirrt und stand auf um sie zur Begrüßung zu umarmen. Trish studierte nicht an dieser Uni, sondern viel eher am anderen Ende der Stadt.
„Dich stalken, was sonst?", gab sie leicht grinsend zurück. Ich musste kurz lachen.
„Na, klar. Sag schon, was machst du wirklich hier?"
„Der Mann, mit dem ich gerade geredet habe, ist ein Professor aus Großbritannien, der eingeladen worden ist, um hier eine Woche lang einen Kurs über Parapsychologie und Grenzwissenschaften zu halten." Ich nickte verstehend. „Und ich hab mich per E-Mail bei ihm gemeldet und gefragt ob ich bei den Kursen dabei sein kann, obwohl ich hier nicht studiere."
„Und?"
„Ich habe ihm geschrieben, dass ich selbst Parapsychologie studiere, aber nicht hier, sondern an einer anderen Universität. Ich habe ihm erzählt, dass ich schon die eine oder andere Arbeit darüber geschrieben habe. Er war ziemlich beeindruckt und wollte sich heute mit mir treffen um kurz darüber zu reden. Ich frage mich zwar, ob er an meinen Arbeiten auch nur halb so interessiert ist, wie an mir...", schmunzelte sie. Bei dem Gedanken hätte ich beinahe wieder lachen können. Klar, Trish war eine Naturschönheit, ohne Frage. Aber dieser Mann war mindestens dreißig Jahre älter als sie. „Aber er hat kein Problem damit, wenn ich an den Kursen auch teilnehme." Ich konnte mein Schmunzeln gerade noch unterdrücken. Natürlich hatte dieser Professor nichts dagegen, eine Studentin wie Trish in seinen Kursen zu haben.
Sie liebte dieses ganze übernatürliche Zeug, dem ich absolut nichts abgewinnen konnte. Aber auf dem Gebiet kannte sie sich wirklich gut aus, das musste man ihr lassen. „Ich muss wieder los", sagte sie und wandte sich diesmal wirklich zum Gehen. „Wir sehn uns."
Ich sah ihr noch kurz nach und fragte mich, ob sie wohl über die Alpträume meiner Schwester bescheid wusste. Allerdings wollte ich nicht riskieren, dass Trish von mir über Addie's Alpträume erfuhr, falls sie keine Ahnung davon hatte. Andererseits sprach Addie mit ihr vielleicht eher über solche Dinge, als mit Trev. Aber Trish war bereits weg und für mich wurde es auch langsam Zeit zu gehen, wenn ich mich nicht verspäten wollte. Also würde ich mich wohl oder übel noch ein bisschen gedulden müssen.
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