52
Beverly
Es dauerte lange, bis Addie sich beruhigt hatte. Wir hätten nicht viel tun können, um sie wieder auf den Boden zu holen. In diesem Moment musste sie einfach weinen und Gott und die Welt hassen, um danach wieder normal weiter machen zu können.
Ich saß mit den Rücken gegen die Wand gelehnt, und merkte plötzlich, wie sehr mich der heutige Tag mitgenommen hatte. Die Trägheit breitete sich über meinem ganzen Körper aus, und eine Müdigkeit überfiel meinen Geist, obwohl es noch nicht einmal Abend war. Sich um Menschen zu sorgen, die man gerne hat, war offenbar anstrengend. Mir war es besser gegangen, als mir alle Menschen am Arsch vorbei gegangen waren.
Trev saß am Rand des Doppelbettes, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Hände ineinander verschränkt. Er betrachtete Addie, wobei sein Blick nichts über das verriet, was in ihm vorging. Aber egal war es ihm nicht. Nichts von alle dem. Nach ein paar Minuten atmete er angestrengt aus, stand auf, und startete einen weiteren Versuch, an Addie heranzukommen. Sie schien viel erschöpfter als zuvor, und schniefte nur noch ein wenig. Trev streichelte ihr über den Kopf, und sie ließ sich endlich auch von ihm in die Arme nehmen. Sie rutschte aus Aidan's Umarmung direkt in Trev's hinein. Sie klammerte sich an ihn, wie ein kleines Äffchen. Trev hob sie vorsichtig hoch, trug sie aufs Bett, und legte sich sofort neben sie unter die Decke. Addie drückte sich so nahe an ihn, als könne sie in seiner Umarmung vor der Welt flüchten, und alles Schlechte vergessen. Aidan drückte sich vom Boden hoch, kam zu mir, half mir auf die Beine, und zusammen verließen wir so leise wie möglich das Zimmer. Wir hätten nichts mehr für Addie tun können. Die einzige Person, die sie jetzt brauchte, war bei ihr.
„Sie weiß es, oder?", fragte ich, während er die gegenüberliegende Türe öffnete, und mich zuerst in das Zimmer ließ. „Dass du von ihrem Kind weißt." Aidan nickte, und ließ seine Autoschlüssel auf den kleinen Tisch fallen, bevor er sich die Jacke auszog.
„Warum Addie?", fragte er kraftlos, und ließ sich auf das Bett sinken. „Sie ist so unglaublich... warmherzig und fürsorglich. Sie hat das alles nicht verdient."
„Und die zwanzigjährige Mutter bekommt die Diagnose Blutkrebs, der fünfzigjährige Vater verliert seine kleine Tochter, und unschuldige Kinder werden von ihren Eltern misshandelt." Aidan sah mich irritiert an. „Sie sind alle immer warmherzig, unschuldig, und haben es nicht verdient. Schlechten Menschen passieren solche Dinge eben nicht."
„Hast du gerade ein Erfolgsrezept für ein glückliches, unbeschwertes Leben gefunden? Einfach ein schlechter Mensch sein?", schmunzelte Aidan müde.
„Dann würde mir aber nicht so viel Scheiße passieren."
„Du bist kein schlechter Mensch."
„Einer von uns muss ja davon überzeugt sein." Ich streifte meine Schuhe ab, und ließ mich erschöpft neben ihm aufs Bett fallen. Ich legte die Arme auf meinen Bauch und starrte an die Decke. Eine einzige Glühbirne, ohne Lampenschirm hing herunter. Kleine Staubfusseln flogen vereinzelt im Zimmer herum, und zogen meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Warum tut Addie sich das überhaupt an?", fragte ich zermürbt. „Welcher Mensch, der bei klarem Verstand ist, würde gerne Kinder haben?"
Ich merkte, dass Aidan den Kopf zu mir drehte. „Du willst keine Kinder?"
„Meine Gene sind nun wirklich keine, die ich weitervererben sollte, findest du nicht?", lächelte ich scherzhalber, wurde aber recht schnell wieder ernst. „Nein... Ich will keine Kinder."
„Wieso?"
„Zum einen, weil ich bestimmt keine gute Mutter wäre." Mir war klar, wie klischeehaft ich klang. Eine typische Ausrede, um keine Kinder bekommen zu müssen. „Außerdem... wer wäre denn grausam genug, Kinder in diese Welt zu setzen? Eine Welt, in der Menschen verhungern, Kriege führen, und an Dämonen gekettet werden." Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, ob diese Welt es überhaupt wert ist, von Kindern gesehen zu werden." Aidan sagte lange nichts, und ich fragte mich, was in seinem Kopf vorging, und ob er mir zustimmte.
„Das ist Blödsinn." Offenbar waren wir so gar nicht einer Meinung. Ich ließ die Staubkörnchen, Staubkörnchen sein, und drehte mein Gesicht zu ihm.
„Was?"
„Deine Argumentation ist Blödsinn. Wir können alle heilfroh sein, dass unsere Eltern und Großeltern nicht schon so gedacht haben." Kann ich das? Er blinzelte mich müde an, und unter anderen Umständen, hätte er vielleicht überzeugender geklungen. „Wahrscheinlich klinge ist jetzt wie meine Schwester, aber wenn sich nur die kranken Menschen fortpflanzen, dann kann es doch kein gutes Ende nehmen, mit dieser Welt." Dem konnte ich nichts entgegen setzen. Es war schließlich nicht vorherbestimmt, dass jedem die Dinge passieren würden, die mir passiert waren. „Ach ja, und jemand der auf Kinder verzichtet, um sie gar nicht erst dem potenziellen Schmerz, den diese Welt bereithält, auszusetzen, kann kein schlechter Mensch sein." Er sah mir fest in die Augen, als er hinzufügte: „Und auch keine schlechte Mutter." Den Blick, den Aidan mir zuwarf, ertrug ich nicht, also wandte ich mich wieder ab. Kinder sollten von jemandem großgezogen werden, der sie auch wirklich wollte. Also, nicht von mir. Ich mochte Kinder nicht. Ich mochte die Verantwortung nicht, die damit einherging. Alles was man tat, hatte einen prägenden Einfluss auf die Zukunft des Kindes. Und ich für meinen Teil, wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass ein einfacher Campingtrip im Wald, zu drei Jahren ständiger Todesangst bei einem zehnjährigen Kind führte. Das hätte ich weder mit mir, noch mit meinem Gewissen vereinbaren können.
„Wenn man bedenkt, dass sie Vaya noch nicht unter Kontrolle hat, wäre ein Kind ohnehin eine dumme Idee gewesen", bemerkte ich. Ich war noch nie besonders gut darin gewesen, Gesprächsthemen unauffällig zu wechseln. Aber Aidan ging darauf ein, wofür ich ihm sehr dankbar war.
„Was meinst du?"
„Dämonenbabys."
„Dämonenbabys?", hakte Aidan, ein wenig verstört, nach.
„Hast du dir mal die Statistiken angesehen, wie viele Männer und wie viele Frauen an Dämonen gebunden sind?" Aidan zog die Augenbrauen zusammen.
„Machst du dich gerade über mich und mein Unwissen lustig?"
„Ein wenig", gab ich leicht grinsend zurück. „Aber ich habe es ernst gemeint."
„Willst du damit sagen, dass Dämonen sich an Frauen binden wegen Dämonenbabys?"
Ich nickte. „Wenn ein Dämon über einen längeren Zeitraum von einem menschlichen Körper Besitz ergreift, und ich meine wirklich Besitz ergreift, dann entwickelt sich im Körper eine Substanz. Dämonenblut. Frauen tragen Babys bis zu neun Monate in ihrem Bauch. Das reicht aus, um den Fötus mit Dämonenblut vollzupumpen." Ich warf ihm einen Seitenblick zu. „Außerdem können sich Dämonen an jeden x-beliebigen Menschen binden, und währenddessen von einem anderen Besitz ergreifen", erläuterte ich, um seinen kleinen Denkfehler zu korrigieren. „Besessen zu sein, ist ziemlich scheiße. Du bist bei klarem Verstand, aber tust Dinge, die du nicht selbst steuern kannst. Welche Mutter, würde einen Dämon nach einer Besessenheit in die Nähe ihres Kindes lassen? Aber Dämonen wollen in der Nähe ihrer Kinder bleiben, und dafür müssen sie sich an den Menschen binden, der ihr Kind austrägt, um eine gewisse Loyalität vorauszusetzen." Aidan wandte seinen Blick wieder ab, und seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass sein Gehirn dabei war, die neuen, vielleicht noch viel krankeren, Dämoneninformationen zu verarbeiten.
„Ist das wie in den Filmen, in denen... ich nenne es mal Hybriden, stark und unbesiegbar sind?"
Ich lachte. „Ganz so ist es nicht. Viele dieser Kinder entwickeln nicht einmal übernatürliche Fähigkeiten. Nur weil Dämonenblut in ihren Adern fließt, heißt das nicht, dass sie in irgendeiner Weise dämonisch sein müssen. Das macht viele dieser Kinder zu normalen Menschen. Deshalb sind sie praktisch unmöglich aufzufinden."
Um ehrlich zu sein, wäre ich einem solchen Hybriden, wie Aidan es genannt hatte, gerne einmal begegnet. Es gab so viele ungeklärte Fragen, über diese Wesen. Vermutlich hätte ich eher Angst vor einem Aufeinandertreffen haben sollen, aber so war es nicht. Da hatte ich ja vor einer leibhaftigen Hexe größere Angst.
„Es heißt, dass diese Kinder, auch mit Dämonenglas nicht zu töten sind, weil das Dämonenblut seit Geburt an in ihren Adern fließt. Unverwundbare Menschen also."
„Aber sowas muss doch auffallen", bemerkte Aidan ungläubig.
Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt nicht viele solcher Wesen. Dämonenblut ist wie Gift für eine menschliche Seele und den Körper. Es kann Wunden heilen, ja, aber nur in Kombination mit einem Dämon, sonst kann es schnell tödlich werden. Für so ein kleines Wesen ist es wirklich gefährlich."
Ich hatte selbst mitbekommen, wie Dämonenblut arbeitete. Es war schmerzhaft gewesen. Es hatte sich angefühlt, als würde mein Körper von innen heraus verbrennen. Der Schmerz hatte sich an meinen Wunden konzentriert. Mir war schwarz vor Augen geworden, und für einen Moment hatte ich gedacht, Chase hätte mich angelogen, und etwas Tödliches in das Glasfläschchen gefüllt. Doch dann war mein Dämon aufgetaucht, und hatte von meinem Körper Besitz ergriffen, damit das Blut seine Arbeit hatte tun können. Ich hatte mich sofort besser gefühlt, und er hatte sich zurückgezogen. Die Narben zogen sich heute noch über mein Bein, und meinen Hals, aber sie waren kaum noch sichtbar.
„Rose hat einmal gesagt, dass sich diese Kinder zu Dämonen hingezogen fühlen, auch wenn sie diese nicht sehen können."
Ich erzählte Aidan, dass es sogar einen Schwarzmarkt für Dämonenbabys gab, was aus meiner Sicht noch viel verrückter und lebensmüder war, als ein „normaler" Babyschwarzmarkt. Als ob so etwas überhaupt normal war... Die Babys wurden entweder gestohlen, oder die schwangeren Mütter entführt und die Kinder aus deren Körper geschnitten. Damit ließ sich eine Menge Geld machen. Vermutlich mehr, als mit Drogen. Eltern, die aus irgendwelchen Gründen nicht legal adoptieren durften, kauften sich Babys. Und das zu verdammt hohen Preisen. Und Dämonenbabys waren noch viel kostspieliger.
„Mal abgesehen davon, dass das absolut grausam und abartig ist, aber wer würde denn ein Dämonenbaby adoptieren wollen?"
„Kranke, reiche Leute", antwortete ich schulterzuckend. „Wie gesagt: Diese Kinder können übernatürliche Fähigkeiten haben, und sind oftmals unverwundbar. Wer hätte nicht gerne ein Kind, mit Superkräften? Ein Kind, das nie an Krebs erkranken wird. Ein Kind, das man sorglos großziehen kann."
Zwischen uns herrschte wieder Stille. Wir lagen lange einfach nur auf dem Bett, und starrten an die Decke, als würden wir etwas Schönes, wie Sterne, betrachten, und nicht so etwas Ekliges, wie Spinnweben, die durch den Staub ganz schwarz waren.
„Denkst du Addie schafft das?", fragte Aidan irgendwann in die Stille hinein. Ich drehte meinen Kopf zu ihm, aber er blieb regungslos liegen.
„Es ist wie ein Spiel", erwiderte ich leise. „Entweder du kontrollierst die Schatten, oder die Schatten kontrollieren dich."
„Und du? Kontrollierst du die Schatten?"
Ich richtete meinen Blick wieder an die Decke. „Manchmal denke ich das."
~~ ~~
Noch am selben Abend beschlossen Aidan und ich, zurück nach Fresno zu fahren. Was geschehen war, war geschehen, und Addie und Trev wollten ihre Reise zum Grand Canyon weiter führen. Trotzdem waren sie drei Tage früher als geplant wieder zurück, weil Trev für die erste anstehende Prüfung lernen musste, und Addie ebenfalls Zeitdruck in ihrem Studium bekam. Trev setzte Addie zu Hause ab, und fuhr direkt weiter nach Stanford. Sie schien das allerdings nicht zu stören. Sie hatte ein wenig Farbe bekommen, und erzählte mir und Aidan aufgeregt von dem Trip. Es war wohl doch die richtige Entscheidung gewesen, sie und Trev alleine losziehen zu lassen, obwohl ich meine Bedenken gehabt hatte. Aber es hatte ihr gut getan. Über ihre Vision und den kleinen Jungen, verlor sie kein Wort mehr. Sie redete auch nicht mit Aidan über ihr Baby, aber ich hatte das Gefühl, dass es ihr unfassbar guttat, zu wissen, dass ihr Bruder davon wusste, und sie nicht dafür verurteilte, und auch nicht dazu drängte, darüber zu reden.
Nicht nur meine Halskette hatte ich Addie überlassen (die laut ihr, kein bisschen zu den Ringen passte, die sie jeden Tag trug. Als hätte eine unglückliche Kombination von Schmuck einen Einfluss auf ihr Auftreten oder Erscheinungsbild gehabt.). Sobald sie zurückgekommen war, hatte ich ihr das Tagebuch von Iona Brooklynn in die Hand gedrückt, das praktisch ein Handbuch für herangehende Dämonenbesitzer war, und so lange ich nicht wusste, was es damit auf sich hatte, konnte Addie es ruhig lesen. Ohne den Adler um meinen Hals fühlte, ich mich nackt, aber ich hatte die Kontrolle über meinen Dämon kein Stück verloren. Entweder benahm er sich momentan einfach anständig, oder ich war stärker, als gedacht.
Es gab immer noch zu viele offene Fragen, aber die ganze Sache mit Addie, nahm meine gesamte Zeit in Anspruch, sodass ich keinen Nerv dafür hatte, den Antworten hinterher zu laufen. Abgesehen davon, war ich mir sicher, das Gesamtpaket an Antworten, drei Türen weiter wohnen zu haben. Ein sehr schweigsames Antwortenpaket, das selten zu Hause war, sodass ich es nicht abfangen, und zur Rede stellen konnte. Connor, Felicity, Project Salvation, der Salvation Vertrag, wer mein Dämon war, warum eine Hexe ein Tagebuch über Dämonen schrieb... Ich war mir sicher, dass Chase mir all diese Unklarheiten hätte beantworten können. Ob er es tun würde, war eine andere Frage. Ich wusste nicht, was er den lieben langen Tag so anstellte, jetzt da er seinen Freunden den Rücken zukehrte, und seine Freunde ihm die kalte Schulter zeigten, aber etwas sagte mir, dass er viel Zeit bei Trish verbrachte. Sie schien jedenfalls immer ganz genau zu wissen, wo er war, wenn sie uns besuchte, und Addie sich möglichst beiläufig nach ihm erkundete. Chase war ihr nicht gleichgültig. Aber je länger zwischen den beiden Stillschweigen herrschte, desto enttäuschter wurde Addie, auch, wenn sie es zu verstecken versuchte. Sie war dabei, ihren besten Freund zu verlieren. Das würde wohl niemanden kalt lassen.
Es war Freitagabend, und Addie war bereits aufgebrochen, in Minirock und High Heels, um ihre Schicht im Myway in Angriff zu nehmen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, sogar ein viel zu knappes, fast schon billiges und zu gewollt wirkendes Outfit, stilvoll, anstatt schlampig wirken zu lassen. Lag es an ihrem hübschen Gesicht? An ihren langen Locken? An ihren grünen Unschuldsaugen? Ich hätte mit dem Outfit auf den Strich gehen, und Addie auf einer Cocktailparty für Millionäre kellnern können.
Aidan war noch bei einem Studienkollegen, weil er sich ein paar Bücher für seine Wiederholungsprüfung ausleihen wollte. Meine Versuche, herauszufinden, ob dieser Kollege männlich oder weiblich war, waren vermutlich ziemlich offensichtlich gewesen, aber ich hatte eine zufriedenstellende Antwort erhalten.
Die Wohnung war wie ausgeflogen, und ich war froh, endlich wieder etwas Zeit zum Zeichnen zu finden. Seit einigen Tagen hatte ich diese Unruhe in mir verspürt. Andere Leute schrieben Tagebuch, rannten zehn Mal um den Block, oder verarbeiteten ihre Gedanken und Gefühle mit Hilfe von Musik. Ich musste zeichnen. Ich war so vertieft, dass ich gar nicht mitbekam, wie Aidan die Wohnung betrat. Ich bemerkte ihn erst, als er plötzlich hinter mir stand, sich über die Lehne der Couch beugte, und eine Begrüßung in mein Ohr flüsterte. Erschrocken fuhr ich hoch, und klappte meine Zeichenmappe instinktiv zu. Ich wusste, dass er seine Augen von meiner Zeichnung ferngehalten hatte, weil er wusste, wie wichtig mir meine Privatsphäre in diesem Punkt war, aber ich war erschrocken. Und ihn über meine verschreckte Reaktion lächeln zu sehen, ließ mein Herz noch mal schneller schlagen, als von dem kleinen Herzinfarkt eben.
„Seit wann so schreckhaft?" Er ging in sein Zimmer, und ließ die Türe einen Spaltbreit offen, gerade so, dass ich noch hineinsehen konnte. Er zog sich das T-Shirt über den Kopf und nahm ein anderes aus dem Schrank. Mir war klar, dass ich mich eigentlich hätte meiner Zeichnung zuwenden sollen, aber ich hatte noch nie so viel von Aidan's Haut auf einmal gesehen, und mir stockte der Atem. Mein Herz begann wieder zu flattern, und mein Mund wurde trocken, während ich mit meinen Augen die Linie, die sich über seinem Rücken zog, verfolgte, meinen Blick über seine Schultern gleiten ließ, über die trainierten Arme bis zu den Händen, die begannen ein neues Shirt auseinanderzufalten. Ich versuchte mich so unauffällig wie möglich zu räuspern, und setzte mich wieder auf die Couch.
„Seit du dich so anschleichst." Hoffentlich hatte Aidan nicht gemerkt, dass meine Stimmlage dezent verrutscht war.
Er drehte sich zu mir, öffnete die Türe etwas mehr und sah mich amüsiert an, woraufhin ich schnell den Blick abwandte, und vorgab, meine Zeichnungen gerader zu stapeln, obwohl sie nicht perfekter übereinander hätten liegen können.
„Ich hab mich nicht angeschlichen." Er zog sich das schwarze T-Shirt über den Kopf, und kam aus seinem Zimmer, schloss die Türe hinter sich, und ließ sich dann auf der anderen Seite des Sofas fallen. Er respektierte meinen Wunsch, niemandem zu zeigen, was ich zeichnete, und versuchte auch nie, es herauszufinden. „Ich hab sogar unfassbar viel Lärm gemacht, nur warst du zu vertieft ins Zeichnen." Ich setzte mich im Schneidersitz hin, und richtete mich ein wenig auf, bevor ich meine Zeichenmappe neben mich auf die Couch legte.
„Hast du alle Bücher bekommen, die du brauchst?", erkundigte ich mich, weil ich seinen nackten Oberkörper bei Gott nicht aus meinen Gedanken verscheuchen konnte. Mein Dämon bemerkte das auch, und sprang ungeduldig auf dem Couchtisch umher.
Aidan angelte nach seinem Rucksack, den er neben dem Küchentisch fallengelassen hatte. „Ja." Er zog ein recht großes, dünnes Buch, und zwei kleinere, wesentlich dickere Bücher heraus.
„Viel Spaß", schnaubte ich, als ich daran dachte, dass Addie eine solche Seitenzahl in Null Komma Nichts ausgelesen hätte, und Aidan vermutlich Tage brauchen würde. Er beugte sich zu dem Couchtisch hin, und legte die Bücher darauf ab, woraufhin mein Dämon empörte Geräusche von sich gab, und ein Stück zur Seite krabbelte, weil Aidan keine Rücksicht auf seinen Sitzplatz genommen hatte. Ich rollte mit den Augen, bevor Aidan sich wieder in seine ursprüngliche Position begab und zu meiner Mappe nickte. „Was hast du gezeichnet, als ich mich angeblich in die Wohnung geschlichen habe?" Es war schon spät, fast zwei, die Zeit war beim Zeichnen ziemlich schnell verflogen. Ich hatte an meiner dritten Zeichnung gearbeitet. Die ersten beiden hatten mit Addie's Vision zu tun gehabt. Und eben zauberte sich ein Bild aufs Papier, das ich noch nicht so recht identifizieren konnte, aber ich hatte den starken Verdacht, dass Aidan und ich uns darauf küssen würden. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Aber dadurch, dass nur das Licht über der Spüle brannte, konnte Aidan die Röte in meinem Gesicht nicht sehen.
„Menschen", wich ich seiner Frage aus.
„Was für Menschen?"
„Einfach Menschen." Ich sah ein wenig verlegen zur Seite. In letzter Zeit hatte ich mich öfter bei dem Gedanken erwischt, wie es wohl sein würde, Aidan an manchen Zeichnungen teilhaben zu lassen. Wie würde er reagieren? Würde er denken, dass ich einen an der Klatsche hatte? Würde er es unheimlich finden, dass ich so ziemlich alle Personen gezeichnet hatte, die mir je untergekommen waren, und ihn ungefähr in zwanzigfacher Ausführung? Würde er meine Bilder als Krakelei bezeichnen? Ich hatte meine Zeichnungen nie jemandem gezeigt. Für meine Begriffe, war ich nicht völlig talentfrei, aber ich wusste nicht, wie andere das sehen würden. Der Gedanke, Aidan ein paar meiner Zeichnungen zu zeigen, war jedoch gleichzeitig so befremdlich gewesen, dass ich ihn nie weiter verfolgt hatte. Aber mittlerweile war es wieder spät, und nachts kam ich immer auf die besten dummen Ideen. „Ich zeichne gerne Menschen... Menschen, die ich kenne."
„Hast du mich schon einmal gezeichnet?" Ein fast neckendes Lächeln umspielte seine Lippen. Einmal?
„Hast du schon mal eine Prüfung verhauen?"
„Einmal?", grinste er. „Du hast mich gezeichnet." Es war eine Feststellung, aber er schien sich dabei nicht unwohl zu fühlen, und er brachte mich auch nicht in Verlegenheit. Trotzdem verspürte ich den Drang, mich erklären zu müssen. Schnell.
„Ich zeichne alle Menschen, hab ich doch gesagt." Ich versuchte es mit einem unsicheren Schulterzucken abzutun, aber ich war mir sicher, dass Aidan mich durchschaute, auch wenn er sich nichts anmerken ließ.
„Addie?" Ich nickte. „Trev?" Ich nickte. „Sogar Chase?" Ich dachte kurz nach, bevor ich wieder nickte. Eine Person zu zeichnen, kostete mich, je nach Aufwand und Lust zwei bis fünf Stunden. Ich hatte Chase in Modoc gezeichnet, als ich ihn noch als Kober gekannt hatte. Damals hatte ich mehr Zeit zum Zeichnen gehabt.
„Zeigst du es mir?" Die Frage kam überraschend. Das hatte er nämlich noch nie gefragt. Allerdings hätte ich einen Unterton erwartet, der ein bisschen nach: Du hast mich gezeichnet, ich habe ein Recht darauf, das Bild zu sehen, klang. Aber es war eine ganz normale Frage gewesen. Kein Unterton, vermutlich nicht einmal ein Hintergedanke. Und genau das ließ mich schwach werden.
„Ich weiß nicht." Ich betrachtete Aidan grübelnd. „Ich habe meine Zeichnungen noch nie jemandem gezeigt." Ich habe vor dir auch noch nie darüber nachgedacht, es zu tun.
Aidan nickte. „Ich weiß, kein Stress. Du musst nicht, ich hab mich nur gefragt. Ich bin neugierig, wie gut du mich getroffen hast." Jetzt war sein Lächeln eindeutig neckend. Ich zeigte mit dem Zeigefinger auf ihn.
„Willst du mir unterstellen, ich kann nicht zeichnen?" Eingeschnappt stieß ich den Atem aus. „Dein Gesicht zu zeichnen, ist babyleicht. Jeder Vollkoffer würde das hinbekommen." Aidan zog amüsiert die Augenbrauen hoch. „Da ist gar nichts Besonderes dran. Es ist langweilig. Zwei Punkte, ein paar Striche, ein Kreis. Fertig." Ich verschränkte beleidigt die Arme, und Aidan begann zu lachen.
„Ich bin also ein Strichmännchen?" Ich betrachtete ihn eingehend, und tat so, als würde ich ihn in Gedanken mit einem Strichmännlein vergleichen. Natürlich konnte ihm ein Strichmännchen nicht das Wasser reichen, auf keinen Fall. Aber Aidan war viel zu amüsiert über die Situation, als dass ich sie hätte beenden wollen.
„Wenn, dann bist du ein ziemlich gut aussehendes Strichmännchen." Die Worte hatten meinen Mund verlassen, noch bevor ich sie durch die Zensur hätte schicken können. Aber jetzt war es zu spät. Zurück nehmen konnte ich sie nicht mehr. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich sie auch gar nicht zurücknehmen. Trotzdem verfluchte ich mich in diesem Augenblick.
Seit unserem Kuss (oder meinem Kuss, besser gesagt) hatte ich Angst. Angst etwas zu sagen, oder zu tun, das Aidan irgendwie verschrecken würde, weil er nicht dasselbe fühlte, das ich fühlte. Es waren lächerliche Gedanken. Er hatte sich bis jetzt nicht von mir abgeschirmt, warum hätte er es jetzt tun sollen? Trotzdem konnte ich diese Ängste nicht einfach verscheuchen, wie Raben von einem Baum.
„Ich würde das gutaussehende Strichmännchen gerne mal sehen", meinte er schließlich. Sein Blick hatte eine Ernsthaftigkeit angenommen, aber er lächelte mich immer noch an. Es war keine Wenn-du-es-nicht-tust-dann... Situation. Auf so ein Spielchen wäre ich auch nicht eingegangen. Ich hielt seinem Blick lange stand. Wenn ich den Kopf geschüttelt hätte, hätte Aidan das Thema wohl fallengelassen, und auch nicht weiter gefragt. Und genau aus diesem Grund griff ich schließlich zögerlich nach meiner Mappe, zog meine Beine an, und legte sie darauf ab, um sie leichter durchstöbern zu können. Nicht, dass ich nach den Zeichnungen hätte suchen müssen. Ich wusste genau, wo sich alle Bilder von Aidan befanden. Nur war ich mir unsicher, welches ich ihm zeigen sollte. Er musste schließlich nicht wissen, dass ich eine Galerie mit Zeichnungen von ihm hätte eröffnen können. Ich blätterte die Seiten durch, wobei ich Aidan immer wieder Blicke über den Rand meiner Mappe zuwarf. Er sah mich geduldig, und vielleicht auch ein bisschen überrascht an, dass ich tatsächlich bereit dazu war. Ich glaubte ja selbst kaum, was ich da tat. Aber es war nur eine Zeichnung von Aidan, keine meiner Erinnerungen. Und irgendwie hatte er ja doch ein Recht auf sie, oder? Ich entschied mich für die allererste Zeichnung, weil ich damals meine ersten Eindrücke aufs Papier gebracht hatte. Ich zog sie zwischen den anderen Seiten hervor, und betrachtete sie selbst noch einen Moment. Für einen Außenstehenden hätten sich die Zeichnungen von jetzt und damals, wohl nur minimal voneinander unterschieden. Aber ich sah, dass ganze Welten zwischen den beiden Aidans lagen. Ich hatte ihn über die Zeit einfach anders dargestellt, nur bezweifelte ich, dass Aidan das überhaupt auffallen würde, also atmete ich durch, und hielt ihm das Blatt verdeckt hin. Sein Blick fragte mich noch einmal, ob ich mir sicher war, und ich nickte flüchtig. Er sollte es endlich annehmen, bevor ich es mir noch anders überlegen würde. Scheinbar langsam griff er nach der Zeichnung, und ich ließ ein Stück meiner Welt los, um sie mit Aidan zu teilen.
Was machst du da bloß, Beverly? Hast du dir nicht geschworen, niemandem jemals deine Zeichnungen zu zeigen? Egal, welche?
Aidan hielt die Zeichnung noch einen Moment umgedreht in den Händen. Vielleicht war er sich nun doch unsicher, oder er überlegte, was ihn erwarten würde. Eine Blümchenwiese würde er jedenfalls nicht vorfinden. Er drehte das Blatt herum, und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich augenblicklich in Überraschung und Anerkennung.
„Oh, wow", entfuhr es ihm. Sein Blick glitt über die Zeichnung, erst recht oberflächlich, aber je länger er auf das Papier sah, desto eingehender schien er die Zeichnung zu betrachten. War es möglich, dass er sie genauso sah, wie ich es tat? Ich war mir nicht ganz sicher, was seine Reaktion zu bedeuten hatte, aber abgeschreckt hatte ihn das Bild nicht. „Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass du so talentiert bist." Seinem Tonfall entnahm ich, dass er das keineswegs beleidigend gemeint hatte, sondern wirklich überrascht war. Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Komplimente zu erhalten, insbesondere für meine Zeichnungen, war neues Terrain für mich.
„Danke", lächelte ich, fast schüchtern. Ganz wohl fühlte ich mich immer noch nicht, aber Aidan wirkte wirklich beeindruckt, und es schien ihn nicht zu stören, dass ich ihn gezeichnet hatte. Vielleicht, weil er nicht weiß, dass du ihn wie eine psychopathische Stalkerin etwa zwanzig Mal gezeichnet hast. Er sah mich an.
„Ich will den Bogen wirklich nicht überspannen, aber kann ich die Zeichnung von Addie sehen?" Diesmal war ich mutiger, und musste auch nicht allzu lange nachdenken. Ich griff wieder nach meiner Mappe, und suchte die erste Zeichnung von Addie heraus. Die, bei der ich ihre Augen stechend grün gezeichnet hatte. Das Gefühl, das Aidan mir gab, dass ich jederzeit nein hätte sagen können, gab mir Sicherheit, und ich fühlte mich ein bisschen wohler dabei, ihm die Zeichnung von Addie zu geben. Sobald er sie in seinen Händen hielt stieß er ein kurzes, leises Lachen aus und nickte leicht. Er studierte das Bild mindestens so eingehend, wie das andere.
„Das ist..." Er suchte nach dem richtigen Wort. „Bemerkenswert."
„Ist doch nur Bleistift und Papier, das kann jeder, mit etwas Übung."
„Das meine ich nicht. Du zeichnest Menschen genauso wie sie sind. Es ist... Seltsam."
„Willst du mich beleidigen?" Ich musste lächeln, und Aidan schüttelte den Kopf.
„Kein Foto, das du von mir, oder Addie hättest schießen können, hätte uns so gut repräsentiert, wie diese Zeichnungen." Er gab mir die beiden Bilder zurück und sah mir in die Augen. „Ich weiß nicht, was es ist, aber du hast die außergewöhnlichste Art zu zeichnen, und Menschen abzubilden, die ich je gesehen habe. Und ich habe mir als Kind mit meiner Tante Kunstgalerie für Kunstgalerie ansehen müssen, ich weiß, wovon ich rede." Ich hatte gar nicht gewusst, dass Aidan's Tante Kunstfanatikerin war. Irgendwie schmeichelte es mir, dass Aidan diese Dinge sagte, und ich konnte hören, dass er sie absolut ernst meinte, obwohl er erst zwei Bilder gesehen hatte. In seinen Augen lagen eindeutig der Wunsch und die Neugier, noch mehr Zeichnungen zu sehen, aber er fragte nicht. Ich verstaute die Bilder wieder zwischen den Seiten der anderen Zeichnungen, und legte die Mappe auf den Boden.
„Du hast Talent."
„Meine Geheimnisse werde ich dir trotzdem nicht zeigen", meinte ich schmunzelnd.
„Das will ich auch nicht", gab er mit ernstem Blick zurück. Das konnte er sich doch selbst nicht abkaufen. Ich sah ihm doch an, wie er von der Neugier zerfressen wurde. „Ich will nicht, dass du mir etwas aus deiner Vergangenheit oder deinem Leben zeigst, wenn du nicht möchtest." Zum Glück saß ich. Ich konnte nämlich förmlich spüren, wie ich das Vertrauen in meine, sonst recht stabilen, Knie verlor. Was war nur los mit mir? Er hatte doch nur gesagt, dass er mich zu nichts drängen würde...
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber ich würde trotzdem gerne wissen, wie du das hinbekommst." Er griff nach seinem Notizblock und einem Bleistift, und begann darauf etwas herumzukritzeln, wobei er den Block so hielt, dass ich sein Tun nicht beobachten konnte. „Wenn ich nämlich versuche einen Menschen zu zeichnen", begann er, nach einer Minute, und drehte den Block zu mir. „Dann sieht es so aus." Ich betrachtete sein Kunstwerk und musste lachen.
„Was soll das sein?", brachte ich unter Lachen hervor, und betrachtete den, mehr oder weniger runden, Kreis, mit Punkten und Strichen darin. Aidan drehte den Block gespielt beleidigt wieder um, und betrachtete die Linien, als würde er meine Belustigung nicht nachvollziehen können.
„Selbstportrait."
„Hast du vielleicht irgendwelche Komplexe?" Jetzt musste auch Aidan lachen. Ich nahm ihm den Block, immer noch kichernd, aus der Hand, und nickte. „Ja... das hat... gewisse Ähnlichkeit..." ...mit einer Kartoffel. „Aber du kannst doch von einer Einminutenzeichnung keine Mona Lisa erwarten."
„Glaub mir, wenn ich sage, dass es im Laufe des Prozesses nicht besser werden wird." Ich hatte bestimmt schon über hundert Zeichnungen in meiner Mappe, weshalb sie auch ziemlich schwer war. Aber wenn ich mir Aidan's „Zeichnung" ansah, wurden mir drei Dinge bewusst. Erstens: Ich hatte Talent. Zweitens: Aidan nicht. Und drittens: Ich hatte mich noch nie selbst gezeichnet. Fertigten nicht alle Künstler früher oder später ein Selbstportrait an? Ich fragte Aidan nach seiner Meinung dazu, und er meinte, dass es auf jeden Fall Zeit wurde, ein Selbstportrait zu zeichnen.
„Und dann schenkst du es mir", grinste er. Ich stieß amüsiert den Atem aus. Ich bezweifelte, dass ich mich selbst auch nur annähernd so gut treffen würde, wie andere Menschen. Aus irgendeinem Grund konnte ich andere Menschen besser einschätzen und abbilden, als mich selbst. Aber dass Aidan eine Zeichnung von mir wollte, setzte meinem Herz zu.
„Vielleicht irgendwann", gab ich zurück, und zog meine Mappe hervor. „Jetzt müssen wir erst einmal den Schlamassel, den du verzapft hast, gerade biegen." Ich zog ein leeres Blatt hervor, und die Bleistifte, mit denen ich mich am wohlsten fühlte. „Du kannst nicht auf kariertem Papier zeichnen, das ist ein Verbrechen." Und darauf folgte eine kleine Zeichenstunde. Das Meiste, das ich über das Zeichnen wusste, hatte ich mir selbst beigebracht, und durch eigene Fehler und Erfolge gelernt. Die Theorie hatte ich schon als Kind in der Schule intus gehabt, und später war es mir von meiner Hauslehrerin erneut eingetrichtert worden, aber die Praxis hatte ich selbst erlernt.
Aidan zu erklären, wie ich Gesichter zeichnete, und worauf ich achten musste, war eine willkommene Ausrede gewesen, um ganz dicht an ihn heranzurücken, und ab und zu Stellen in seinem Gesicht zu berühren, als ob er nicht gewusst hätte, was ein Wangenknochen ist, wenn ich ihn nicht mit meinem Finger entlanggefahren wäre. Er störte sich nicht daran. Ich bemerkte, dass er mich öfter ansah, als die Zeichnung, aber auch mir machte es nichts aus, dass er mir mehr Aufmerksamkeit schenkte, als dem eigentlichen Thema. Es führte lediglich dazu, dass ich mir all meiner Bewegungen mehr als bewusst war, vermutlich bewusster, als Aidan. Meine rechte Hand zitterte ein wenig, also verblendete ich die Linien so oft ich konnte, um davon abzulenken.
Vermutlich ließ ich meine Finger viel öfter über sein Gesicht gleiten, als es nötig gewesen wäre, aber seine Haut fühlte sich unter meinen Fingerspitzen zu gut an, als dass ich hätte aufhören können. Er hatte sich heute Morgen nicht rasiert, entweder, weil er ein fauler Sack war, heute zu spät aufgestanden war, oder wusste, dass der Bartschatten seinen Kiefer unfassbar gut betonte. Ich strich über seinen Haaransatz, seine Schläfen, seine Wangenknochen, sein Kinn, und versuchte alles so abzutun, als wäre es von höchster Bedeutung, um ihm meine Schritte zu erklären, während mein Herz wie wild gegen meine Brust hämmerte, und ich es kaum wagte zu atmen. Ich mochte sein Gesicht. Es war nicht langweilig, wie ich vorhin gelogen hatte. Es hatte etwas ganz Besonderes, das ich nicht beschreiben konnte. Sein Blick traf meinen, gerade, als ich meine Finger von seiner Wange nehmen wollte, um es nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Seine Augen wurden eine Spur dunkler. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mehr wollte, als dieses Gesicht und diese Lippen bloß zu zeichnen.
Nacht, ich verfluche dich!
Ohne weiter großartig nachzudenken, glitt meine Hand in seinen Nacken, ich beugte mich die wenigen Zentimeter, die noch zwischen uns lagen, zu ihm, und legte meine Lippen auf seine. Diesmal zog ich mich nicht sofort zurück, sondern wartete auf eine Reaktion, und es brauchte nur eine Sekunde, bis er den Kuss erwiderte, und ein unfassbar wohlig, warmes Gefühl durch jede Ader meines Körpers strömte. Ich wusste zum ersten Mal, was es bedeutete, Schmetterlinge im Bauch zu haben -keine Hornissen- und das, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht hätte küssen dürfen. Mein Dämon gab ein unmissverständliches Knurren von sich, und ich zog tatsächlich für einen Moment in Erwägung, den Kuss zu unterbrechen, und meinen Plan mit Norwegen in die Tat umzusetzen, bevor es zu spät sein würde. Aber andererseits, fühlte sich dieser Kuss so viel besser an, als alles, was ich in meinem Leben bisher erlebt hatte. Besser, als jeder Kuss, den ich mit Anthony jemals hätte haben können.
Ich spürte die Unsicherheit in unserem Kuss. Seine, meine, und nicht ganz zufällig hockte ein Dämon neben mir, der mich anstarrte und nervöser machte, als ich es ohnehin schon war. Meine Hand berührte Aidan's Haut so federleicht, wie sich der Kuss anfühlte. Das Problem war nicht, dass ich mich nicht getraut hätte ihn so zu küssen, und an mich zu drücken, wie ich es in meiner Vorstellung getan hätte. Das Problem war, dass ich Angst davor hatte, die Kontrolle über mein Handeln zu verlieren. Über meine Entscheidungsfreiheit. Und an erster Stelle: über meine Gefühle, die mich zu kontrollieren schienen, anstatt anders herum.
Anthony zu küssen, war eine ganz andere Sache gewesen. Wir waren seit unserer Kindheit befreundet gewesen, und er hatte meistens mich geküsst. Und Aidan... naja. Ich denke, ich muss die Unterschiede, und komplett verschiedenen Umstände, nicht aufzählen. Langsam löste ich mich von Aidan und öffnete meine Augen wieder. Wahrscheinlich hatte der Kuss nur wenige Sekunden gedauert, aber ich hatte jede davon so intensiv wahrgenommen, dass er mir wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen war. Meine Hand glitt von seinem Nacken zu seiner Schulter. Ich konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Überraschung war auf jeden Fall dabei. Vielleicht auch Unsicherheit, aber den größten Platz nahmen wahrscheinlich Erleichterung und Freude ein, obwohl er nicht lächelte.
Ich fragte mich was jetzt passieren würde, aber Aidan beantwortete meine unausgesprochene Frage, in dem nun er sich zu mir beugte und mich küsste. Meine Hände glitten wieder in seinen Nacken und fuhren durch seine Haare. Seine verdammt weichen Haare, die weder zu lang noch zu kurz waren. Viel zu lange hatte ich mich schon gefragt, wie es sich anfühlen würde, seine Haare anzufassen, die mein Dämon nicht tolerierte. Aidan nahm die Mappe von meinem Schoß, und ließ sie auf den Boden gleiten. Ich ließ mich auf den Rücken sinken, Aidan beugte sich über mich, und unsere Lippen verschmolzen wieder miteinander. Dieser Kuss (oder sollte ich sagen: diese Küsse?), war schon ein bisschen weniger zurückhaltend, als der vorhergegangene. Es überraschte mich ein wenig, dass ich mich kein bisschen unwohl fühlte. Immerhin waren Aidan und ich alleine in dieser Wohnung. Alles Mögliche hätte passieren können. Und ich war mir nicht so sicher, ob mein Dämon mich beschützt hätte, nachdem ich mich ihm in letzter Zeit so oft widersetzt hatte. Aber nein, es ging mir absolut wunderbar hier. Ein wenig Nervosität und Aufregung kitzelten meine Nerven, aber es war nichts, das ich als unangenehm abgestempelt hätte. Der Kuss war nicht drängend, gierig, oder wild. Aidan war immer noch sanft und vorsichtig und ich liebte es seine weichen Lippen auf meinen zu spüren. Ich hatte schon wieder jegliches Zeitgefühl verloren, als wir aufhörten uns zu küssen und seine Stirn auf meiner ruhte, während wir Luft holten. Mein Herz raste, als wäre ich einen Marathon gelaufen und genauso fühlte ich mich auch. Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Es war viel schöner, sie geschlossen zu halten und alles nur zu spüren und zu hören und zu riechen. Der weiche Untergrund auf dem ich lag. Sein warmer Atem der meine Lippen streifte. Mit einer Hand stützte er sich neben meinem Kopf ab, die andere lag an meiner Taille. Seine Stirn auf meiner ruhend. Lediglich das Geräusch unseres Atems, und das ferne Protestgeschrei meines Dämons. Meine Hände, die seinen Nacken und sein Gesicht streichelten. Der Geruch nach seinem Duschgel, seinem Shampoo, und der kleinen, aber feinen Note Aidan, brachte in mir den Wunsch hervor, mein Gesicht an seinen Hals zu drücken, und seinen Duft einzuatmen. Ich wollte, dass dieser Moment nie endete. Ich wollte all diese Gefühle in mir festhalten, weil ich Angst hatte, sie sonst nie wieder fühlen zu können. Und gleichzeitig wollte ich all diese Empfindungen wegdrücken, wegsperren, ihnen den Rücken zukehren, weil sie mir Angst machten. Gefühle machten verletzbar, und ich wusste nicht, wie viele Wunden ich noch hätte ertragen können.
Als ich es doch schaffte meine Augen zu öffnen, sah ich Zufriedenheit in seinen Augen. Mein Dämon blaffte mich böse an. Ich ließ seine Vorwürfe kurz über mich ergehen, bevor ich meine Lippen noch einmal auf Aidan's legte.
Plötzlich klingelte sein Handy in seiner Hosentasche. Erst ignorierte ich es, aber nach dem dritten Läuten, wollte ich danach greifen, weil Aidan keinerlei Anstalten machte, den Anruf entgegen zu nehmen.
„Lass es läuten", flüsterte er gegen meine Lippen. Jeglicher Widerspruch wurde buchstäblich weggeküsst, aber ein Fünkchen Verstand besaß ich immerhin noch. Ich legte meine Hände auf seine Brust und drückte ihn weit genug weg, dass seine Lippen meine nicht wieder berühren konnten, und ich ihm belehrend in die Augen schauen konnte, auch wenn ich ihm recht geben musste -ich hätte es selbst lieber läuten lassen.
„Wenn mitten in der Nacht jemand anruft, dann hat dieser jemand meistens einen guten Grund dafür."
Aidan sah mich beleidigt an, wie ein Kind, dem man den Schlecker weggenommen hat, richtete sich auf, und zog sein Telefon missmutig aus der Hosentasche.
„Wehe, wenn keiner gestorben ist", grummelte er, was mich zum Lachen brachte. Er wollte das hier. Er wollte es genau so sehr, wie ich. Den giftigen Blick von meinem Dämon ignorierte ich gekonnt. Ich setzte mich ebenfalls auf und fuhr mir ein paar Mal durch die Haare, weil sie vom Wälzen auf der Couch bestimmt total durcheinander waren.
Das Klingeln hatte aufgehört, aber als Aidan nachsah, wer ihn angerufen hatte, stutzte er, und prüfte Augenblicklich die Uhrzeit.
„Was ist?", fragte ich, und beugte mich vor, um ihm über die Schulter schauen zu können. Ein ungutes Gefühl breitete sich in mir aus. Aidan's Körperhaltung entnahm ich, dass seine Schwester nicht allzu oft um kurz nach vier Uhr morgens anrief.
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