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Beverly

Mein Tag hätte kaum schöner sein können, als ich am späten Nachmittag wieder in der Wohnung in Fresno ankam und Chase' blonden Strubbelkopf auf der Couch sah.

„Was willst du denn hier?", grummelte ich, woraufhin er sich irritiert umdrehte und die Augenbrauen zusammen zog.

„Warum fragt mich das jeder? Ich habe mehr Recht hier zu sein als du."

Ich streifte meine Schuhe ab und ließ meine Tasche mit den frischen Klamotten neben dem Tisch fallen. „Nein, ich meinte viel eher: Was machst du hier, nachdem du dich seit Tagen nicht hast blicken lassen?"

„Wann und wie oft ich mich in meiner Wohnung von dir sehen lasse, ist und bleibt meine Sache, Prinzesschen", knurrte er. Ich rollte mit den Augen und sparte mir die Antwort. Wir wussten doch beide, dass es um Addie ging. Stattdessen machte ich mich auf die Suche nach Essen. Keine leichte Aufgabe in einem Haushalt, in dem seit Tagen niemand mehr einkaufen war.

„Wo ist Aidan?"

„Bei seiner Freundin." Mein Herz blieb für einen Moment stehen, ich fuhr herum und Chase grinste mich an.

Ich stieß verärgert den Atem aus, bevor ich mich dem Kühlschrank zuwandte. „Witzig. Und wo ist er wirklich?"

Chase drehte sich wieder zu den Papieren, die er auf der Couch und auf dem Couchtisch ausgebreitet hatte. „Er schläft. Offenbar hast du ihn die ganze Nacht wachgehalten."

„Geh' jemand anderem auf die Nerven."

„Nein, danke." Während Chase mit den Papieren raschelte und unruhig an seinem Kugelschreiber klickte, war alles Essbare, das ich finden konnte, eine Viererpackung Schokoladenpudding hinter den Flaschen Bier. Aber es war auf jeden Fall besser als nichts. Wenn Aidan aufwachen würde, würden wir immer noch Pizza bestellen können.

„Was machst du da?", fragte ich. Ich wollte Aidan nicht aufwecken. Mein Nickerchen hatte ich bereits im Bus nach Santa Barbara gemacht, was dazu geführt hatte, dass ich ungefähr fünf Stationen zu weit gefahren war und auf den anderen Bus hatte warten müssen, der mich letztendlich auch zu meinem Haus gebracht hatte. Aber Aidan war bestimmt ebenfalls todmüde und ich gönnte ihm die Ruhe, nach Addie's... was auch immer das gestern Abend gewesen war. Also musste ich wohl oder übel im Wohnzimmer bleiben. Und schweigend herumzustehen, während ich den Pudding aß, war keine angenehme Option.

Chase nahm seinen Blick nicht von den Papieren. „Hab gestern ein paar Dämonen zur Hölle geschickt -buchstäblich- und nicht alle Menschen haben das überlebt. Ich muss jetzt dafür sorgen, dass diese Morde nicht allzu genau von der Polizei untersucht werden." Wollte ich wissen, wie er das anstellte? Nein, vermutlich nicht. Sonst würde ich womöglich noch Dinge über seine Arbeit erfahren, die ihn in meiner Achtung noch weiter sinken lassen würden, falls das überhaupt möglich war. Ich wusste von Rose, dass Jäger, besonders wenn sie gleichzeitig für eine so große Organisation wie Modoc arbeiteten, oft Zugang zu Informationen hatten, von denen man meinen könnte, dass nur die Regierung sie hatte, oder viel eher: gar niemand. Diese Informationen ließen sich wunderbar zu Geschichten zusammenspinnen, die man Eltern und Freunden zukommen lassen konnte, damit die Polizei nicht eingeschaltet wurde. Ein spontaner Trip nach Istanbul, mit dem drogenabhängigen Freund durchgebrannt, Jobangebot in Wales... Ich hatte keine Ahnung von den Geschichten, die sich Jäger und Leute aus Modoc aus den Fingern saugten, um keine allzu große Aufmerksamkeit zu erregen, aber eines war mal klar: Jäger und Modoc waren wahnsinnig gut organisiert.

„War sicher eine erfolgreiche Jagd", bemerkte ich zynisch. Chase warf mir einen angestrengten Seitenblick zu. „Ich meine, jeder Mensch würde lieber sterben, als für den Rest seines Lebens an einen Dämon gebunden zu sein, der ihn beschützt."

Er ließ seinen Stift auf einen Berg von dünnen Mappen fallen. „Fang jetzt nicht wieder an rumzuheulen, von wegen, was für herzerwärmende Wesen Dämonen doch sind", warnte Chase genervt. „Wenn du Mitleid wegen deiner Kindheit willst, geh zu Aidan. Er steckt dir zum Trost bestimmt gerne die Zunge in den Mund."

„Geht das schon wieder los?" Warum fühlte er sich von meiner Vergangenheit so dermaßen angegriffen?

„Du hast doch angefangen!"

„Ich-" Mein Dämon schnitt mir das Wort ab. Er meinte, dass jegliche Diskussion überflüssig sei, womit er wohl auch recht hatte. Alles, was Chase sah, war, dass Dämonen böse waren, weil er seine Schwester wegen eines Dämons umgebracht hatte. Er war das Monster gewesen, das seine Schwester umgebracht hatte und versuchte es einem Dämon zuzuschieben.

Dämonen sind böse, Dämonen schaden Menschen, Dämonen müssen umgebracht werden. Das war alles, was Chase in seinem Leben gelernt hatte. Mir war klar, dass die Schuld genau genommen bei seiner Familie lag, und nicht bei ihm. Wenn man sein Leben lang nur mit einer Seite der Geschichte konfrontiert wird, fällt es nun einmal schwer, eine andere zu glauben. Ich erwartete nicht, dass er sich von heute auf morgen änderte, aber er war so festgefahren in seinem Denken, dass er die Wirklichkeit nicht sah. Nichts im Leben war nur gut, oder nur böse. Manche Dinge waren eben ein bisschen komplizierter.

Ich warf den leeren Puddingbecher in den Mülleimer und wusch den Löffel ab. Dann drehte ich mich wieder zu Chase.

„Wie viele Tage hat ein Jahr?", fragte ich, gegen die Küchenplatte gelehnt, woraufhin Chase mich ansah, wie den letzten Vollidioten.

„Ich glaube, es wäre Zeit für dich, die Schule abzuschließen, oder? Schaden könnte es sicher nicht." Ich war keine Idiotin. Ich wusste, wie viele Tage ein Jahr hatte. Nur war mir keine bessere Einleitung eingefallen. Also sah ich Chase abwartend an. Er seufzte.

„365."

„Wie viele Tage haben drei Jahre?" Er setzte sich aufrecht hin, betrachtete mich einen Moment und schüttelte dann den Kopf.

„Vergiss es, ich mach da nicht mit."

Ich stemmte meine Hände auf den Tisch und lehnte mich vor. „Wie viele?"

„1095", brachte er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich nickte und kniff meine Augen ein wenig zusammen.

„Weißt du wie viele Stunden das macht?" Ich wusste die Zahlen auswendig. Ich hatte sie mir eingeprägt, um zu verstehen, was diese Zahlen für mich bedeuteten. Stunden, die ich verloren hatte, und nie wieder bekommen würde. Von den zwei Jahren in der Nervenheilanstalt ganz abgesehen. Jahre, Stunden, Minuten, die ich nicht damit ausgleichen wollte (so wie Addie es von mir erwartet hätte), anderen Leuten mehr Zeit zu verschaffen, in der sie sich über die Werbung im Briefkasten aufregten oder darüber, dass der Lieferservice fünf Minuten länger brauchte als sonst. „26280", beantwortete ich meine eigene Frage. „Das macht über eine Million Minuten, in denen ich vor Angst nicht atmen konnte."

Ich ging um den Tisch herum und sah aus dem Augenwinkel, dass mein Dämon neben mich sprang. Er meinte, ich solle mir meinen Atem lieber sparen, aber Chase musste mir zuhören. Nur einmal. Er würde es vielleicht nicht verstehen (er würde es sogar mit Sicherheit nicht verstehen), aber das war mir egal. Vielleicht würden wir dann wenigstens nie wieder auf dieses Thema zurückkommen müssen.

„Über eine Million Minuten, in denen ich meine Hände und Füße nicht mehr spüren konnte, weil sie von der Kälte taub waren. Über eine Million Minuten, in denen ich vor Hunger nicht einschlafen konnte. Über eine Millionen Minuten, in denen ich krank war, weil mein Körper die Kälte und die Feuchtigkeit in diesem Wald nicht ertragen konnte. Über eine Million Minuten, in denen ich Angst davor hatte, einen meiner Asthmaanfälle zu bekommen, weil ich wusste, dass er sonst gekommen wäre. Über eine Million Minuten, in denen ich es nicht eine Sekunde geschafft habe, meine Muskeln zu entspannten." Er sagte nichts. Zum ersten Mal sagte Chase nichts. Er unterbrach mich nicht, und er ließ keinen bescheuerten Spruch los. Also redete ich weiter. „Weißt du, wie es sich anfühlt, jede Sekunde zu denken, dass du gleich sterben könntest? Die Zeit rauscht so schnell wie ein Zug an dir vorbei, und gleichzeitig zieht sich jede Minute so lang wie eine Stunde. Du weißt nicht, ob Tag oder Nacht ist. Du weißt nicht, wie lange du schon im Dunkeln sitzt und hoffst, dass du einfach stirbst." Ich konnte und wollte mich nicht an alle Details erinnern. Aber ich wusste noch ganz genau, wie es sich angefühlt hatte. „Du vergisst, wer du bist, weil es unwichtig geworden ist. Richtig und falsch spielt keine Rolle mehr, weil es auch unwichtig geworden ist. Alles was zählt, ist, nur noch eine Minute. Eine Minute, in der du dir sagst, dass alles wieder gut wird, obwohl du weißt, dass es nicht stimmt." Meine Augen begannen zu brennen. „Du redest dir ein, dass deine Eltern gleich da sein werden. Dich gleich abholen und nach Hause bringen werden. Aber tief im Inneren weißt du, dass sie dich nicht mehr suchen. Dass du schon zu lange weg bist, und sie dich längst gefunden hätten, wenn es so leicht wäre. Dir wird klar, dass du niemals lebend aus dieser Sache rauskommen wirst."

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Anthony mich gefragt hatte, wie ich es überlebt hatte. Wie ich lebendig wieder aus der ganzen Geschichte herausgekommen war. Aber ich hatte nur geantwortet, dass ich es gar nicht geschafft hatte. Ein Teil von mir war noch immer in dieser Waldhütte eingesperrt, und würde es auch immer bleiben.

Ich schluckte schwer. Den Blick in Chase Augen, konnte ich absolut nicht deuten. Entweder war es Langeweile, Verständnis, Mitleid oder Ignoranz. „Und sobald dir das bewusst wird, sobald du akzeptiert hast, dass du sterben wirst, ist alles andere egal." Allerdings war es auch ziemlich schwer gewesen, wieder zurück ins Leben zu finden, nachdem ich meinen andauernd bevorstehenden Tod akzeptiert gehabt, und mich damit abgefunden hatte, keine Zukunft zu haben. Ich hatte mehr als einmal versucht, mir nach meiner Entführung das Leben zu nehmen, aber ohne Dämonenglas, hatte es nicht funktioniert, und irgendwann war ich es leid gewesen, mir schmerzhafte Wunden zuzufügen, die jeden anderen getötet hätten, nur mich nicht. „Der sichere Tod ist beängstigend und beruhigend zugleich, und du weißt nicht, was du denken sollst, also nimmst du jede Hilfe, und jeden Schutz an, den du kriegen kannst. Deshalb habe ich mich nie von meinem Dämon getrennt, auch nicht, nachdem ich wieder zu Hause war. Weil er die ganze Zeit bei mir war. Mir ist egal, ob er dafür verantwortlich war, dass mir all das überhaupt erst passiert ist. Er wollte mich. Und für mein damaliges Ich, für das Kind, das entführt worden ist, war dieser Dämon der einzige Grund, dass ich da wieder rausgekommen bin. Für das zerstörte, zerrissene, zerfetzte Etwas, das ich nach meinem Entkommen war, war mein Dämon der Grund, warum meine Suizidversuche gescheitert sind, und ich überlebt habe. Und für mich, das achtzehnjährige Ich, das versucht sich vor einem ignoranten, empathielosen Jäger zu erklären, ist dieser Dämon der Grund, warum ich heute hier stehe, und zwar nicht mehr mit dem ständigen Wunsch, mich umzubringen. Du kannst mich hassen, aber du kannst mich nicht dafür hassen, dass ich keine Angst mehr haben will, dass mir so etwas noch einmal passiert. Diese Entführung und dieser nervenzerfetzende Kampf danach... das halte ich nicht noch einmal aus. Er gehört jetzt zu mir, und sowas würde er nie wieder zulassen." Ich fühlte mich sicherer mit meinem Dämon. Paradox war nur, dass ich keine Angst mehr vor der Dunkelheit hatte, obwohl er die Dunkelheit war.

„Und jetzt vergleich die hirnlose Entscheidung, deine Schwester umzubringen, weil sie von einem Dämon besessen war, mit meiner Vergangenheit." Ich blinzelte die hochsteigenden Tränen weg, und wollte nur noch zu Aidan. Wenn ich mich vorsichtig unter der Decke einrollen und an ihn kuscheln würde, würde ich ihn bestimmt nicht beim Schlafen stören, oder? Mir war im Moment sehr nach kuscheln. Und Schlafende fragen einen auch nicht, warum man so traurig aussieht, oder ob man reden will. Also stieß ich mich vom Tisch ab, und ging auf sein Zimmer zu.

„Sie hat geschrien." Ich blieb stehen. Ich war nur noch einen Schritt von Aidan's Türe entfernt. Wenn ich nach der Türklinke greifen würde, würde ich sie sogar schon erreichen können. Ich hätte mir nicht anhören müssen, was immer Chase mir offenbar sagen wollte. Er hatte mich so lange tyrannisiert, und versucht umzubringen, dass mir nicht einmal ein guter Grund einfiel, warum ich hätte hier bleiben sollen.

Weil du ihn verstehen willst.

„Der Dämon hat von ihr Besitz ergriffen. Er war schlau und stark, und hat sich aus ihrem Kopf zurückgezogen, sobald ich erkannt habe, dass Amy besessen war. Sie war bei vollem Bewusstsein." Zögerlich drehte ich mich um. Ich fühlte mich seltsam, Chase über einen Teil seines Lebens reden zu hören, der ihn grundlegend verändert hatte. Ob es ihm auch so gegangen war, als ich von meiner Entführung gesprochen hatte?

So sehr ich mir auch gewünscht hätte, ich wäre kalt genug gewesen, ihn zu ignorieren, mich einfach umzudrehen und zu Aidan zu gehen, blieb ich hier und hörte zu.

„Ich konnte mit ihr reden, aber der Dämon hatte ihren Körper unter Kontrolle. Er war wirklich stark. Stärker, als alle Dämonen, die ich bis zu dem Zeitpunkt jemals gesehen habe. Ich war erst fünfzehn und war noch nicht bei vielen Jagden dabei gewesen, sondern habe immer nur trainiert und gelernt, also hatte ich eine scheiß Angst vor diesem Ding. Amy und ich waren gerade unten im Keller. Ich wollte ihr beibringen, wie man Kugeln aus Dämonenglas fertigt, als ich bemerkt habe, dass sie das Dämonenglas nie direkt angefasst hat. Unsere Eltern waren oben, und ich habe sie natürlich sofort gerufen." Chase sah nicht ein einziges Mal weg. Er ließ mich den Schmerz an die Erinnerung in seinen Augen so deutlich spüren, wie ich es vorhin bei ihm getan hatte. Gleichzeitig war sein Gesicht wie erstarrt, und keinerlei Emotionen waren darin zu erkennen. Lediglich seine Körperhaltung war angespannt. „Hätte ich nicht so offensichtlich gemacht, dass ich den Dämon erkannt habe, sondern unauffällig zu meinen Eltern gegangen wäre, und sie das hätte regeln lassen, dann wäre von alledem vielleicht nichts passiert." Er sprach mit Reue. Das kannte ich nicht von ihm. Alles was er bereute, seit ich ihn kannte, war, die Entscheidung mich leben zu lassen. „Aber das war nicht der Fall, also hat der Dämon die Türen abgeschlossen und versiegelt, und meine Eltern konnten Amy und mir nicht helfen." Er beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf den Knien auf. „Also ja. Ich weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, wenn man das Gefühl hat, jede Sekunde sterben zu können. Und ich weiß auch, wie schnell und wie kriechend langsam die Zeit vergeht, wenn man Todesangst hat. Ich weiß, wie sie jeden Muskel und jede Faser deines Körpers lähmt, und du an nichts denken kannst. Alles was du tust ist rückblickend falsch." Jetzt klang er wütend. Er war wütend auf sich. Wütend auf mich. Ich verstand, warum Trish gemeint hatte, dass Chase immer noch Angst hatte. Ich hatte es nicht verstanden, denn er war groß, stark, und nicht annähernd so dumm, wie ich manchmal annahm. Aber Chase hatte nicht vor materiellen Dingen Angst. Er hatte Angst davor, sich noch einmal so zu fühlen. Er hatte Angst vor der Angst.

„Kannst du dir ihre Angst vorstellen? Amys Angst? Was in ihrem Kopf vorgegangen sein muss? Sie konnte um Hilfe rufen, aber sie hatte ihren Körper nicht unter Kontrolle. Sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen, und auch nicht vor dem Dämon davon laufen, weil er in ihrem Körper war. Ich, ihr großer Bruder, der sie hätte beschützen müssen, stand direkt vor ihr. Und es gab nichts, das ich hätte tun können, um ihr zu helfen. Stell dir vor, wie sich das für sie angefühlt haben muss. Für ein elfjähriges Kind." Ich schlug den Blick nieder. Ich schaffte es nicht, ihm weiter in die Augen zu sehen, während ich fast körperlich miterleben musste, was seiner Schwester und ihm widerfahren war. „Dann hat der Dämon angefangen ihr weh zu tun", fuhr er bitter fort. „Er hat sie gezwungen sich selbst weh zu tun. Sie hat sich erst alle Finger gebrochen. Einen nach dem anderen hat sie ihre Finger in die Hand genommen, und so lange umgebogen, bis sie gebrochen waren. Und bei jedem hat sie mehr geschrien, als beim vorigen." Das Geräusch knackender Knochen, und eines weinenden Mädchens erfüllten meine Ohren. Die Gänsehaut, die sich über meinen Körper zog, konnte ich nicht verjagen. Ich wollte Chase sagen, dass er aufhören sollte. Dass ich verstanden hatte. Dass er mich nicht mit Erzählungen aus seiner Kindheit foltern musste, damit ich ihn nie wieder als gefühlloses Monster bezeichnen würde. Aber meine Zunge war wie festgefroren. „Ich habe gebetet, dass sie ohnmächtig wird, dass sie der Schmerz das Bewusstsein verlieren lassen wird, aber der Dämon hat dafür gesorgt, dass sie wach bleibt. Ich konnte nichts tun, als dabei zuzusehen, wie der Dämon meine kleine Schwester gefoltert hat." Ich brachte den Mut auf, Chase wieder in die Augen zu sehen. Ich war unendlich froh, nicht auch noch hören zu müssen, was sich in seinem Kopf gerade abspielte. „Das Schlimmste war aber nicht das Blut, die hervorstehenden Knochen, oder das Geräusch, wenn sie sich die Finger gebrochen hat", fuhr er fort. „Das Schlimmste waren ihre Schreie. Kannst du dir vorstellen, wie sich die Schmerzensschreie eines Menschen anhören, der sich selbst zu Tode quält? Von einem Menschen, den du liebst? Schon klar, dir ist niemand wichtiger, als du selbst. Aber ihre Schreie sind mit nichts vergleichbar, was ich danach jemals erlebt habe. Und ich kann sie immer noch hören. Ich höre ihre Schreie, wenn ich schlafe. Die einzige Möglichkeit, das nicht zu müssen, ist zu trinken. So lange zu trinken, bis ich in ein seliges Saufkoma falle, und gar nichts mehr träumen muss." Wollte er mir ein schlechtes Gewissen machen, dafür, dass ich ihn, seit ich ihn kannte, für alles verurteilt hatte, wofür er offensichtlich seine Gründe hatte? Wenn ja, dann schaffte er das wirklich gut. Hätte ich nicht meinen Dämon gehabt, Anthony, Delilah, zahllose Therapiestunden und Rose, wäre ich vielleicht auch dem Alkohol verfallen. Ich musste daran denken, dass er seinen besten Freunden niemals davon hatte erzählen können. Es wunderte mich nicht mehr, dass er und Trish so ein enges Verhältnis zueinander hatten. Sie waren die einzigen aus ihrem Freundeskreis, die über Dämonen und Jäger Bescheid wussten, seit sie klein waren. Wahrscheinlich auch die Einzigen, die einander so gut verstanden, wie sie es offenbar taten. „Der Dämon hat sie gezwungen, sich Zähne herauszuziehen, ihre Haare auszureißen, ihren Körper aufzuschneiden. Er hat sie gezwungen, ihren Kopf gegen den Boden und die Wand und die Tischkanten zu schlagen. Immer und immer wieder. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Amy war, dann hätte ich sie nicht mehr erkannt. Sie hat immer wieder versucht etwas zu sagen. Aber ihre Schmerzen waren so groß, und ihr Mund hat so sehr geblutet, dass sie keinen Satz rausgebracht hat. Aber sie war meine Schwester, und Geschwister wissen, was der andere sagen will, auch wenn er es nicht aussprechen kann. Es hat gedauert, aber irgendwann habe ich verstanden, dass sie sagen wollte: Töte mich." Ich schloss meine Augen und stieß leise den Atem aus. Chase ließ eine dramatische Pause, damit mein schlechtes Gewissen auch ja genug Zeit hatte, sich in jeder Faser meines Körpers festzusetzen, und mir zu sagen, dass ich ein schrecklicher Mensch war, und wirklich damit aufhören sollte, jemandes Entscheidungen zu verurteilen, ohne die Gründe dafür zu kennen.

Töte mich, bitte, töte mich. Willst du wissen, wie sich das anfühlt? Wenn jemand, den du liebst, so große Schmerzen hat, dass er dich bittet, ihn umzubringen?", fragte er aufgebracht und ein bisschen anschuldigend. Ich bekam Kopfschmerzen. Irgendetwas an seiner Erzählung erinnerte mich gewaltig an meine Entführung. Die Erinnerung hämmerte gegen die Wand, die ich errichtet hatte, und ich drängte sie mühsam zurück. „Sie hat mich angefleht, sie zu töten, weil sie die Schmerzen, die ein Dämon ihr zugefügt hat, nicht ertragen konnte. Also war ich ein großer Bruder. Zum ersten und letzten Mal in meinem Leben. Und ihre Schreie haben aufgehört." Er schwieg so lange, bis ich ihn wieder ansah. „Also, ja. Ich kenne jedes verdammte Gefühl von dir, und du hast nicht das Exklusivrecht auf ein traumatisches Erlebnis, mit dem du alles rechtfertigen kannst, was du tust." Tat ich das? Rechtfertigte ich wirklich meine dummen Entscheidungen, mit meiner Vergangenheit? „Ich weiß, was Dämonen tun. Ich weiß, wie sie mit Menschen spielen. Und ich werde nicht hier herumsitzen, und zusehen, wie Vaya Addie dasselbe antut, was ein Dämon meiner Schwester angetan hat, nur weil meine Freunde einer naiven Quelle vertrauen, die sie seit zwei Monaten kennen, und die selbst nicht ganz dicht ist." Autsch. Darauf wusste ich keine Antwort. Vermutlich, weil er recht hatte. Es tat weh, dass er das gesagt hatte, aber ich hatte es vermutlich verdient. „Nur weil du meinen Freunden einredest, dass Dämonen gut und hilfreich sind, werde ich ihnen nicht dieselbe Scheiße erzählen. Ich liebe Addie, wie meine Schwester. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass sie unvorsichtig wird, und der Dämon sie verletzt, weil sie sich auf deine Erfahrungen verlässt. Ich habe mehr Dämonen gesehen, als du, und nicht alle waren solche Schoßhündchen. Mag sein, dass dein Dämon, dir niemals direkt wehtun würde, aber das heißt nicht, dass das auf jeden Dämon zutrifft. Auch dein Dämon hat bereits Menschen gefoltert und getötet, nur so zum Spaß. Dämonen sind nicht gut, Beverly! Ich weiß nicht, warum du das denkst. Selbst Trish weiß es, und ihr Dämon ist einer der wenigen, die keiner Fliege etwas zu Leide tun würden. Aber sogar sie ist vorsichtig, weil sie weiß, dass Mephistopheles sehr wohl könnte, wenn er wollte." Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Und wenn Addie mich hassen muss, damit ich sie im Notfall beschützen kann, dann ist das eben so, damit kann ich leben." Aber nicht damit, dass der Dämon sie verletzt. Das stand in seinen Augen, auch wenn er es nicht sagte. In meinem Kopf schwirrten so viele Gedanken und Gefühle herum, wie schon lange nicht mehr. Ich fühlte mich vor allem schuldig, denn ich musste mir eingestehen, dass Chase recht gehabt hatte. Ich hatte wirklich keine Ahnung gehabt, wovon ich gesprochen hatte, als ich ihm in meiner Bar vorgeworfen hatte, dass er seine Schwester umgebracht hatte. Und jetzt fühlte ich mich miserabel, weil ich anfing, Chase zu verstehen.

„Du hast aber gesagt, dass deine Eltern versucht haben, den Dämon auszutreiben, und ihr Amy getötet habt, weil ihr keine andere Möglichkeit wusstet, den Dämon zu töten", bemerkte ich kleinlaut.

„Das muss ich ja auch sagen." Er stand auf, ging in die Küche, und holte die Flasche Scotch herunter. „Unter Jägern würde man so ein Handeln verstehen. Das ist die Geschichte, die ich allen erzähle, weil sie nicht annähernd so schmerzhaft ist, wie die Wahrheit. Lügen machen vieles erträglicher." Er schenkte sich das Glas, und trank einige Schlucke direkt aus der Flasche.

Nie hätte ich gedacht, dass Chase und ich, einander so ähnlich waren. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, denn ich hasste ihn nicht mehr. Zumindest nicht ganz und gar.

Er setzte sich wieder an seine Papiere und zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer, das verstehst du ohnehin nicht. Dir war noch nie jemand wichtiger, als du selbst, hab ich recht?" Er begann die umliegenden Zettel aufeinander zu stapeln, während ich ihm schweigend zusah.

Hatte ich Addie wirklich ein falsches Bild von Dämonen vermittelt? Ich wusste, wozu Dämonen in der Lage waren. Chase wusste, wozu Dämonen in der Lage waren. Auch Trish wusste, wozu Dämonen in der Lage waren. Aber hatten wir es Addie auch in derselben Deutlichkeit klar gemacht? Vielleicht hatte ich Dinge vorausgesetzt, die sie gar nicht ahnen konnte. Aidan's Mathematikprofessor setzte auch voraus, dass seine Schüler das kleine Ein-Mal-Eins beherrschten, und trotzdem verwendeten bestimmt einige den Taschenrechner dafür.

Klar, Trish war diejenige gewesen, die mich darum gebeten hatte, Addie zu helfen, weil sie ihren Dämon nie hatte kontrollieren müssen. Sie hatte ja nicht damit rechnen können, dass ich meinen Dämon zwar öfters hätte zurecht weisen müssen, es meistens aber nicht getan hatte. Mein Dämon und ich, hatten uns bereits aufeinander eingespielt. Wir kamen gut miteinander aus, und er war ständig in meiner Nähe. Bei Addie und Vaya, sah das tatsächlich anders aus.

„Also gut, ich helfe dir", sagte ich schließlich. Chase sah verwirrt auf. „Ich werde Addie sagen, dass sie nicht vergessen darf, was Dämonen tun, und wozu sie in der Lage sind. Und wenn sie es vergisst, werde ich sie daran erinnern." Das war ich Chase und Addie wohl irgendwie schuldig, nachdem ich laut ihm ein falsches Bild erzeugt hatte. Auch wenn Chase die Person war, die mehrmals um meinen Tod gefochten hatte, war ich es, die ihm wohl etwas schuldig war. Er sah mich noch einen Moment irritiert an, als wolle er herausfinden, ob ich es ernst meinte. Etwas an seinem Blick veränderte sich. Ich wusste nicht was es war. Aber zum ersten Mal herrschte zwischen uns kein spürbarer, tiefgreifender Hass.

Ich drehte mich um, und wollte endlich zu Aidan gehen. Jetzt brauchte ich eine Umarmung noch viel dringlicher, als zuvor. Vielleicht auch ein paar Küsse, die mich für ein paar Minuten alles vergessen lassen würden. Ich würde ihn dafür zwar aufwecken müssen, aber das würde er schon verkraften.

„Beverly."

„Ja?" Ich drehte mich noch einmal kurz um. Chase sah mich fast warnend an.

„Glaub bloß nicht, dass wir jetzt Best Buddies sind. Ich hasse dich trotzdem immer noch."

Amüsiert stieß ich den Atem aus. „Das kann ich nur zurückgeben." 

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