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Aidan

Ich wünschte, ich wüsste wie ich gestern nach Hause gekommen war. Und ich wünschte, meine Schwester wäre so sozial gewesen und hätte mir ein Katerfrühstück gemacht. Aber als ich ins Wohnzimmer kam, lag sie gemütlich und faul mit Trev auf der Couch und sah fern. Ich ging in die Küche und setzte Wasser für einen extra starken Kaffee mit viel Zucker auf. Dann drehte ich mich verwundert zu Trev. War heute nicht irgendetwas?

„Hast du nicht heute diese Anwalts-Richter-Jura-Irgendwas Prüfung?" Mein Gehirn arbeitete noch nicht richtig. Vermutlich merkte man mir das an.

„LSAT", sagte Addie, ohne ihren Blick vom Fernseher zu nehmen.

„Ich hab den Test schon hinter mir." Ich sah Trev verwirrt an. „Wirf doch mal einen Blick auf die Uhr", schlug er amüsiert vor. Ich holte mein Handy aus meiner Hosentasche.

„Hoppla", war meine desinteressierte Antwort. Deshalb also kein Katerfrühstück. Es war fünf Uhr nachmittags. Da Trev einen recht entspannten Eindruck auf mich machte, gab ich mir gar nicht erst die Mühe, ihn zu fragen, wie es gelaufen war. Ich drehte mich wieder zur Kaffeemaschine und starrte sie an, als ob das irgendetwas daran ändern würde, dass ich locker noch zwei Minuten warten musste. Als der Kaffee endlich fertig war, goss ich ihn in eine große Tasse und verzog mich wieder auf mein Zimmer. Ich holte eine Packung Kopfschmerztabletten aus meiner obersten Schreibtischschublade und spülte zwei Tabletten mit Kaffee hinunter. Ich konnte von Glück reden, dass ich nur Kopfschmerzen hatte und mich nicht übergeben musste. Aber sobald ich über mein Glück nachdachte, wurde mir übel. Ich schob den Gedanken an Kotze beiseite und zog meine Unisachen heraus. Ich war mir sicher, dass ich jetzt nicht in der Lage war, irgendetwas für die Uni zu tun, aber ich wollte es zumindest versuchen. Ich hatte die letzten Tage so gut wie nichts getan und langsam überkam mich der Zeitdruck, denn die erste Prüfung stand bald an.

Ich schlug meine Bücher auf und versuchte mich zu konzentrieren, während ich Schluck für Schluck meine Kopfschmerzen wegtrank. Tatsächlich war ich in der Lage, zumindest ein kleines bisschen zu arbeiten. Ich kämpfte mich durch den Berg an Informationen und Mitschriften, die ich erst noch zuordnen musste. Und ich war sogar recht produktiv. Zu Anfang. Doch nach wenigen Minuten wanderten meine Gedanken wieder zu meiner Großmutter. 

Nein. Nicht zu ihr. 

Zu Beverly. 

Warum zur Hölle bekam ich sie nicht aus meinem Kopf? Je mehr ich es versuchte, desto weniger gelang es mir. Langsam aber sicher wurde es lächerlich! Ich kannte dieses Mädchen nicht, konnte aber nicht aufhören an sie zu denken.

Einige Augenblicke rang ich noch mit mir. Doch dann griff ich entschlossen nach meinem Autoschlüssel, zog mir die Schuhe an und streifte mir meine Jacke über.

„Wo willst du hin?", fragte Addie verwundert, als ich schon halb aus der Wohnung war. Ausrede. Jetzt!

„Ich muss was erledigen." Wirklich? Himmel, Aidan... Das kannst du doch besser. Aber bevor Addie nachhaken konnte, schloss ich die Türe hinter mir. Ich lief die Treppen nach unten und verließ das Gebäude. Mein etwas eingeschneites Auto stand direkt vor der Türe. Seufzend machte ich mich daran den Schnee von den Scheiben zu wischen. Dann schwang ich mich in den Wagen und startete den Motor. Während der Fahrt zu der Klinik musste ich mir eingestehen, wie ungeduldig ich war. Ich musste mich dazu zwingen, bei roten Ampeln stehen zu bleiben und nicht zu schnell zu fahren. Dabei erinnerte ich mich immer wieder daran, dass ich Beverly vielleicht gar nicht sehen würde. Ich konnte ja schlecht einfach in ihr Zimmer spazieren. Sie kannte mich nicht. Und selbst wenn ich ihr begegnen würde, was hätte ich ihr sagen wollen?

Aber auch nur der kleinste Funke Hoffnung, sie zu sehen, verbot mir umzukehren. Ich parkte mein Auto vor den großen Eisengittern, stieg hastig aus, eilte zum Eingang und drückte auf einen Knopf. Während ich ungeduldig darauf wartete, dass das Tor geöffnet wurde, überlegte ich mir eine plausible Ausrede dafür, dass ich meine Großmutter schon wieder besuchen wollte. Ich würde behaupten können, dass Addie ihre Schlüssel verloren hatte und ich für sie hier suchte. Mit etwas Glück würde mir Rose das sogar abkaufen.

Sobald ich in dem Gebäude war, machte ich mich auf den Weg zum Zimmer meiner Großmutter. Die Türe stand offen, aber sie war nicht da. Also ging ich in den Speisesaal. Ich fand sie in einer Ecke sitzen. Und obwohl ich auf ihren Tisch zusteuerte, sah ich mich die ganze Zeit nach Beverly um. Doch sie war nirgends zu sehen.

Meine Großmutter blickte auf und sah mich verwundert an. „Was machst du denn schon wieder hier?"

Ich wollte ihr die Lüge von Addies Schlüsseln auftischen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht. Eigentlich war ich kein schlechter Lügner. Aber heute fühlte ich mich so durchschaubar, wie eine frisch polierte Fensterscheibe. Also zuckte ich mit den Schultern und ließ mich auf dem Stuhl neben ihr nieder. Ein viel zu wissendes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du bist nicht wegen mir hier, nicht wahr?" Ich schüttelte den Kopf, und meine Großmutter lachte. „Was hat dieses Mädchen bloß mit dir angestellt?", fragte sie kopfschüttelnd. Wenn ich das gewusst hätte. Mir wäre es beinahe lieber gewesen, ich hätte sie nie gesehen. Dann würde ich jetzt nicht jede Sekunde darauf hoffen, ihr noch einmal über den Weg zu laufen.

„Ich weiß es nicht. Ich kann sie einfach nicht vergessen. Dabei habe ich noch nicht mal ein Wort mit ihr gewechselt. Ist das nicht verrückt?", fragte ich und stützte meinen Kopf auf meine Hände.

„Naja. Im Gegensatz zu deinem Großvater, glaube ich an Liebe auf den ersten Blick."

Ich schüttelte sofort den Kopf. An so etwas glaubte ich absolut nicht. Wie sollte das funktionieren? Liebe brauchte Jahre, um sich zu entwickeln. Man konnte eine Person nicht einfach sehen und sich verlieben. 

Trotzdem fand ich es mehr als merkwürdig, wie schwer es mir fiel, Beverly aus meinem Gedächtnis zu streichen. Aber vielleicht wollte ich es ja einfach nicht. Dabei war alles, das ich von ihr wusste, ihr Vorname, ihr Alter und die Tatsache, dass sie in einer Nervenheilanstalt saß. Das waren bestimmt nicht die besten Voraussetzungen für meine zukünftige Frau. Aber damit lässt sich durchaus arbeiten.

Meine Großmutter und ich machten uns auf den Weg in den großen Aufenthaltsraum, setzten uns dort an einen Tisch und sie versuchte mich abzulenken. Irgendwann kam ein Mann auf uns zu. Ein älterer Herr mit Brille und Strickpullover, der mich an meinen verstorbenen Großvater erinnerte.

„Dr. Kennedy", sagte meine Großmutter erfreut. Der Mann lächelte sie an.

„Guten Abend, Rose. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, als ich Sie beide hier entdeckt habe." Meine Großmutter zeigte auf mich.

„Das ist mein Enkel."

Der Arzt reichte mir die Hand und ich schüttelte sie. „Freut mich."

„Ich muss jetzt aber wirklich los", sagte Dr. Kennedy und sah sich beinahe unruhig um.

„Wozu die Eile?", fragte meine Großmutter. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie immer genau wusste, was los war. Auch jetzt. Der Arzt räusperte sich.

„Nun ja... ich denke, dass eine Person heute nicht gut auf mich zu sprechen ist."

Rosemary nickte grinsend. Sie wusste mit Sicherheit Bescheid, über was auch immer Dr. Kennedy eben gesprochen hatte. „Beverly ist eben kein Welpe, den man abrichten und erziehen kann." Ich sah zu meiner Großmutter. Sie sprach über Beverly! Ich wollte jedes noch so kleine Detail mitbekommen und in mein Gehirn einbrennen, auch wenn ich mir sagte, wie unfassbar lächerlich es war.

„Leider nicht", stimmte Dr. Kennedy zu. „Und momentan hasst sie mich vermutlich."

Meine Großmutter sah an dem Arzt vorbei zur Eingangstüre. Ihre Lippen verzogen sich zu einem amüsierten und gespannten Lächeln. „Das dürfte interessant werden." Dr. Kennedy und ich drehten uns gleichzeitig um.

Vielleicht sollte ich meiner Großmutter das mit der Liebe auf den ersten Blick doch abkaufen. Zumindest fühlte sich mein Herz an, als wollte es aus meiner Brust springen, Beverly an sich drücken und anflehen, zu bleiben. Ich hätte sie überall wiedererkannt, auch wenn ich sie gestern nur wenige Sekunden gesehen hatte. Es kam mir fast so vor, als wäre sie seit gestern um ein Vielfaches schöner geworden, dabei sah sie wahrscheinlich kein bisschen anders aus. Ich schüttelte den Kopf. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Was hatte sie an sich, das mich so faszinierte? Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie sah sich kurz um, erblickte Dr. Kennedy und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Auf mich wirkte sie wie ein Raubtier, das nach seiner Beute ausschau hielt. Sie sah unfassbar wütend aus, was mir einerseits gefiel, andererseits versetze es mir einen Stich ins Herz, weil mir irgendetwas sagte, dass sie hätte glücklich sein sollen. Dass ich dafür sorgen musste, dass sie glücklich war. 

Und ich hasste mich dafür, dass ich so dachte.

„Sie haben mich angelogen!", fauchte sie. Und obwohl ihre Stimme nur so vor Hass triefte, hätte ich alles dafür gegeben, um ihre wunderschöne Stimme noch einmal zu hören.

Dr. Kennedy richtete sich auf, aber ich sah, dass er kein bisschen so ruhig war, wie er es wahrscheinlich gerne gewesen wäre.

„Beverly-"

„Lassen Sie mich hier raus!"

Er wich einen Schritt zurück und sah sich um. Die meisten Patienten hatten sich bereits zu uns umgedreht. Wahrscheinlich war dieses Geschehen auch spannender, als zum zigsten Mal Karten zu spielen. „Bitte, Beverly. Besprechen wir das in meinem Büro", sagte er mit gedämpfter Stimme.

„Sie haben es mir versprochen!" Sie holte aus und schlug dem Arzt ins Gesicht. Dann ging sie auf ihn los, aber weiter kam sie nicht, denn in Sekundenschnelle waren zwei Pfleger an ihrer Seite und versuchten sie von Dr. Kennedy wegzuzerren. Es geschah alles so schnell, dass ich nicht einmal Zeit gehabt hatte, zu atmen. „Sie haben es mir versprochen!", schrie sie. Langsam sollte ich vielleicht doch überdenken, ob ich tatsächlich etwas mit ihr zu tun haben wollte. Doch mein einziger Gedanke war, sie an mich zu drücken und zu beruhigen. Du bist so krank, Aidan...

„Sie haben mich angelogen! Sie sind ein Lügner!" Ihre Haare fielen ihr vors Gesicht, als sie versuchte, sich aus den Griffen der Pfleger zu reißen und wieder auf Dr. Kennedy loszugehen. Dieser versuchte, die Fassung zurück zu gewinnen. Beverly hatte so fest zugeschlagen, dass seine Nase zu bluten begonnen hatte. Irgendwie erinnerte sie mich ein kleinwenig an mich selbst, gestern im Myway. Nur mit dem Unterschied, dass sie tatsächlich zugeschlagen hatte. Und ich konnte gar nicht anders, als ein wenig zu lächeln. Ich hatte impulsive Menschen schon immer gemocht. Gewalt war zwar für mich nicht zwangsläufig die Lösung, aber ich rechnete es Beverly hoch an, dass sie sich traute einem Arzt eine reinzuschlagen. Sie sitzt in einer Irrenanstalt. Das war für sie bestimmt nichts Besonderes.

„Und du fragst, warum ich dich nicht gehen lasse", sagte Dr. Kennedy wütend.

„Sie haben es versprochen! Lassen Sie mich hier raus!"

„Nein", sagte er entschieden. „Das Gespräch ist beendet. Ich kann dich nicht gehen lassen!"

„Ich bin nicht verrückt! Das bin ich nicht! Aber dieser Ort macht mich verrückt!"

„Ich kann dich auch nach Modoc schicken!" Dr. Kennedy hatte offensichtlich keine Geduld mehr, aber die Tatsache, dass er eben damit gedroht hatte Beverly wegzuschicken, machte mich so wütend, dass ich am liebsten auch zugeschlagen hätte. Meine Großmutter stand auf.

„Dr. Kennedy", begann sie ruhig. „Sie wollen Beverly nicht wirklich wegschicken." Nein, das will er nicht! Auf keinen Fall! Wie soll ich sie denn sonst noch zu Gesicht bekommen?

„Wenn sie sich weiterhin so benimmt, werde ich das nicht verantworten", knurrte er und hielt sich ein Tuch an die blutende Nase.

„Ich übernehme die Verantwortung für sie", sagte Rosemary. Ich betete innerlich, dass Beverly nicht weggeschickt wurde. Dr. Kennedy sah zwischen Beverly und Rosemary hin und her.

„Auf Ihre Verantwortung", sagte er. „Noch so eine Aktion und ich schicke sie nach Modoc." Er wandte sich an Beverly. „Nimm das als Warnung! Die Menschen in Modoc sind kein Bisschen so nachsichtig, wie ich es bin." Er sah Beverly warnend an, doch es sah nicht so aus, als ob sie das besonders interessiert hätte.

Die Pfleger ließen sie los und zu meiner Erleichterung unternahm sie keinen weiteren Versuch, um auf den Arzt loszugehen. Meine Großmutter ging auf Beverly zu und legte ihr einen Arm um die Schulter. Sie wollte sich eben abwenden, drehte sich aber noch einmal zu mir.

„Ich hoffe, du wolltest gerade ohnehin gehen", meinte sie und sah mich fast warnend an. Ich nickte nur und sah den beiden nach, wie sie aus dem Raum gingen. Ich blieb noch ein paar Sekunden wie festgefroren sitzen, doch dann stand ich auf und machte mich auf den Weg.

Ich wäre natürlich gerne bei meiner Großmutter geblieben. Okay. Vielleicht wäre ich gerne bei Beverly geblieben. So oder so, ich wäre gerne geblieben. Aber natürlich verstand ich nur zu gut, dass Rosemary mich jetzt nicht hier haben wollte. Sie musste erst einmal dafür sorgen, dass Beverly sich beruhigte. Und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Denn wenn sie das nicht tun würde, würde Beverly vielleicht von Dr. Kennedy woanders hingeschickt werden. Und das war für mich undenkbar. Egal wie irrsinnig es gewesen sein mochte, aber ich wollte dieses Mädchen um jeden Preis näher kennen lernen und sie nicht aus meinem Leben verschwinden lassen.

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