6

Beverly

„Ich hoffe dir ist eines klar", begann Rose. „Auf Dr. Kennedy loszugehen hat deine Chancen, hier rauszukommen, nicht wirklich vergrößert." Sie hatte einen Arm um meine Schultern gelegt und schob mich energisch vorwärts. Wir gingen auf ihr Zimmer und sie verfrachtete mich auf einen Sessel, schloss die Türe und legte mir ein Blatt und einen Stift auf den Tisch. Zeichnen war das Einzige, das mich beruhigen konnte. Also zeichnete ich drauf los. Ich hatte meistens keine Ahnung was ich überhaupt kreieren wollte, aber nach und nach entstand einfach ein Bild.

„Ja, natürlich weiß ich das", entgegnete ich. „Ich handle vielleicht unüberlegt, aber ich bin nicht dumm." Um genau zu sein, war ich sogar überdurchschnittlich intelligent. Ich hatte einen IQ von 161, wie man, als ich fünfzehn gewesen war, festgestellt hatte, auch, wenn ich vermutlich ein bisschen geschummelt hatte. Jedenfalls hinderte mich das nicht daran, eine schlechte Entscheidung nach der anderen zu treffen und einfach nur unsagbares Pech im Leben zu haben. Des Weiteren half mir mein IQ kein bisschen weiter, solange ich keinen Schulabschluss hatte, oder immer noch hier festsaß.

Der Bleistift glitt so schnell über das Papier, dass ich nicht einmal die Gelegenheit hatte darüber nachzudenken, was ich zeichnen wollte. Ich sah nur noch Linien und Schattierungen, die langsam ein Bild ergaben.

„Und ich denke, du weißt auch, dass Dr. Kennedy dich von Anfang an nach Modoc schicken wollte, oder?" Ich sah Rosemary nicht an, als ich ihr antwortete.

„Ja, auch das ist mir bewusst." Um ehrlich zu sein war Modoc immer das gewesen, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte. Viele Patienten von hier hatten Angst davor. Ich hatte nicht oft Angst, aber vor Modoc schon. Die Gerüchte über diese Anstalt mitten im Wald, kursierten wahrscheinlich in allen Anstalten in Kalifornien, wobei viele Menschen nichts zu befürchten hatten. Ich, auf der anderen Seite,...

Rosemary schlug mit beiden Händen auf den Tisch. Ich ließ den Stift fallen und sah ihr in die Augen.

„Das ist kein Spaß, Beverly! Wenn du nach Modoc kommst, dann kann ich nichts mehr für dich tun. Und er auch nicht. Menschen die dorthin kommen, kommen nie wieder zurück!" Sie hatte eine Ader dafür, alles zu dramatisieren. Aber in diesem Fall hatte sie recht. Die Polizei hatte einmal in Modoc ermittelt, weil der Verdacht bestand, dass dort Experimente mit den Patienten durchgeführt wurden. Grauenhafte Experimente. Da es aber keine stichhaltigen Beweise gegeben hatte und die Polizei mit anderen neuen Fällen überhäuft worden war, hatten sie es aufgegeben und Modoc existierte noch immer.

Wenn ich meine vorgetäuschte Stärke nicht hätte aufrechterhalten wollen, hätte ich jetzt am ganzen Körper gezittert. Modoc war mein absoluter Alptraum. Und wenn man bedenkt, was in meinem Leben schon alles vorgefallen war, war das ein Kunststück.

„Er wollte mich hier raus bringen", warf ich kleinlaut ein.

„Das hat ja wunderbar geklappt", zischte Rosemary und stieß sich vom Tisch ab. Dann ging sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf und ab. Manchmal vergaß ich, dass sie viel gebrechlicher aussah, als sie eigentlich war. Wenn sie nicht hier drinnen festgehalten worden wäre, dann wäre sie bestimmt eine lebensfrohe Frau gewesen, die selbst in ihrem Alter noch einen Marathon hätte laufen können.

„Er würde mich nie absichtlich in eine Situation bringen, in der ich nach Modoc komme. Das wäre sein Tod, und das weiß er auch!" Ich sah zu ihm hinüber. Er hatte sich auf Rosemarys Bett eingerollt, wie ein Hund, oder eine Katze, doch ich wusste, dass er jedes Wort verschlang, das wir sagten.

„Beverly", Rose kam auf mich zu, legte ihre Hände auf meine Schultern und sah mir fest in die Augen. „In Modoc überlebst du nicht! Du nicht. Und er auch nicht. Ich kann dich dort nicht beschützen!" Ich sah echte Sorge in ihren Augen. Eine Sorge, die eigentlich in den Augen meiner Mutter oder meines Vaters hätte liegen sollen. Aber sie waren wie immer nicht da. Sie waren nie dagewesen, wenn ich sie gebraucht hätte. Ich konnte ihnen schlecht vorwerfen, dass sie mir nicht helfen konnten, weil sie nicht mehr lebten, aber es hatte Zeiten gegeben, in denen sie noch am Leben gewesen waren, und ich alleine in einer Hütte im Wald mit meinem Entführer festgesessen hatte. Mit Todesangst, die meinen Körper erfüllt hatte. Und die beiden waren nicht da gewesen.

„Ich kann auf mich selbst aufpassen", sagte ich bestimmt, obwohl ich mir zu hundertzehn Prozent sicher war, dass ich das so gar nicht konnte. Wenn ich ganz auf mich alleine gestellt wäre, ohne ihn und ohne Rosemary, würde ich mit Sicherheit durchdrehen. Und die beiden waren das Einzige, das mich unterstützen konnte.

„Wir sehen uns später", sagte ich, nahm ihre Hände von meiner Schulter und verließ ihr Zimmer. Er folgte mir mit ein wenig Sicherheitsabstand. Ich wusste, dass Rosemary sich wahrscheinlich in diesem Moment über meine Zeichnung beugen würde. Ich hatte keine Ahnung was aus dem Bild geworden wäre, aber es waren die Anfänge eines Zimmers gewesen.

Während ich durch die Flure ging, kletterte er die Wände neben mir entlang. Ich ignorierte ihn konsequent, während er auf mich einredete. In meinem Zimmer legte ich mich sofort ins Bett. Er legte sich zu meinen Füßen und sah mich an.

„Was ist?", fragte ich genervt und rollte mich auf die Seite. Ich brachte meine Arme unter mein Kissen und blies mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ich musste ihn nicht ansehen um zu wissen, dass er jetzt beleidigt war. Und plötzlich kam mir ein beängstigender Gedanke.

„Woher weiß ich, dass du real bist?", fragte ich und plötzlich fühlte ich mich so, als wäre ich wirklich wahnsinnig. „Keiner außer mir, oder ein paar anderen psychisch kranken Menschen, hat dich je gesehen." Ich wollte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen. Aber was, wenn ich doch unrecht hatte. Und er gar nicht existierte. Ich ihn mir nur einbildete. Ich setzte mich ruckartig auf.

„Was ist wenn ich immer noch in diese Waldhütte festsitze?" Ich riss die Augen auf und sprang aus dem Bett. Er sah mich an, als würde ich den Verstand verlieren. Und genauso fühlte ich mich auch. „Wenn ich dort festsitze und verrückt geworden bin." Ich ging nervös in meinem Zimmer auf und ab. „Was wenn ich lieber dich an meiner Seite habe, als zu akzeptieren, dass ich verrückt bin?"

Das war möglich, oder? Er konnte doch gar nicht existieren! Das war doch unmöglich. Solche Dinge existierten nicht. Ich war verrückt!

„Du bist nicht echt!", sagte ich dann und schüttelte den Kopf. Er sprang von meinem Bett und bäumte sich vor mir auf. Ich fiel auf die Knie und stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab. „Du bist nicht echt!", schrie ich. „Du bist nicht echt! Lass mich in Ruhe! Du bist nicht echt!" Ich legte meine Arme schützend um meinen Kopf und kniff die Augen zusammen. „Du bist nicht echt!" Ich fühlte mich, als könnte ich nicht mehr richtig atmen. Ich wollte hier sofort raus!

Ich spürte wie ich auf die Beine gezogen wurde. Aus lauter Panik, dass er mich verletzen könnte, trat und schlug ich blind um mich. „Lass mich in Ruhe! Du bist nicht echt!" Ich nahm wahllos Sachen von meinem Schreibtisch und warf sie durch das Zimmer.

Irgendwann hörte ich aus der Ferne jemanden meinen Namen rufen. Und mein Name war wie das Stichwort dafür, mich aus meinem momentanen Zustand zu lösen. Ich ließ mich wieder auf die Knie fallen, während unzählige Pfleger um mich herum schwirrten. Ich atmete schwer und versuchte mich zu beruhigen. Ich spürte einen Schmerz in meinem Nacken, so wie der Stich einer Biene. Kurz darauf konnte ich alles nur noch verschwommen sehen und nahm alles was um mich herum geschah nur noch sehr vage wahr. Ich ließ mich nach hinten gleiten. Mein Rücken stieß gegen die Wand. Ich konnte Dr. Kennedy erkennen und bemerkte, dass er mit mir sprach. Nur ich konnte nicht entschlüsseln was das war.

Er saß auf meinem Bett und sah mich beinahe belustigt an. Warum konnte ihn keiner sehen? Ich musste doch verrückt sein, wenn ihn keiner sehen konnte!

„Beverly." Jetzt erkannte ich Dr. Kennedy's Gesicht vor meinem. Er sah besorgt aus, aber ich konnte es nicht genau deuten. Alles fühlte sich im Moment surreal an.

„Sehen Sie ihn nicht?", fragte ich leise, während meine Augen nass wurden. „Warum sieht ihn keiner außer mir?" Weiter konnte ich nicht sprechen. Denn schlagartig wurde alles um mich herum schwarz.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top