50
Beverly
Kaffee war nun wirklich kein Ersatz für Alkohol. Er verschlimmerte meine Lage lediglich, denn ich war die Menge an Koffein nicht gewöhnt, und daher war ich aufgedreht, wie schon lange nicht mehr. Ich konnte meine überschüssige Energie nur nirgends so recht loswerden. Also hopste ich in alle Geschäfte, die ich finden konnte, und ging den Kassierern und Angestellten mit meiner Redseligkeit wohl gehörig auf den Keks. Das Ganze ging etwa eine Stunde so, bevor ich mich dazu entschloss, den armen Menschen nicht mehr die Ohren abzukauen, und in den Park ging, der etwa zehn Minuten vom Starbucks -meiner letzten Haltestelle- entfernt lag. Die Temperaturen in Fresno hatten über die letzten zwei Wochen beschlossen hinaufzuklettern, und es war fast immer warm und sonnig. So auch heute, also setzte ich mich mit meinem Chai Latte (der wohl nur deshalb aufs Haus gegangen war, damit ich aus dem Starbucks verschwand) auf eine Holzbank. Von dort aus konnte ich den kleinen See überblicken, und den Enten dabei zusehen, wie sie einander übers Wasser jagten, und ihre Köpfe untertauchten, um sich abzukühlen. Der Kies knirschte, wenn Menschen vorbeikamen, die Blätter raschelten im Wind, und das Brummen einiger Bienen, die ich nicht lokalisieren konnte, ergab mit den Schreien einiger Vögel eine angenehme Geräuschkulisse.
Mein Dämon kletterte neben mich. Es waren nicht viele Menschen auf dieser Seite des Seeufers, also konnte ich relativ ungestört mit ihm reden.
„Ich weiß nicht wovon du sprichst", sagte ich ausweichend, und trank einen Schluck Tee, als er mich fragte, was zum Teufel ich mir dabei gedacht hatte. Er murrte etwas Undeutliches. „Ich ziehe zumindest vor, es nicht zu wissen", lenkte ich ein. Ich wippte mit meinem Fuß unruhig auf und ab. Eine seltsame Unruhe lag wie ein Schleier über mir, aber ich versuchte es zu ignorieren.
„Toller Tag heute", seufzte ich zufrieden, und sah mich ein wenig um. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, lagen einige Leute im Gras auf ihren Badetüchern und sonnten sich, oder plantschten mit Luftmatratzen und Bällen im Wasser herum. „Wirklich. Das Wetter ist doch schön. Ich meine in Santa Barbara wäre es sicher schöner, aber das geht schon. Vielleicht schaffe ich es ja, ein bisschen Farbe zu bekommen, wenn ich hier in der Sonne sitzen bleibe. Ich bin ja fast durchsichtig." Er kletterte über die Lehne auf meine andere Seite, und stupste mich auffordernd an. „Ich will aber nicht zurück nach Santa Barbara." Er legte den Kopf schräg. „Das hat gar nichts mit Aidan zu tun." Er gab einen empörten Laut von sich. „Dass du Aidan nicht magst, hast du deutlich gemacht. Aber es geht gerade nicht um ihn. Ich meine, es ist doch alles gut zwischen uns." Wow. Nicht mal ich kaufte mir das ab. Es wurde wohl Zeit den Tatsachen in die Augen zu sehen.
Ich schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn. „Oh Gott, was hab ich getan?" Ich wirbelte zu meinem Dämon herum. „Habe ich das wirklich getan? War ich wirklich so dumm?" Er nickte bestätigend, und ich ließ mich kraftlos gegen die Holzbank sinken. Ich versuchte zu analysieren, wie es dazu hatte kommen können, dass ich Aidan geküsst hatte. Aidan! Geküsst!
Bei Tag hätte ich das sicher nicht getan. Jetzt verstand ich, was die Leute damit meinten, wenn sie sagten, dass die Nacht Menschen seltsame Dinge tun ließ. Das konnte ich nur bestätigen. Ich hatte schon halb geschlafen, meine Gedanken waren vernebelt gewesen, und Aidan hatte so gut gerochen. Es war wie ein Traum gewesen, in dem ich es einfach getan hatte. Auch jetzt fühlte es sich nicht an wie die Realität. Aber es war real. Und wie es das war. Ich hatte Aidan geküsst, und war eingeschlafen. Und er hatte kein Wort dazu gesagt.
Ich kam zu dem Schluss, dass er mich hassen musste.
An den heutigen Morgen wollte ich gar nicht zurück denken. Mein ganzer Körper erfüllte sich mit Scham, und ich wäre am liebsten im Boden versunken, wenn ich daran dachte. Wie sollte ich Aidan je wieder in die Augen schauen? Offensichtlich war ihm die ganze Situation ja genau so unangenehm, wie mir, obwohl es dafür keinen Grund gab. Ich hatte ihn geküsst, und ich bekam gerade einen Korb.
„Norwegen wäre doch ein nettes Plätzchen, um sich niederzulassen, was meinst du?" Vermutlich wollte Aidan mich einfach nie wieder sehen, um mir nicht ins Gesicht sagen zu müssen, dass er nicht an mir interessiert war. Warum war es so viel leichter gewesen Anthony zu küssen? Warum hatte ich mich bei Anthony sicher und frei gefühlt, und in Aidan's Gegenwart wie eine Gefangene in meinem eigenen Körper, den ich ganz offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle hatte?
Ich hätte fast meinen Chai Latte fallen gelassen, als mich eine Erkenntnis wie ein Schlag traf. „Ich bin verliebt in ihn", hauchte ich ungläubig. „Ich bin verliebt in ihn?!" Mein Dämon knurrte verärgert, und mir wurde klar, warum er Aidan nicht mochte. Ich rollte mit den Augen. „Mach dich nicht lächerlich, du weißt genauso gut wie ich, dass ich mich immer für dich entscheiden würde." Mehr oder weniger freiwillig, ergänzte ich in Gedanken.
So fühlte es sich also an, verliebt zu sein. Nicht gerade sehr reizvoll. Ich hatte keine Schmetterlinge im Bauch, wenn ich an Aidan dachte, sondern Hornissen, Wespen und Bienen, denn ich wusste, wie unfassbar falsch es war, mich zu verlieben, und wie furchtbar es in die Hose gehen würde. Aber zum Glück musste ich mir darüber keine Sorgen machen, zumindest hatte Aidan nicht den Anschein gemacht, ich hätte ihn für jede andere Frau verdorben.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. „Was soll ich jetzt machen?" Panisch setzte ich mich kerzengerade auf. „Ich kann nicht zurück, das geht nicht!" Als mein Dämon meinte, ich solle einfach in den Flieger steigen, und meinen Plan mit Norwegen in die Tat umsetzen, lachte ich auf. „Ja, das wäre Aidan bestimmt auch lieber." Wie hatte es nur so weit kommen können? Er war nur Rose Enkel gewesen, als wir uns kennengelernt hatten. Nur eine Verbindung zur Außenwelt, als ich in Modoc festgesessen hatte. Nur ein netter Typ, der mich für ein paar Tage bei sich hatte wohnen lassen. Nur jemand, dessen Schwester ich helfen wollte. Nur ein Bekannter. Nur ein Kerl, der mich für verrückt gehalten hatte, weil ich an Dämonen glaubte. Nur ein Freund. Es war doch nur ein flüchtiger Kuss gewesen, verdammt noch mal! Und jetzt war er die Person, in die ich mich verliebt hatte. Das war so nicht geplant gewesen.
Der zweite Vorschlag meines Dämons war genauso Bescheuert wie der erste. „Bist du wahnsinnig? Ich gehe doch nicht zu ihm, um darüber zu reden!" Bockig schüttelte ich den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust, und blieb sitzen. Stundenlang. Mein Chai Latte wurde kalt. Meine Haut rot. Aber ich blieb stur sitzen. Ohne ein weiteres Wort mit meinem Dämon zu wechseln. Passanten sahen mich verunsichert an, so grimmig wie ich dreinschaute, und mich keinen Millimeter rührte. Währenddessen überlegte ich mir hunderte Variationen, wie ein Gespräch mit Aidan ablaufen könnte und wie meine Reaktionen darauf würden sein müssen, damit er mich nicht hasste. Meine liebste Variante war:
„Aidan... Ich denke ich bin verliebt in dich." Dann ein Anflug seines niedlichen Lächelns. Er würde meine Hände nehmen, und mir sagen, dass er genauso empfand. Dann der Kuss. Der Vorhang fällt zu. Und sie lebten glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende.
Nur war das leider auch die Version, mit geringstem Wahrscheinlichkeitsgrad, also verabschiedete ich mich von ihr.
Ich fuhr mir durch die Haare. Jedes Mal wenn Aidan und ich einen Schritt nach vorne machten und ein Stück näher aufeinander zugingen, traten wir im nächsten Moment zwei Schritte zurück.
Als es langsam zu dämmern begann, wurde mir bewusst, dass ich nur das Unvermeidliche hinauszuzögern versuchte.
„Kannst du wenigsten den Sonnenbrand wegmachen?", seufzte ich. „Ich werde sowieso rot wie eine Tomate anlaufen, da brauch ich nicht schon so zur Türe reinkommen." Er meinte, ich hätte es eigentlich verdient gehabt, mich dieser Demütigung auszusetzen, aber er legte trotzdem seine Hand auf meinen Unterarm, und einige Sekunden später spürte ich die Kälte unter meiner Haut entlang kribbeln. Ich blieb noch ein paar Sekunden lang sitzen, bevor ich mich hochstemmte.
„Dann woll'n wir mal. Peinlicher als heute Morgen kann es ohnehin nicht mehr werden."
~~ ~~
„Fertig mit Ausreden überlegen, warum du Aidan geküsst hast?", fragte Chase, sobald ich die Wohnung betreten hatte. Er stand vor der Küchenzeile, und kramte in einer der Laden herum. Zum Glück war Aidan nicht im Wohnzimmer. Ich schlüpfte aus meiner Jacke.
„Ja, und meine Lieblingserklärung ist, dass du meinen Kopf einfach schon so oft gegen den Boden oder eine Wand geschlagen hast, dass ich schon ganz verwirrt bin und gar nicht mehr weiß, was ich tue."
Chase stieß ein amüsiertes Lachen aus. „Immer schön auf die Anderen schieben, richtig so."
„Wo ist Addie?", fragte ich dann, nachdem ich ihre Anwesenheit nicht spüren konnte.
„Auf dem Weg nach Vegas."
„Sie ist was?!"
„Spielst du Black Jack?" Ich sah ihn irritiert an.
„Was?"
„Oder Russisch Roulette? Hätte einen schönen Revolver, den ich dir an den Kopf halten könnte, voll mit Kugeln aus Dämonenglas."
Ich schüttelte den Kopf, und hob die Hand, um seine Mordfantasien zu unterbrechen. „Addie und Trev sind weg? Zusammen?"
„Ja. Er ist heute Morgen hier hereinspaziert, hätte sich fast mit mir geprügelt, und ist dann mit ihr nach Vegas. Oder zum Grand Canyon, ich hab nicht so genau zugehört." Wäre jetzt ein guter Zeitpunkt gewesen, Chase umzubringen?
„Damit ich das richtig verstehe", sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. „Du hast sie und Trev wegfahren lassen. Zusammen. Alleine. Während Addie genau Null Kontrolle über Vaya hat. Bist du eigentlich komplett geistesgestört?!" Chase drehte sich zu mir.
„Ich bin nicht Addie's Babysitter. Und auch nicht Trev's Bodyguard." Ich konnte im ersten Moment gar nicht darauf reagieren. Hätte ich meine beiden besten Freunde in so einer Situation gehen lassen? Niemals!
„Es wäre dir also egal, wenn den beiden etwas passiert." Ich stemmte die Hände in die Hüften. Er öffnete die Kühlschranktür und scannte den Inhalt mit seinen Blicken. „Ich weiß doch wozu Dämonen fähig sind. Ich habe es selbst erlebt."
„Ich bitte dich, komm mir bloß nicht mit der Mitleidsnummer. Die zieht vielleicht bei anderen, aber nicht bei mir." Sein Blick wurde wieder kalt. „Arme, kleine Beverly, wurde als Kind entführt. Das ist jetzt Jahre her, komm drüber hinweg, verdammt!" Ich wusste nicht, ob ich wütend, oder schockiert war. Er griff in den Kühlschrank, nahm eine Dose Bier heraus, und drückte die Türe wieder zu.
„Du... Du hast doch keine Ahnung wie das war", stotterte ich fassungslos. Er stieß verächtlich den Atem aus, und öffnete die Dose.
„Es gibt Menschen, die es schlimmer trifft. Du bist Millionärin, und hast dafür noch nicht einmal einen Finger gekrümmt! Kauf dir eine Insel, heul dort deine Bediensteten voll, wie schlimm deine Kindheit war, und hör auf mir auf den Sack zu gehen!" Mein Dämon knurrte. Dachte Chase wirklich, dass es so einfach wäre? Dass ich alles einfach so hätte hinter mir lassen konnte. Für einen Moment dachte ich sogar daran. Vielleicht hatte er recht, und ich war wirklich zu festgefahren in meiner Arme-Beverly-Rolle. Aber andererseits...
„Du hast doch keine Ahnung was passiert ist!", rief ich wütend. „Du hast gelesen was passiert ist, du hast gehört, was passiert ist. Aber wenn du auch nur ein Fünkchen Empathie hättest und für eine Sekunde nachempfinden könntest, was ich empfunden habe, dann-"
„Da redet ja die Richtige", entgegnete er kalt. „Du verurteilst doch selber alles und jeden um dich herum, ohne zu wissen was Sache ist." Es ging schon wieder um seine Schwester. Ich hatte eigentlich gehofft, wir hätten dieses Thema hinter uns lassen können, aber Chase würde mir wohl auf ewig vorhalten, dass ich ihm vor Augen geführt hatte, dass er seine Schwester getötet hatte. „Das was dir passiert ist, ist nur frühzeitiges Karma gewesen, dafür, dass du danach Menschen getötet hast", meinte er.
„Breaking News: Ich habe Menschen getötet wegen dem was mir passiert ist."
„Ach nein, wirklich? Meinst du sowas wie eine... wie nennt man es doch gleich... Kettenreaktion? Ein Schmetterlingseffekt? Bei dem ein Ereignis das nächste hervorruft?" Und wieder waren wir bei seiner Schwester. Unfassbar. Und ich sollte über meine Vergangenheit hinwegkommen?
Ich atmete durch, um mich ein bisschen zu beruhigen. „Es tut mir leid, dass das mit deiner Schwester so beschissen gelaufen ist, wirklich. Aber den Preis zahlt man nun einmal, wenn man ein Jäger ist."
Chase schnaubte, und führte die Bierdose an den Mund. „Ja, als hätte sie eine Wahl gehabt." Vermutlich nicht. Und Chase hatte sie bestimmt auch nicht gehabt. Aber mein Mitleid hielt sich in Grenzen.
Die Türe zu Aidan's Zimmer ging auf. Er musste uns reden (-netteres Synonym für schreien-) gehört haben.
Hat mein Herz gerade gestoppt? Verdammt, schlag weiter! Ich muss Aidan doch noch sagen, dass ich ihn mag!
Er blieb wie angewurzelt stehen, und sah zwischen mir und Chase hin und her, aber letztendlich blieb sein Blick an mir hängen. „Hey."
„Hey", gab ich zurück. Chase zog die Augenbrauen zusammen, und sah uns an.
„Hey? Das ist alles? Hey? Meine Fresse. Da sind ja meine Bettgespräche aufregender. Und ich rede von denen die nach dem Sex stattfinden, und die sind meistens langweilig."
Aidan sah ihn genervt an. „Danke, Chase, für deinen wertvollen Beitrag."
Er zuckte mit den Schultern. „Ich meine ja nur. Ihr seid immerhin erwachsen. Nicht, dass ich gutheißen würde, was auch immer da zwischen euch läuft." Und du dachtest, es kann nicht mehr peinlicher werden. Jetzt analysierte auch noch Chase die Lage, und erinnerte uns daran, dass er uns nicht zusammen sehen wollte. Toll. Wirklich toll. „Aber wenn ihr euch jetzt schon so anstellt, wie wird das erst am Morgen danach? Ich meine den richtigen Morgen danach."
„Bist du fertig?", fragte Aidan angestrengt. Chase schien zu überlegen.
„Nein, ich hab noch eine Frage." Aidan seufzte genervt und sah Chase abwartend an. „Wenn ich die Wohnung jetzt verlasse, damit ihr eure Münder auch mal zu was anderem benutzen könnt, als sie auf den Lippen des jeweils anderen auszuruhen" Würden meine Stoßgebete je erhört werden? „muss ich mir dann für heute Nacht eine andere Unterkunft suchen?" Mit Sicherheit nicht. Wahrscheinlich würde ich mir eine neue Unterkunft suchen müssen.
Chase grinste Aidan an. „Okay. Jetzt bin ich fertig." Er stieß sich von der Küchenzeile, kam zu mir herüber, nahm die Jacke vom Kleiderständer und warf sie sich über die Schulter. „Viel Spaß!", rief er noch, bevor er aus der Wohnung verschwand und die Türe hinter ihm ins Schloss fiel. Und schon war ich mit Aidan alleine. Wir standen uns eine Weile schweigend gegenüber, was nicht dazu beitrug, dass ich mich weniger unwohl fühlte.
„Können wir das bitte so kurz und schmerzlos wie möglich hinter uns bringen?", fragte ich schließlich ein klein wenig zerknirscht.
„Du nennst Chase' Anekdote über uns kurz und schmerzlos?"
„Touché."
Wir setzten uns auf die Couch, mit unnötig großem Abstand. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also wartete ich darauf, dass Aidan den ersten Schritt tat, bevor ich es wieder versauen würde.
„Warum hast du mich geküsst?", fragte er schließlich, nach einigen gestarteten Versuchen, etwas zu sagen. In meinem Gehirn fand ein Systemzusammenbruch statt. Aus irgendeinem Grund, war diese offensichtliche Frage kein Teil meiner vorbereiteten Gesprächsabläufe gewesen.
Weil ich in dich verliebt bin. Ich vermisste die Zeit, in der ich Aidan problemlos hatte in die Augen sehen können, ohne dabei zu überlegen, ob meine Haare richtig saßen, oder er den kleinen Pickel an meiner Schläfe bemerkte, der sich bei dem ganzen Stress in meinem Gesicht eingenistet hatte. Ich vermisste die Zeit, vor gestern Abend. Ich zuckte leicht mit den Schultern. „Weil ich es wollte?"
„War das eine Frage?" Er klang amüsiert.
„Ich weiß nicht, was du von mir hören willst."
„Ich will wissen, was das für dich bedeutet hat."
Dass ich in dich verliebt bin! "Ich weiß nicht genau..." Gott, warum konnte ich es nicht einfach sagen?! „Aber ich küsse Menschen nicht einfach so." Hilfreiche Information, Beverly. Aidan's Handy klingelte.
„Gott sei Dank!", entfuhr es mir, woraufhin Aidan lächeln musste. Er zog das Telefon aus seiner Hosentasche und nahm den Anruf entgegen.
„Ja?... Warte, Moment, langsam, was ist los?... Wieso, wo seid ihr?" Mit jeder Sekunde die verstrich, wurde Aidan's Stimme unruhiger. Er warf mir immer wieder besorgte Blicke zu, und ich schüttelte fragend den Kopf. „Das liegt fast vier Stunden entfernt... Ja, wir sind auf dem Weg." Wir? Er legte auf und sprang von der Couch um sich Schuhe und Jacke anzuziehen.
„Was ist los?"
„Wir müssen nach Barstow."
„Warum?"
„Weiß nicht, irgendetwas ist mit Addie." Das genügte mir, um nicht weiter auf dem Sofa herum zu sitzen, sondern mit Aidan nach unten zu seinem Auto zu laufen. Es war bereits dunkel, und die Straßenlaternen beleuchteten die engen Straßen, bis wir auf der Autobahn waren. Wir kamen schnell voran, weil um die Uhrzeit kaum noch jemand unterwegs war. Ich fragte Aidan mehrmals, was los war, aber er meinte immer wieder, dass Trev angerufen hatte, und beunruhigt unzusammenhängendes Zeug über Addie geredet hatte. Außerdem beschlossen wir in einer einminütigen Konversation, gefolgt von unangenehmem Schweigen, den Kuss einfach zu vergessen.
Wir erreichten Barstow in drei Stunden. Es erinnerte eher an einen Vorort, als an eine Stadt. Und nachts, glich dieser Ort einer Geisterstadt. Wir fuhren durch die breiten, weitläufigen, kaum beleuchteten Straßen. Die Stadt war wenig bebaut. Die Häuser waren niedrig, und man hätte tagsüber bestimmt weit sehen können. Bereits auf der Fahrt hier her, hatte ich bemerkt, dass wir uns ziemlich in Mitten einer Wüste befanden.
Aidan rief Trev noch einmal an, während wir schleichend durch die Straßen gondelten, weil wir das Motel, in dem er und Addie waren, nicht sofort finden konnten. Es war eine ziemliche Absteige. Das T in Motel leuchtete nicht annähernd so rot, wie seine Kollegen, und das kleine Gebäude, hätte dringend wieder gestrichen werden müssen. Die Farbe blätterte ab, die Fassade war schmutzig, und die Pflanzen in den Blumentöpfen links und rechts vom Eingang waren vertrocknet.
„Heimisch", murmelte Aidan. Die Holzdielen der Terrasse quietschten beunruhigend, als wir die Treppen zum Eingang hinaufgingen. Er hielt mir die Türe auf, und ich trat in das muffig riechende Foyer. Es schien farblos, und verraucht. Hinter der Rezeption saß eine alte Dame, mit weißem, schütterem Haar. Zwischen ihren Lippen steckte eine Zigarre und sie blätterte in einer Zeitung herum. Trev wartete auf uns, und das erste das Aidan sagte, war dasselbe, das mir durch den Kopf geisterte.
„Wenn ich die Wahl zwischen diesem Motel und meinem Auto hätte, was denkst du wie meine Entscheidung fallen würde?" Trev rollte mit den Augen.
„War nicht meine Idee. Und dieses Motel ist vertrauenserweckender, als das einzig andere hier."
„Was ist denn mit dem anderen, liegt es auf einem Friedhof?"
Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Ich hatte nicht gewusst, dass etwas staubig riechen konnte, aber dieses Motel roch nach Staub. Während ich hinter Trev her trottete, musste ich etwa drei Mal niesen. Vor einer heruntergekommenen Holztüre, mit einer aufgemalten sechzehn, blieb er stehen, und öffnete sie. Addie stand neben dem Fenster, und drehte sich um, als Aidan und ich das Zimmer betraten. Sie drückte sich ein Taschentuch gegen die Nase. Es war an einigen Stellen rot.
„Du sollst dich hinsetzen", sagte Trev genervt, und es klang so, als hätte er das schon hundert Mal gesagt.
„Mir geht es gut", entgegnete Addie mindestens genauso genervt.
„Oh ja, dir geht es blendend." Trev schloss die Türe hinter uns.
„Tut mir leid, dass ich euch hergeholt habe", sagte Addie, und sah erst Aidan und dann mich entschuldigend an. „Aber ich hatte einfach Panik."
„Schon okay", sagte ich. Ich war froh. Hätte sie Trev nicht gebeten Aidan anzurufen, würde ich vermutlich immer noch wie ein stummer Fisch neben ihm auf der Couch hocken, und die Worte Ich bin verliebt in dich, nicht über die Lippen bringen. Das Zimmer war winzig, und hatte gerade genügend Platz für ein Doppelbett, einen Spiegel, der gegenüber hing, einem winzigen Tisch mit zwei Stühlen, und einem vier Quadratmeter großem Bad. Ich mochte keine Hallen, wie bei mir zu Hause, aber in solchen Räumen wurde ich schnell klaustrophobisch. Zu lange hatte ich auf engem Raum meine Zeit verbracht. Ich stieg über drei Taschen hinweg, ging zu Addie hinüber, und öffnete das verdreckte Fenster, um mich nicht ganz so eingesperrt zu fühlen. Dann schob ich Addie sanft in Richtung Bett. Es war wirklich besser, sie würde sitzen, sonst würde sie womöglich umkippen. „Was ist passiert?"
„Mein Kopf wäre fast explodiert, das ist passiert", grummelte sie, und positionierte das Taschentuch neu.
„Hattest du wieder eine Vision?", fragte ich leise, weil ich mir nicht sicher war, ob Trev gleich wieder ausrasten würde. Aber zu meiner Überraschung tat er es nicht. Er stand mit verschränkten Armen an der Stelle, an der Addie vorhin noch gestanden hatte, und sah besorgt auf seine Freundin hinab.
Addie nickte. „Ich kann mich nur an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht mehr, was ich gesehen habe, aber irgendjemand wird doch sterben, oder? Ich muss doch wissen wer und wann und wo und wie, sonst ist es meine Schuld, dass-"
„Okay, ganz ruhig", unterbrach ich sie. „Also, erst Mal: Egal was passiert, es ist ganz sicher nicht deine Schuld. Was du siehst, kann passieren, muss aber nicht. Und es gibt keine Garantie, dass du es verhindern kannst." Ich rieb ihr beruhigend über die Arme und sie stieß erschöpft den Atem aus.
„Aber ich muss es doch zumindest versuchen!" Sie klang verzweifelt. „Es sterben Menschen!"
„Menschen sterben andauernd."
„Ja, aber ich kann es sehen. Ich kann es verhindern." Vermutlich wäre Addie's Gabe für sie leichter zu ertragen gewesen, wenn sie nicht hätte verhindern können, was sie sah. Dadurch, dass sie Trev vor dem Tod bewahrt hatte, fühlte sie sich natürlich auch für alle weiteren Tode verantwortlich, die sie sehen würde.
„Du willst es verhindern?"
„Das muss ich doch! Wenn ich schon an einen Dämon gebunden bin, dann kann ich doch wenigstens versuchen das Beste draus zu machen, oder?" Addie hatte das nicht verdient, um Himmels willen! Ich wollte ihr schon gar nicht mehr zuhören. Sie war viel zu gutherzig für diese Welt.
Als ich von Rose erfahren hatte, dass ich an einen Dämon gebunden war, hatte ich mich fünf Tage im Bett verkrochen und mich mit kleinen vorgetäuschten Wutausbrüchen von den Pflegern sedieren lassen, um den ganzen Mist zu vergessen. Und was machte Addie? Sie schüttelte den Staub aus ihrem Gefieder und wollte allen Ernstes etwas Gutes daraus machen. Anderen Menschen wäre das Schicksal fremder Menschen egal gewesen. Mir zum Beispiel. Wir würden alle irgendwann sterben, warum sollte jemand das Exklusivrecht auf ein längeres Leben haben? Unser aller Zeit war begrenzt.
Ich stieß angestrengt den Atem aus. Addie würde ohnehin lernen müssen, die Kontrolle über ihre Visionen zu erlangen, um ein Stück weit Kontrolle über Vaya zu bekommen, da konnte ich ihr auch gleich helfen. „Also gut. Versuch dich zu erinnern was du gesehen hast."
„Ich sagte doch schon, dass ich mich nicht erinnern kann."
„Wie sind deine Visionen aufgebaut?"
„Was meinst du?"
„Naja, siehst du die Dinge nur wie einen Film ablaufen, oder befindest du dich im Geschehen?"
Addie sah nachdenklich auf den Teppich, mit der scheußlich gelbbraunen Farbe. „Ich schätze, ich erlebe es einfach mit. Es ist nicht wie ein Film, aber ich kann auch nicht handeln, mich bewegen, oder irgendetwas tun."
„Okay, das ist gut."
„Warum ist das gut?"
„Weil du dich dann auf alle Sinne verlassen kannst, wenn du eine Vision hast."
Addie sah mich ungläubig an. „Ja klar, versuch du mal dich auf eine Vision zu konzentrieren und Details zu erfassen, während dir die Birne wegfliegt."
„Die Schmerzen lassen irgendwann nach", versicherte ich ihr, fast schon amüsiert.
„Es war hell", sagte sie dann. „Und laut."
„Da hast du's. Zwei Sinne abgedeckt", sagte ich zufrieden, woraufhin Addie den Kopf schräg legte.
„Es war warm, aber das ist alles was ich noch weiß." Sie klang mitgenommen und müde. „Wie spät ist es?"
Trev warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Fast Mitternacht."
Eigentlich hatten Aidan und ich wieder nach Hause fahren wollen, aber Addie heftete sich an meinen Unterarm, und begann zu flehen. Sie fürchtete, dass ihre Vision bald wahr werden würde, weil das letzte Mal auch nur wenige Stunden zwischen Vision und Realität gelegen hatten. Ich hatte zwar keine Ahnung, warum sie glaubte, dass ich alles daran setzen würde, ein Menschenleben zu retten, aber offenbar dachte sie, dass ich annähernd so viel Nächstenliebe besaß, wie sie. Was für Signale hatte ich denn gesendet, um diesen Eindruck zu erwecken?
Aber Addie konnte man nichts abschlagen. Also gingen Aidan und ich an die Rezeption, um uns ein Zimmer für eine Nacht geben zu lassen. Der Kasten, in dem die Zimmerschlüssel hingen, war fast vollständig gefüllt, was mich nicht wunderte. Ich bestand auf das Zimmer gegenüber von Trev und Addie, nur für den Fall der Fälle. Das Zimmer war genauso reizvoll, wie das andere, und ich überlegte ernsthaft, ob ich in Aidan's Auto nicht besser schlafen würde.
„Hast du vor mich wieder zu küssen?", fragte Aidan, leicht amüsiert, während er das Doppelbett musterte.
„Wir wollten das doch vergessen." Ich versetzte ihm einen leichten Schubs, und er lachte. Wenigstens nahm er es mit Humor. Ich wusste nur nicht, ob ich das gut finden sollte. Er sollte meinen Kuss ernst nehmen. Aber es war mir immer noch lieber, als wenn er mich ignoriert hätte. Wir warfen uns fast gleichzeitig auf das Bett. Müde lächelte er mich an, und ich versuchte es zu erwidern, musste aber gähnen. Wir murmelten beide ein Gute Nacht, und es dauerte nicht lange, bis ich einschlief.
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