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Aidan

Etwas war an diesem Tag anders. Ich wusste nicht, was es war, aber ich hatte das Gefühl, dass heute noch etwas passieren würde. Fühlte Addie sich auch immer so, vor einer Vision? Nicht sehr ansprechend.

Es war mittlerweile Anfang März, mein absoluter Hass-Monat. Der Monat, in dem ich Geburtstag hatte. Der Monat, in dem Mom einen Tag, oder manchmal auch zwei, zu spät anrief, um mir zu gratulieren, weil sie vor lauter Stress im Krankenhaus darauf vergessen hatte. Außerdem war Addie jedes Jahr darum bemüht, mich zu einer kleinen Party zu überreden, auf die ich nie Lust hatte. Ich wurde älter und älter, meine Zeit wurde weniger und weniger, und was hatte ich in meinem Leben bist jetzt erreicht, außer... Wow. Beverly's Pessimismus schien auf mich abzufärben.

Heute war es ruhig. Beunruhigend ruhig. Addie nannte sowas die Ruhe vor dem Sturm. Und genauso fühlte es sich an. Ich wusste, dass bald wieder etwas passieren würde, hatte aber keine Ahnung, was. Wie bei einem Gewitter. Man spürt, dass etwas aufkommt, aber man kann nicht sagen wann und wo.

Ich saß vor meinen Lernunterlagen, als meine Mom anrief. Skeptisch betrachtete ich mein Handy. Entweder hatte sie sich dieses Jahr um knappe zwanzig Tage verschätzt, oder ich hatte etwas angestellt, und wusste es noch nicht. Innerlich machte ich mich auf eine kleine Standpauke gefasst. Ich hatte zwar nichts verbrochen, aber bei ihr konnte man nie wissen. Was ihr heute passte, war morgen eine Frechheit.

„Hallo, Mom", sagte ich, so erfreut, wie möglich.

„Hallo, Schatz. Kannst du mir bitte sagen, was um alles in der Welt mit deiner Schwester los ist?" Sie hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, mit der Türe ins Haus zu fallen. Sie klang aufgebracht, allerdings nicht besorgt, sondern wütend. Im Gegensatz zu mir, denn ich war sofort beunruhigt.

Ich legte meinen Stift beiseite, und stand auf. „Was meinst du?"

„Sie sitzt auf meiner Couch und weint, und ich weiß nicht warum. Sie will es mir nicht sagen."

„Addie ist bei dir?", fragte ich ungläubig. „Freiwillig?" Wenn sie sich schon gegen einen Anruf, oder eine E-Mail unserer Mom mit Händen und Füßen wehrte, warum zum Geier war sie dann jetzt in Tulare?

„Mach dich nur lustig", gab sie zurück, und ich musste schmunzeln. „Aber sie hat mich Mommy genannt, als ich ihr die Türe geöffnet habe, und ist in Tränen ausgebrochen. Sie hatte einen kompletten Nervenzusammenbruch." Das klang nicht gut. Das klang gar nicht gut. Mommy? Das hatte Addie noch nie gesagt. Nicht einmal als kleines Kind. War Addie traurig? War etwas passiert? Oder war sie einfach schon so verzweifelt, dass sie beim Teufel persönlich anklopfte, um einen Deal auszuhandeln?

„Und was soll ich daran ändern?", hakte ich nach, während ich die Antwort bereits vermutete.

„Hol sie ab und nimm sie wieder nach Hause!", antwortete Mom, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Ich bin ja gerne bereit, mir ihre Dramen mit ihrem Freund anzuhören, aber nicht, wenn sie es mir gar nicht sagen will, für sowas habe ich keine Zeit." Ich bezweifelte, dass etwas mit Trev los war. Trev war in Stanford und von dort aus hätte er nichts machen können, das Addie zu so einer Reaktion verleitet hätte. Außer sie zu betrügen, aber dann wäre sie nicht in Tulare, sondern auf dem Weg nach Stanford, um ihn in kleine Stücke zu zerhacken.

„Du willst, dass ich jetzt nach Tulare fahre, um Addie abzuholen", stellte ich fest, und warf einen Blick auf die Uhr. Es war noch nicht einmal Mittag.

Gerade Mal zwei Tage war es her, seit Beverly und ich, Addie im Myway aufgegabelt hatten. Addie hatte kein weiteres Wort darüber verloren, aber irgendetwas war mit ihr seit dieser Nacht nicht in Ordnung gewesen, und das wurde jetzt offensichtlicher denn je. „Ja, ich muss gleich ins Krankenhaus." Meine Mutter wurde immer angespannter. „Und heute Abend habe ich Gäste hier." Ich kann sie hier nicht brauchen, waren vermutlich ihre unausgesprochenen Gedanken.

Ich seufzte angestrengt und rieb mir übers Gesicht. „Gut, ich hole sie ab. Ist sie mit dem Auto gekommen?"

„Ja, und danke, mein Schatz!" Damit legte sie auf.

Tulare. Bus. Eine Stunde. Wunderbar. Ich gab Beverly, die im Wohnzimmer vor dem Fernseher herumlungerte und nebenbei zeichnete, schnell Bescheid, dass ich Addie abholen musste, und machte mich dann direkt auf den Weg.

In den letzten Tagen hatte Beverly abwechselnd auf der Couch und mal bei mir geschlafen, je nachdem, wo sie eben zu dem Zeitpunkt, an dem sie müde geworden war, gerade gelegen hatte. Ich wusste nicht, in was für einer Art Beziehung wir jetzt feststeckten. Wir gingen miteinander vertrauter um, als normale Freunde, aber wir hatten uns seit diesem Abend auch nicht mehr wirklich geküsst. Nur ein paar klitzekleine, viel zu kurze Küsse, waren auf meiner Wange, oder ihrer Nasenspitze gelandet.

Während der Fahrt erinnerte ich mich ständig daran, dass ich das für meine Schwester tat, nicht für meine Mutter, denn sonst wäre ich auf halbem Weg wieder ausgestiegen, und hätte den Bus zurück nach Hause genommen. Ihre Tochter saß weinend auf dem Sofa, und sie rief ihren Sohn an, damit der sie abholte. Das war wie der Einstieg einer schlechten Reality-TV-Show über Problemfamilien. Nur, dass wir eben keine Problemfamilie waren. Für gewöhnlich. Langsam begann ich zu zweifeln.

Es war schon lange her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Ich ging das kurze, sonnige Stück von der Bushaltestelle zu meinem alten Haus. Die Hecke war wie immer getrimmt, der Rasen perfekt gemäht, der Holzzaun und ein paar Blumen grenzten das Grundstück von der Straße ab, und der Nachbar grüßte freundlich, als er mich vorbeigehen sah. Tulare war ein ruhiges Stätdchen. Viel Grün, hübsche Einfamilienhäuser, wenig Straßenlärm, gutes Wetter, und nette Leute. Eigentlich eine angenehme Gegend zum Leben, und mir war immer schleierhaft gewesen, warum ich so dringend von hier hatte wegziehen wollen.

Ich sah Addie's silbernen Jaguar am Straßenrand stehen. Sie hatte es offenbar eilig gehabt, ins Haus zu kommen, denn sie hatte sehr unordentlich geparkt. Das war ganz und gar nicht Addie-typisch, denn ein- und ausparken, war das Einzige beim Autofahren, das sie besser konnte, als Chase, Trev oder ich.

Genauso wie Addie, hatte ich noch einen Schlüssel zu diesem Haus, aber ich konnte Dad durch die Fenster im Wohnzimmer sehen, also war nicht abgesperrt. Ich ging über den Kiesweg, die Treppen nach oben zur Terrasse, und betrat mein altes Haus, ohne anzuklopfen. Dad sah erfreut aus, und kam lächelnd auf mich zu.

„Aidan! Hallo, mein Großer", lachte er, und schloss mich in seine Arme. Ich musste lächeln. Wir hatten uns das letzte Mal an Thanksgiving in Washington gesehen, weil Mom und Dad im Sommer  zu unserem Großvater gezogen waren, der sich lange Zeit geweigert hatte, in ein Heim zu gehen, aber nicht mehr alleine leben konnte. Sie waren erst seit ein paar Wochen wieder hier. Und ohne Grund, kam ich ohnehin nicht nach Tulare, was größtenteils daran lag, dass Mom sofort eine Verschwörung gegen sie vermutet hätte. Er ließ mich wieder los, und betrachtete mich strahlend von oben bis unten. „Bist du größer geworden?"

„Nein, du schrumpfst nur."

Er lachte wieder. „Da hast du vielleicht recht." Dad und ich sahen uns nicht besonders ähnlich. Während ich mich eher als groß, schlank und trainiert bezeichnen würde, war mein Dad ein bisschen kleiner als ich, hatte breitere Schultern, an den Seiten wurde sein dunkles, kurzes Haar allmählich grau, und er hatte, trotz seines Berufes als Bauarbeiter (zumindest bezeichnete er sich selbst als solcher), noch nie in seinem Leben einen Hammer angerührt. Er machte lediglich die Baupläne und entwarf Modelle. Er ging zurück zum Esstisch, auf denen er einige solcher Pläne ausgebreitet hatte, und beugte sich darüber, während ich zum Kühlschrank ging, und eine Flasche Wasser herausholte.

Viel hatte sich wirklich nicht geändert. Ein paar neue Bilder hingen über der Couch, und das Treppengelände sah neu gestrichen aus, aber der Rest war wie immer. Es war etwas kühler als draußen. Die hellblauen und weißen Fließen in der Küche glänzten. Auf der Kücheninsel aus hellem Marmor stand eine große Obstschale, daneben lagen ein paar Magazine. Der Pool im Garten war eingelassen, alles war aufgeräumt (wohl auch wegen der Gäste heute Abend), und ich fühlte mich in meine Teenagerzeit zurück versetzt. Es war gute zwei Jahre her, seit ich ausgezogen war.

„Wo ist Addie?", fragte ich, und schraubte die Flasche auf, während mein Vater mit Bleistift etwas auf den Plänen markierte. Er hatte zwar ein eigenes Arbeitszimmer, aber er meinte immer, dass das Tageslicht, das durch die Fensterfront, die zu unserem Hintergarten führte, besser für seine Augen war, weshalb er meistens im Wohnzimmer arbeitete, was meine Mom oft zur Weißglut brachte, aber Dad war das egal. Ein Tisch ist ein Tisch, egal, ob man darauf zu Abend isst, oder arbeitet, war sein Standardspruch.

„Sie ist oben, in ihrem Zimmer", antwortete er, und notierte konzentriert ein paar Dinge am Rand eines großen Plans. Addie und ich hatten beide noch unsere Zimmer in diesem Haus. Mom hatte nämlich gemeint, dass Addie für ein paar Tage hier würde einziehen müssen, sobald die Sache mit ihr und Trev in die Brüche gehen würde. Dasselbe galt für mich, sobald ich erkennen würde, dass meine Freunde nicht gut für mich waren. Ja, sie hatte sobald gesagt, nicht falls.

„Weißt du, was los ist?", fragte ich, und stellte das Wasser auf die Kücheninsel, bevor ich mich auf einen der Barhocker setzte.

„Ich hatte gehofft, dass du mir das sagen kannst", lächelte er. „Du kennst sie ja, sie kann stur wie ein Esel sein. Das hat sie von eurer Mutter. Sie will nicht reden. Ich habe es versucht."

„Sie will nie reden", entgegnete ich. „Sie frisst alles in sich hinein, vorzugsweise mit Ben&Jerry's, und dann tut sie irgendeine Dummheit."

Dad sah von seinen Unterlagen auf, und musterte mich besorgt. „Ist alles in Ordnung bei euch? Ihr meldet euch kaum noch. Es ist doch nichts passiert, oder?"

Ich mochte es nicht, wenn das Gesicht meines Dad's von Sorgenfalten gezeichnet war. Sein Gesicht war dazu gemacht worden, um zu lachen, und anderen Menschen Freude zu bereiten. Das hatte Addie von ihm.

Also versicherte ich ihm, dass alles in Ordnung war, und er sich keine Sorgen machen musste, es sich vermutlich nur um Prüfungsstress handelte, und ich sie schon zurück auf den Boden würde holen können. „Ich weiß nur nicht, warum sie ausgerechnet hier her gekommen ist."

„Na, hör mal." Dad stemmte gespielt empört die Hände in die Hüften, lachte aber dabei.

„Du weißt, was ich meine."

„Addie sollte langsam erwachsen werden und sich mit eurer Mutter vertragen, findest du nicht?"

Ich stieß einen amüsierten Laut aus. „Mom hat Trev damals gedroht zur Polizei zu gehen, und ihn wegen Verführung einer Minderjährigen anzuzeigen, damit er in den Knast kommt, und Addie nicht in seiner Nähe ist", erinnerte ich. Dad nickte verstehend.

„Ja, das wird die kleine Maus wohl nie vergessen. Trotzdem, eine gewisse Ironie, hatte das Ganze schon, findest du nicht? Der Gesetzeshüter, der die Gesetze bricht?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Soll ich deine Tochter zitieren? Liebe kennt keine Gesetze."

„Da hat sie allerdings recht." Er lächelte zustimmend, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Keine Gesetze, keine Grenzen, keine Vernunft. Sonst hätte ich eure Mutter vielleicht nicht geheiratet", zwinkerte er, was mir ein Schmunzeln entlockte.

Ich wollte hinausschieben, zu Addie zu gehen, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Und ein bisschen positive Energie bei meinem Dad zu tanken, war bestimmt nicht die schlechteste Idee. Und das merkte er auch, denn er fragte mich noch über mein Studium aus, erkundigte sich, wie es Trev und Chase ging, und behielt mich somit noch ein Weilchen im Wohnzimmer. Ich wagte es sogar, ihm von Beverly zu erzählen, wobei ich die fragwürdigen Dinge natürlich wegließ. Also im Großen und Ganzen, erwähnte ich nur ihren Namen.

Irgendwann konnte und wollte ich es nicht weiter hinauszögern, also machte ich mich auf den Weg in das oberste Stockwerk. An den Wänden des Treppenhauses hingen Regale, voll mit Büchern. Die Liebe zu alten Schriftstellern hatte Addie ebenfalls von unserem Vater geerbt.

Addie's Zimmertüre lag direkt gegenüber von meiner. Ich klopfte leise an, obwohl ich mir sicher war, dass sie mich und Dad schon hatte reden hören, und es demnach keine Überraschung mehr war, dass ich hochkommen würde. Sie gab keine Antwort. Vorsichtig drückte ich die Türklinke hinunter und spähte in den Raum. Er wirkte ein bisschen leerer, als früher. In ihren Regalen standen nur noch ein paar Kinderbücher, und ihr Schreibtisch war leer. Gegenüber von ihrem Bett stand immer noch ihr Fernseher. Es standen keine ihrer Duftkerzen herum, und man merkte deutlich, dass hier niemand mehr wohnte. Ich hatte ihr Zimmer, seit ich ausgezogen war, natürlich nicht mehr betreten, aber früher hatte es mir besser gefallen. Ich war oft in ihrem Zimmer gewesen -praktisch öfter als in meinem, was daran lag, dass ihr Zimmer immer aufgeräumt gewesen war. Außerdem lag es auf der Schattenseite des Hauses, und hatte sich im Sommer selten über dreißig Grad aufgeheizt. Und von hier aus, hatte ich zwar hin und wieder ein Auto die Straße entlang rauschen gehört, aber nicht die fünfjährigen Zwillinge, der Nachbarn, die schreiend im Garten gespielt hatten. Unterm Strich, hatte ihr Zimmer den idealen Lernort geboten. Und Addie hatte es nie gestört, dass ich praktisch in ihrem Zimmer gewohnt hatte. Wir waren selten zur selben Zeit zu Hause gewesen, und wenn doch, war entweder einer von uns zum Lernen ins Wohnzimmer gegangen, wenn unsere Eltern nicht zu Hause gewesen waren, oder wir hatten uns in Addie's Zimmer still und einsam in unseren Lernunterlagen vergraben.

„Addie." Ich schlüpfte ins Zimmer, und schloss die Türe hinter mir. Ich entdeckte sie auf dem Bett (oder besser gesagt: Gestell mit Matratze, ohne Decke, Polster und Überzug) eingerollt liegen, mit dem Rücken zu mir. „Was ist los?" Langsam näherte ich mich ihrem Bett, und setzte mich auf die gegenüberliegende Seite. Die Federn des Bettes gaben ein sprunghaftes Geräusch von sich. Addie schniefte.

„Siehst du das?", flüsterte sie. Ich legte mich zu ihr, und versuchte ihr über die Schulter ins Gesicht zu schauen, was nicht klappte, weil sie sich nicht bewegte, und ich demnach nur eine Gesichtshälfte zu sehen bekam. Tränen tropften ihr von der Nasenspitze, und sie atmete durch den Mund.

„Was soll ich sehen?"

Sie zog eine Hand unter ihrem Gesicht hervor, und zeigte neben das Fenster, auf die kleine Delle in der Wand.

„Ja."

„Erinnerst du dich?" Ihre Stimme klang rau und brüchig.

„Ja." Die Delle war entstanden, als wir -Addie musste etwa sieben gewesen sein- total im Wikingerfieber gewesen waren, und uns gegenseitig mit Helmen, Hörnern, Holzschildern und Plastikschwertern durchs Haus gejagt hatten, und ein bisschen zu wild mit den Schwertern aufeinander hatten einschlagen wollen.

„Und erinnerst du dich, wie wir im Garten versucht haben riesige Seifenblasen zu machen?" Ich musste lächeln.

„Und dabei alle vorhandenen Spülmittel, Duschgels, Shampoos und Seifen aus dem Haus geklaut haben?"

Addie nickte. „Oder als wir die ganze Schokoglasur von der Geburtstagstorte für Grandpa gegessen haben, und es auf Dad geschoben haben?" Eine Träne tropfte auf die Matratze. Ich strich ihr ein paar Mal über den Oberarm. Warum erzählte sie mir das alles?

„Es war so leicht", flüsterte sie. „Alles war so leicht, und jetzt ist es verworren. Es ist verworren, und beschissen, und kaputt und mein Leben ist total abgefuckt." Sie holte zitternd Luft.

„Was ist denn passiert?"

Sie stieß ein Schluchzen aus. „Ich bin so dumm. Ich bin so, so dumm, warum habe ich das gemacht? Ich hab alles verloren. Ich habe alles kaputt gemacht. Einfach alles. Ich werde nie Kinder haben können, wie soll ich je wieder glücklich werden, nach allem, was war?"

„Was hast du gerade gesagt?", hakte ich schockiert nach, was lediglich dazu führte, dass sie noch mehr weinte.

„Ich kann... keine Kinder... mehr bekommen. Weil ich..", schluchzte sie, und konnte den Satz nicht beenden, aber ich wusste auch so, was sie sagen wollte. Weil ich mein erstes Kind umgebracht habe. Mein Herz brach bei ihren Worten auseinander. Es war einfach nicht fair. Ja, Addie hatte einen Fehler gemacht, aber warum wurde sie dafür immer weiter bestraft? Ich hätte sie gerne aufgemuntert, aber ich wusste nicht, wie ich das hätte anstellen sollen. Nichts, das ich gesagt oder getan hätte, hätte sie aus diesem Loch holen können, in das sie hineingefallen war. Seit Addie alt genug war, um sich ihre Zukunft auszumalen, wollte sie mit ihrem zukünftigen Mann (also Trev), in einem kleinen Häuschen am Stadtrand wohnen, zwei Kinder bekommen, einen Junge, ein Mädchen, und einen Golden Retriever halten. Es war klischeehaft, aber das war es, was Addie immer gewollt hatte. Und genau diese Zukunft, die einzige Zukunft, die sie jemals gewollt hatte, war zerstört worden. Ich schlang meine Arme um sie, und hielt sie fest, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte für sie tun können. Sie klammerte sich an meine Arme, und weinte.

„Was hab ich getan?", schluchzte sie. „Was habe ich getan? Ich hab alles kaputt gemacht."

~~ ~~

Nachdem Addie sich ein klein wenig beruhigt hatte, beschloss ich, sie wieder nach Hause zu fahren. Die ganze Fahrt über starrte sie nur aus dem Fenster, und weinte stumm vor sich hin. Ihre Augen waren leer und freudlos. Mir tat es fast körperlich weh, meine Schwester so zu sehen. Als ich sie fragte, ob ich ihr irgendwie helfen konnte, schüttelte sie nur den Kopf, woraufhin ich vorschlug, Trev anzurufen, damit er heute Abend nach Fresno kommen würde. Addie nickte stumm, und ich setzte meinen Plan sofort in die Tat um. Nur beschloss Trev offenbar mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er klang schon gestresst, als er abhob, und es wurde im Laufe des Gespräches nicht besser, weil er gleich morgen in der Früh seine erste wichtige Prüfung haben würde. Ich erzählte nur knapp, dass es Addie nicht gut ging, ohne Details zu erwähnen, weil sie direkt neben mir im Auto saß, und ich einen weiteren Nervenzusammenbruch vermeiden wollte.

„Wie schlecht geht es ihr?", hakte er nach, klang aber so, als wäre er mit den Gedanken bei seinen Lernunterlagen. „Addie-isst-ihre-Pizza-mit-Gabel-und-Messer-damit-sie-uns-im-Notfall-töten-kann schlimm?" Schlimmer.

„So ungefähr." Ich wollte ihm keine unnötigen Sorgen vor der Prüfung bereiten. Er war so schon gestresst genug, und Addie hätte das wohl auch nicht gewollt.

Trev seufzte. „Ich komme morgen gleich nach der Prüfung, sag ihr das, ja? Versprochen", sagte er bedauernd. Es fiel ihm nicht leicht, zwischen Addie und Studium zu wählen, vielleicht auch, weil ich dumm genug gewesen war, ihm die Lage ein bisschen zu rosarot zu schildern. „Ich rufe sie später noch an. Sie soll ihr Handy nicht ausschalten." Damit legte er auf. Zugegeben, ich war ein bisschen wütend auf ihn, dass er erst morgen wieder herkommen wollte, und nicht heute Abend. Gleichzeitig war es meine eigene Schuld gewesen, und ich konnte ihn verstehen. Addie hatte manchmal ihre Launen und Phasen, aber dann war sie meist wütend, und wollte nicht angesprochen werden. Mittlerweile kam sie mir fast schon depressiv vor, und ich machte mir ernsthafte Sorgen um sie. Als ich ihr sagte, dass Trev erst Morgen wieder nach Fresno kommen würde, sie aber später noch anrufen wollte, reagierte sie gar nicht erst. Dass sie mich gehört hatte, wusste ich trotzdem. Zu Hause angekommen verschwand sie augenblicklich in ihrem Zimmer, und ich sah sie den ganzen Tag nicht mehr.

~~ ~~

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich wälzte mich hin und her und hielt Beverly wach.

„Alles okay?" Sie drehte sich zu mir. Sie klang nicht wirklich genervt, aber sie war müde, wie so oft in letzter Zeit, und ich brachte sie um den Schlaf.

„Entschuldigung." Ich drehte mein Gesicht zu ihr. „Kann nicht einschlafen." Sobald ich zurückgewesen war, hatte ich ihr alles erzählt, was mit Addie los war. Was im Myway passiert war, wusste ich immer noch nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass es in der ganzen Reihe von schlimmen Dingen, die Addie passierten, sehr wohl auch seinen Platz fand. Außerdem wurde ich das Gefühl seit gestern nicht los, dass Addie sich ganz genau erinnern konnte, was im Myway passiert war. Das beruhigte mich kein bisschen, denn alles, das es wert war, von Addie geheim gehalten zu werden, trug ganz offensichtlich zu einer Art Selbstzerstörung bei ihr bei. Aber ich konnte sie ja nicht zwingen, mir zu erzählen, was passiert war.

„Das kommt davon, weil du immer so viel Kaffee trinkst", murmelte Beverly.

„Ja, vermutlich", schmunzelte ich. „Soll ich mich ins Wohnzimmer legen?"

„Du sollst ruhig liegen und mich schlafen lassen." Und weil ich das nicht konnte, rutschte ich unter der Decke hervor und ging aus dem Zimmer.

Es war schon drei Uhr morgens. Ich hätte wirklich schlafen sollen, aber ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich glaubte zu spüren, dass die Ruhe vor dem Sturm vorbei war, und der Sturm demnächst anbrechen würde. Ich machte mir zu große Sorgen und verspürte das Bedürfnis, sicher zu stellen, dass es Addie gut ging. Trev hatte mich noch einmal angerufen, nachdem er mit ihr gesprochen hatte, und hatte gemeint, dass sie sich wirklich mehr als komisch benahm. Es wunderte mich nicht, aber nur weil ich die Gründe für ihr Verhalten kannte, beruhigte mich das nicht unbedingt.

Leise klopfte ich an ihre Zimmertüre. „Addie?" Keine Antwort. Vorsichtig öffnete ich ihre Türe und linste ins Zimmer. Es war natürlich stockfinster, aber ich war die Dunkelheit bereits gewöhnt. Addie's Fenster lag auf der Straßenseite. Ein wenig Licht fiel zwischen den Vorhängen durch.

„Addie", wiederholte ich leise. Wieder keine Reaktion. Ich näherte mich ihrem Bett, und bemerkte, dass die Laken zerknittert auf dem Bett lagen, als wäre sie eben erst aufgestanden. Ich schaltete das Licht ein. Addie war wirklich nicht in ihrem Zimmer. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und klopfte an der Badezimmertüre an. Ich ging nicht davon aus, dass sie in Chase Zimmer war.

„Ads?" Hören konnte ich sie nicht. Ich versuchte die Türklinke nach unten zu drücken, aber es war abgeschlossen. Ich konnte ein recht undeutliches Geräusch hören und klopfte nochmal, diesmal allerdings stärker. Ich bildete mir ein ihre Stimme zu hören, aber nur ganz leise. Außerdem hörte ich einige klimpernde und klirrende Geräusche.

„Mach die Tür auf!" Ich hatte ein fürchterliches Gefühl in meiner Magengegend und das Verlangen sicherzugehen, dass es meiner Schwester gut ging, machte mich wahnsinnig. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Nur eine Türe trennte uns voneinander, und genau das machte mich so verrückt.

„Aidan." Diesmal war es eindeutig Addie's Stimme. Sie schluchzte. Ich wiederholte, dass sie die Türe öffnen sollte, aber als Antwort erhielt ich nur ein lautes Poltern. War sie umgefallen?

Panik durchströmte meine Adern wie Feuer. Wenn Mütter Autos heben konnten, um ihre Kinde zu befreien, würde mich keine Türe davon abhalten, zu meiner Schwester zu gelangen. In meiner Angst genügte tatsächlich nur ein Versuch, um die Türe aufzustoßen. Ich stolperte ins Bad hinein.

„Oh Gott", war das Erste, das mir in den Sinn kam, als ich Addie auf dem Boden liegen sah und mich neben sie kniete. Und ab diesem Zeitpunkt funktionierte ich nur noch.

Sie hatte sich die Unterarme aufgeschnitten. Ich erinnerte mich an die unzählbaren Male, in denen ich im Krankenhaus festgesessen, und auf das Schichtende meiner Mutter gewartet hatte. Ich hatte mich mit Ärzten und Patienten im Wartezimmer unterhalten, und vermutlich mehr gehört, als für einen Zehnjährigen gut gewesen wäre.

Das Blut war hellrot. Es trat pulsierend aus den Wunden aus. Sie hatte mit Sicherheit die Pulsadern verletzt.

„Beverly!", rief ich, und versuchte die Wunde am rechten Arm zuzuhalten, während ich mit der anderen Hand nach den Handtüchern auf der Kommode griff. Meine Hand rutschte an ihrem blutigen Arm immer wieder ab, sodass ich die Wunde nicht zuhalten konnte.

„Aidan", keuchte Addie schwach. Sie war blass. Der Stapel fiel auf den Boden neben mir, und ich rief noch einmal nach Beverly.

„Ich... Ich hab dich... lieb", flüsterte sie mit halbgeöffneten Augen. Das Blut auf meinen Händen, blieb an den Tüchern kleben.

„Hör ja auf damit, verstanden?", warnte ich. Ich rollte eines der Handtücher zusammen, und drückte es gegen die Wunde, dann rollte ich ein zweites herum. Fest genug, um hoffentlich den Blutfluss zu stoppen, aber locker genug, um die Blutzufuhr nicht zu unterbrechen. Zumindest hoffte ich das. „Alles wird wieder gut, ja? Ich bring dich um, wenn du mir jetzt wegstirbst, Ads!"

„Was ist- Oh mein Gott!", Beverly stand geschockt im Türrahmen. Hektisch nickte ich zu Addie's anderem Arm.

„Du musst die Blutung am linken Arm stoppen", sagte ich schnell. „Ich kann hier nicht weg." Beverly stand noch etwa drei Sekunden wie erstarrt da, bevor sie sich auf die andere Seite von Addie kniete und meinen Anweisungen folgte.

Addie hatte sich an ihrem linken Arm tiefer geschnitten, und das Blut tränkte das Tuch, das Beverly ihr umwickelte, schon nach wenigen Sekunden.

„Soll ich das Tuch wechseln?", fragte sie.

„Nein, auf keinen Fall, es muss auf der Wunde bleiben." Ich griff nach dem Stapel Tücher, der hinter mir auf den Boden gefallen war und reichte Beverly ein paar weitere. Ich erklärte ihr, wie sie einen Druckverband anlegen musste.

„Das wird doch heilen oder? Der Dämon wird das doch heilen. So wie die Schnitte, auf ihrer Hand, richtig?", fragte ich, wahrscheinlich mehr, weil ich mich selbst davon überzeugen wollte, als dass ich die Antwort darauf wirklich hören wollte. Beverly wickelte noch ein Tuch um Addie's Arm, und sah sich währenddessen flüchtig im Raum um, bis ihr Blick am Waschbecken ausharrte. Ich folgte ihrem schockierten Blick, erkannte von meiner Position aus jedoch nichts. Sie wandte sich hektisch wieder Addie's Arm zu.

„Nein wird es nicht", sagte sie angestrengt, und zog das Tuch fest. Ich sah Beverly fragend an. „Sie hat Dämonenglas verwendet." 

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