57

Aidan

Addie hat versucht, sich umzubringen. Addie hat versucht, sich umzubringen. Addie hat versucht...

Es hatte keinen Zweck. Je öfter ich es in Gedanken aufsagte, desto unwirklicher kam es mir vor. Meine kleine Schwester hatte sich allen Ernstes die Arme aufgeschnitten, in der Hoffnung, zu verbluten. Selbst jetzt, während ich das Blut von den, sonst so weißen Badezimmerfliesen wischte, konnte ich nicht glauben, dass es tatsächlich Addie's Blut war.

Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie sterben wollen? Was hätte ich denn bloß tun sollen, wenn es ihr gelungen wäre, sich umzubringen? Was hätte ich Mom und Dad sagen sollen?

Addie war doch eben noch meine kleine Schwester gewesen. Das nervtötende Mädchen, mit den großen, grünen Rehaugen, das so weltfremd war, dass es schon fast wieder als realitätsnah durchgegangen wäre. Das Kind, in dessen Kopf ich gerne einmal hineingesehen hätte, weil es aus dem Nichts Sachen gesagt hatte, die wohl nur für sie selbst Sinn ergeben hatten.

Wenn ich sie jetzt ansah, erkannte ich nicht mehr die lebensfrohe Addie, die alles und jeden um sich herum mit ihrem Lächeln aufmuntern konnte.

Erschöpft ließ ich mich gegen den Türrahmen sinken und versuchte mir erneut begreiflich zu machen, dass sie heute beinahe gestorben wäre. Aber ich verstand nicht.

„Das war doch absehbar." Ich sah auf. Trish stand vor dem Waschbecken, und drückte den Lappen aus. Rot gefärbtes Wasser trat heraus und gluckerte den Abfluss hinunter. Ein weiteres Stück dieser schrecklichen Nacht wurde buchstäblich fortgespült. Im Bad herrschte immer noch das reinste Chaos, und ich fragte mich, ob ich diesen Raum je wieder ohne Herzklopfen und Nervosität würde betreten können.

„Wie bitte?", fragte ich ungläubig. „Du findest, es war absehbar, dass Addie einen Selbstmord plant?"

„Sie hat ihn doch gar nicht geplant", entgegnete sie. „Addie ist nicht gerade dafür bekannt, dass sie lange nachdenkt, bevor sie handelt, oder? Sie kennt nur ein Gefühl. Und zwar das, das sie in dem Moment fühlt, in dem sie handelt." Gut, okay. Addie war nun wirklich nicht der Mensch, der rational alle Optionen durchging. Aber waren ihr ihre Gefühle wirklich so weit im Weg gestanden, dass sie nicht einmal den Wahnsinn ihres Vorhabens hatte erkennen können? Trish ließ das, noch feuchte, Tuch ins Waschbecken fallen, und drehte sich zu mir. „Das war eine Kurzschlussreaktion, genau wie mit dem Baby. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir hätten alle damit rechnen müssen, dass bei ihr nach allem was war, die Sicherung durchbrennt." Sie setzte sich ebenfalls auf den Boden, zog die Beine an, und warf mir einen müden Blick zu. „Sie will doch gar nicht sterben."

„Woher willst du das wissen?"

„Hätte sie das gewollt, hätte sie es nicht hier getan. Wenn du mich fragst, wollte sie gefunden werden."

Ich lachte bitter auf. „Toll, dann war es also ein Hilfeschrei, den vorher keiner bemerkt hat."

„Wir haben ihn alle bemerkt." Und keiner hat etwas getan. Ich erinnerte mich daran, dass Addie unsere Hilfe vorher verweigert hatte, und sie auch jetzt nicht zugelassen hätte, trotzdem fühlte ich mich schuldig. Wir hätten nichts tun können, um ihr zu helfen, aber wir hätten etwas tun müssen.

Die Türe zu Addie's Zimmer wurde geöffnet, und Chase kam heraus. Wir hatten beschlossen, Addie heute Nacht nicht alleine zu lassen, egal, ob sie schlief, oder nicht. Beverly war noch bei ihr.

„Ist sie aufgewacht?", fragte ich hoffnungsvoll. Chase schüttelte den Kopf, und drückte die Türe hinter sich zu. Er sah genauso fertig aus, wie ich mich fühlte. Er stieß angestrengt den Atem aus.

„Wir sollten Trev anrufen", meinte er. An seinem grauen T-Shirt waren Blutflecken zu sehen. Verwundert sah ich an mir herunter, und bemerkte, dass ich selbst aussah, als wäre ich Opfer eines Massakers geworden.

„Mach du das", sagte ich erschöpft, und rieb mir mit den Händen übers Gesicht, um das viele Blut nicht sehen zu müssen. „Wenn ich ihn anrufe, springe ich noch durch den Hörer, um ihn zu erwürgen."

Es war nicht alleine Trev's Schuld. Wir alle trugen Schuld. Addie am meisten, und ich konnte die Wut auf sie nicht ignorieren, dass sie uns einfach hatte alleine lassen wollen. Was hätte ich tun sollen, wenn sie wirklich gestorben wäre? Was hätte ich tun sollen? Sie hatte mich alleine lassen wollen. Sie hatte uns alle einfach so verlassen wollen.

Es kam mir vor, als stünde Addie hoch oben, auf einer verdammten Klippe, um immer weiter auf die Schlucht zuzugehen. Ich konnte sie nicht erreichen! Ich schaffte es nicht, und egal was ich tat, ich konnte sie nicht festhalten. Sie fiel. Sie fiel tiefer und tiefer, und wenn sie auf dem Boden aufschlagen würde, würde sie tot sein! Innerlich, oder äußerlich.

„Sie schafft das nicht, Trish. Sie schafft es nicht", murmelte ich kopfschüttelnd, während Chase etwas weiter weg mit Trev sprach. „Rose hat recht. Addie ist nicht stark genug."

Trish schwieg. Sie sah erst mich an, dann blickte sie auf ihre Hände. Auf die Ringe auf ihrer Hand. Es waren wieder fünf, anstatt vier. Ich konnte nur mutmaßen, dass ihr Körper genauso von Schuld zerfressen wurde, wie meiner, obwohl keiner von uns etwas für das konnte, was Addie passiert war. „Sie ist dabei, alles zu verlieren, was ihr jemals wichtig war. Sie verliert die Kontrolle, über ihr Leben, und ich kann sie nicht beschützen", redete ich weiter.

„Vielleicht ist es an der Zeit, dass sie sich selbst schützt."

„Das kann sie nicht", beharrte ich.

„Sie ist erwachsen."

„Nein, ist sie nicht. Sie ist alles, aber nicht erwachsen. Sie ist noch ein Kind." Ich presste meine Hände gegen meine Augen. „Was soll ich nur tun?"

Seit ich alt genug war, um zu verstehen, dass man Menschen, die man liebt, beschützen soll, hatte ich mich für Addie verantwortlich gefühlt. Sie war bei mir immer oberste Priorität gewesen, und alles was ich je gewollt hatte, war, dass sie glücklich war. Vielleicht auch deshalb, weil sie mir genau dasselbe wünschte.

„Du kannst nichts tun", sagte Trish aufgewühlt. „Du kannst Addie bei dieser Sache nicht helfen. Du hast sie ihr ganzes Leben lang beschützt, aber du kannst sie nicht vor dem Leben schützen."

Sie hatte leicht reden. Ich hatte nie etwas anderes getan, als Addie vor dem Leben zu beschützen. Aber in Trishs Augen blitzte eine mir unbekannte Wut auf.

„Das -genau das- ist der Grund für diesen ganzen Schlamassel! Deine und Chase' und Trev's Besessenheit Addie vor allem und jedem beschützen zu müssen." Ihre Stimme nahm einen aufgewühlten Ton an. Chase erschien bei seinem Namen im Türrahmen, und betrachtete Trish von oben herab.

„Was willst du damit sagen?"

Sie stieß einen halb verachtenden, halb amüsierten Laut aus.

„Seid ihr wirklich so blind? Ihr könnt Addie's Lasten nicht mehr für sie tragen. Niemand kann das. Ihr ganzes Leben habt ihr sie unterstützt, wo ihr konntet. Addie musste ihre Probleme nie selbst lösen, nein, sie ist damit schön zu euch gekommen und hat euch ihr Leben gerade biegen lassen. Aber das könnt ihr jetzt nicht mehr. Sie steckt in diesem Leben fest, und kann damit nicht umgehen, dass sie zum ersten Mal die Konsequenzen ihrer Entscheidungen, selber ausbaden muss, und bei niemandem abladen kann. Deshalb ist sie so fertig. Sie hat Angst, dass ihr davonlauft, weil ihr davonlaufen könnt." Ich hatte das Gefühl, dass Trishs überschäumende Wut teils auch daher rührte, dass Addie bekommen hatte, was Trish gebraucht hätte. Sie schüttelte angestrengt den Kopf, bevor sie weiterredete. „Ich meine, wann musste Addie jemals alleine eine ausschlaggebende Entscheidung treffen?" Sie ließ eine kurze, dramatische Pause. „Nie! Weil ihr Addie diese Entscheidungen immer abgenommen habt. Sie musste nicht selbst entscheiden, keine Verantwortung tragen, keine Probleme selber gerade biegen. Und seit diese Probleme über ihr einbrechen, und von niemandem außer ihr selbst gelöst werden können, ist sie kaputt." Trishs Worte trafen mich so hart wie Steine. „Sie weiß nicht wie das funktioniert. Wie man einfach mit der Scheiße weiterlebt, die einen umgibt. Einfach, weil sie es nie musste, verdammt! Weil sie es nie gelernt hat. Weil ihr sie immer vor allem und jedem beschützt habt. Und jetzt haben wir den Salat! Die Verantwortung, die sie zu tragen hat, und die Gewissheit, dass ihr niemand dabei helfen kann, sind eine so große Last für sie, dass sie sich heute Abend beinahe umgebracht hätte!"

Ihre Stimme war zum Ende hin immer lauter geworden, und sie sah mich und Chase noch einen Moment anklagend an, bevor sie ihren Kopf auf die Knie fallen ließ, um sich zu beruhigen. „Tut mir leid", murmelte sie. Ich wusste, dass sie es nicht so gemeint hatte. Auch wenn sie bestimmt nicht ganz unrecht hatte. Wenn jemand Addie's Kopf in- und auswendig kannte, dann Trish. Sie war generell eine verdammt gute Menschenkennerin, aber Addie kannte sie nun einmal buchstäblich besser, als sich selbst.

„Hab's nicht so gemeint." Sie fuhr sich durch die Haare.

„Wissen wir", entgegnete Chase, und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch an ihm waren Trishs Worte nicht einfach so vorbeigegangen.

„Geht's dir jetzt wenigstens besser?", fragte ich Trish. Es war eine ernst gemeinte Frage gewesen. Sie sah mich an und seufzte tief, bevor sie nickte.

„Ja. Hat gut getan, euch für die ganze Scheiße verantwortlich zu machen." Das glaubte ich ihr aufs Wort. Ich hätte auch gerne jemandem den schwarzen Peter zugeschoben.

Erst jetzt, nachdem der größte Trubel vorbei war, bemerkte ich, dass mir meine Schulter wehtat. Ich hatte die Türe wohl doch nicht so mühelos aufbekommen, wie gedacht. Vorsichtig bewegte ich meinen Arm vor und zurück. Meine Schulter war vermutlich nur ein wenig beleidigt, da ich sie als Rammbock verwendet hatte. Mühsam stemmte ich mich hoch, und ging in die Küche, während Chase den Platz einnahm, an dem ich eben noch gesessen hatte, um sich leise mit Trish zu unterhalten.

Alkohol. Das war es, was ich jetzt brauchte. Mir schwirrte der Kopf. Es war wirklich zu viel passiert. Ich wollte mich einfach nur noch schlafen legen. Vielleicht würde ich ja aufwachen, und bemerken, dass ich alles nur geträumt hatte.

Als Vaya plötzlich aufgetaucht war, hatte sich nämlich ein ganz seltsames Gefühl in mir ausgebreitet, das ich einfach nur vergessen wollte. Was genau es gewesen war, konnte ich nicht sagen, aber Angst war es nicht gewesen. Ich hatte vor diesem Geschöpf keine Angst gehabt. Es war mir irgendwie bekannt vorgekommen. So vertraut. Und dieses Gefühl machte mich absolut fertig. War das normal? Fühlten Menschen sich so, wenn sie einem Dämon gegenüberstanden? Oder lag es daran, dass er an Addie gebunden war, und ich ihr Bruder war?

Kopfschüttelnd öffnete ich die Vodkaflasche, bemüht, meine Gedanken von mir zu drücken, aber sie kamen trotzdem immer wieder angeflogen.

Ich konnte nicht verstehen, wie Menschen Angst vor Dämonen haben konnten, oder warum sie von Beverly, Chase und Trish als gefährlich eingestuft wurden. Vaya war mir nicht gefährlich erschienen. Ein beeindruckendes Wesen. Elegant. Stolz. Selbstsicher. Mächtig. Aber doch nicht bedrohlich.

Der erste Schluck Vodka spülte nicht einmal die Hälfte meiner aufdringlichen Gefühle und Gedanken hinunter, also trank ich noch einen zweiten. Langsam verstand ich, warum Chase so alkoholfixiert war. Die Scheiße hielt man nüchtern nun wirklich nicht aus. Ganz kurz flackerte in meinem Kopf der Gedanke daran auf, mich einfach mit einer Ladung Drogen wegzuschießen. Einfach alles vergessen, zumindest für ein paar Stunden. Doch so tief würde ich nie wieder sinken.

Auch wenn sich der Gedanke länger in meinem Kopf festgesetzt hatte, als mir lieb gewesen wäre. 

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