48
Beverly
Ich hatte dem Wort „Nein" nie eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Zusammengesetzt aus vier Buchstaben, ist es das Gegenteil von „Ja" und eine negative Antwort, auf eine Frage, die positiv oder negativ beantwortet werden kann. Es bringt einen Widerspruch zum Ausdruck, oder fordert zum Unterlassen einer Handlung. Meist ein eher ernüchterndes Wort, das uns, ohne darüber nachzudenken, über die Lippen kommt.
„Nein" war das erste, das Aidan nach gefühlten fünf Minuten des schockierten Schweigens sagte. Es war keine Verneinung, sondern Verleugnung, und ein klitzekleiner Hoffnungsfunke, dass meine und seine Schlussfolgerungen über Addie falsch sein mussten. Für ihn war dieses Wort in diesem Moment alles.
Ich konnte es nachvollziehen. Jede seiner Reaktionen. Selbst für mich war es unvorstellbar, dass Addie -Addie!- ihr eigenes Kind praktisch umgebracht haben sollte. Und für Aidan war diese Tatsache vermutlich noch hundert Mal schlimmer. Nur gab es leider keine andere Erklärung, und Trish sah auch nicht so aus, als hätten wir komplett danebengelegen.
Mittlerweile saß Aidan auf der Couch, und versuchte kopfschüttelnd seine Gedanken zu sortieren, während Trish ihm gegenübersaß, offensichtlich bereit, seine Fragen zu beantworten, und ich am Fenster stand, und den Regentropfen, die so groß wie Nadelspitzen gegen die Fensterscheibe fielen, zusah. Normalerweise hielt ich nicht viel von Regen, aber an diesem Tag passte sich das Wetter meiner Stimmung an.
„Addie war..." Aidan schaffte es nicht, den Satz erneut zu beenden. Ich drehte mich um, und verschränkte meine Arme vor der Brust. Es war ein wenig kühl in dieser Wohnung und der abgestandene Geruch von Zigaretten lag in der Luft, aber ich hatte Trish noch nie rauchen sehen. Ich wusste nicht woran es lag, doch dieses Wohnzimmer strahlte nicht einmal halb so viel Heimeligkeit aus, wie das von Aidan. Es machte einen trüben, grauen und trostlosen Eindruck auf mich, wobei ich nicht sagen konnte, ob dieser Ort generell eine eher deprimierende Atmosphäre ausstrahlte, oder die Personen, die sich in dem Raum befanden einfach zutiefst deprimiert waren. Die Wohnung kam mir beinahe leblos vor. Die Bücher in den niedrigen Regalen lagen kreuz und quer, aber nicht, weil sie so oft benutz worden waren, sondern eher, weil es keinen kümmerte. Dafür sah der Rest des Wohnzimmers recht ordentlich aus, aber ich konnte weder Fotos, noch aufgehängte Bilder, oder Pflanzen sehen. Die Ordnung wirkte ohnehin wie eine Hülle, so als wäre an jedem anderen Tag ein Schlachtfeld aufgeräumter gewesen. Der schwarze Lack des Flügels blätterte an einigen Stellen ab, und das helle Holz kam darunter zum Vorschein. Ein paar verblasste Ringe waren ebenfalls zu erkennen, so als wäre das Klavier öfters als Ablage für Gläser und Flaschen genutzt worden, die einen Ring aus Kondenswasser hinterlassen hatten.
„Betonung liegt auf war", sagte Trish, woraufhin Aidan ihr einen undefinierbaren, immer noch irritierten Blick zuwarf.
„Von Trev?"
„Nein, von einem Reptil, und sie hätte fast ein Ei gelegt." Ich räusperte mich unmissverständlich, woraufhin Trish seufzte. „Tut mir leid. Aber du hast gerade erfahren, dass Addie schwanger war, und das Erste woran du denkst, ist, dass sie Trev betrogen hat?"
Ich war mir sicher, dass Aidan nicht für eine Sekunde an so etwas gedacht hatte, sondern schlicht und ergreifend keine einzige logische Schlussfolgerung ziehen konnte, und alle Punkte Stück für Stück abarbeiten musste.
„Wann ist das passiert?"
Trish stand auf, ging zum Holztisch hinüber, wo immer noch das Glas mit Scotch stand, nahm es, und setzte sich dann wieder Aidan gegenüber. „Vor ein paar Monaten."
„Und sie hat es keinem gesagt?"
„Weil sie das Kind nicht behalten wollte."
„Das ist kein Grund, wir hätten es alle verstanden und sie hätte damit nicht alleine sein müssen. Davon mal abgesehen, warum wollte sie dieses Kind nicht? Das ist doch ihr Lebensziel. Vielleicht nicht jetzt in dem Alter, aber ich kenne Addie doch, sowas hätte sie nie getan." Er richtete sich ein wenig auf. „Hat Trev sie dazu gedrängt?"
Trish stieß einen amüsierten Laut aus, und schlug die Beine über die Sessellehne. „Ich bitte dich. Trev will vielleicht keine Kinder haben, aber sogar ich weiß, dass das Einzige was er nie unterstützen würde, eine Abtreibung ist. Unser Moralapostel." Sie trank einen Schluck aus dem Glas, und stellte es auf den Couchtisch zwischen sich und Aidan. „Er wusste nichts davon."
Ich war ein wenig irritiert. Auf zu vielen Ebenen. Warum war Addie mit Trev zusammen, wenn sie Kinder wollte, er aber nicht? In meiner Familie hatte ich einige Beziehungen an der Kinderfrage zerbrechen gesehen. Früher oder später. Aber was für mich immer noch nicht ins Bild passte, war, warum Addie dieses Kind nicht gewollt hatte. Ich kannte sie noch nicht lange, aber sie war ein Familienmensch, das war offensichtlich, und sie würde doch nun wirklich keiner Fliege etwas zuleide tun. Warum also ein Leben beenden, welches noch dazu praktisch in ihr herangewachsen war?
„Aber ich verstehe nicht, warum sie keinem von uns etwas gesagt hat."
„Aidan-"
„Hör auf mit Aidan! Wenn du's mir nicht sagst, geh ich zu Addie." Trish sah noch viel müder aus, als vorhin, uns stieß lange den Atem aus.
„Sie hat das Kind illegal abtreiben lassen." Jetzt verstand selbst ich nichts mehr. Und so schien es Aidan auch zu gehen.
„Das ist doch ein Scherz."
Sie zog das Haargummi aus ihren Haaren, schüttelte sie ein wenig aus, und begann ihren verstrubbelten Zopf neu zu flechten. „Erinnerst du dich, als es Addie vor ein paar Wochen so schlecht ging? Sie so hohes Fieber hatte, Bauchschmerzen und keiner wusste, was mit ihr los war, weil sie sich auf den Tod geweigert hat ins Krankenhaus zu gehen?" Aidan nickte. „Ich hab gewusst, dass sie darüber nachgedacht hat, das Kind abtreiben zu lassen, aber ich habe nie damit gerechnet, dass sie es wirklich tun würde. Aber als ich mich vor den Spiegel gestellt habe und Mephistopheles in meinen Körper gezwungen habe, waren meine Augen plötzlich grün, und ich wusste was Addie getan hat." Sie befestigte den Zopf, der nicht viel ordentlicher geworden war, als der vorige, mit dem Haargummi.
„Aber sie kann doch nicht ernsthaft so dumm gewesen sein, um dieses Kind illegal abtreiben zu lassen", warf ich ungläubig ein. „Sie hätte dabei locker sterben, oder nie wieder Kinder bekommen können." Kaum zu glauben, dass Addie immer noch eine solche Lebensfreude ausstrahlte, meistens jedenfalls. War sie wirklich so gut im Verbergen ihrer Gefühle? Oder war ihr die ganze Sache schlicht nicht annähernd so wichtig, wie ich annahm?
Trish schlug den Blick nieder, und ich hatte das Gefühl, dass ich besser nicht gefragt hätte.
„Trish", sagte Aidan auffordernd.
„Das willst du nicht wissen, glaub mir."
„Nein, wahrscheinlich nicht. Aber erstens kann es nicht mehr schlimmer werden, und zweitens ist Addie meine Schwester." Trish zögerte noch einen Moment, und sah Aidan zwiespältig an.
„Sie war schon zu weit in der Schwangerschaft, als dass irgendein Arzt das Baby abgetrieben hätte. Sie war im vierten Monat." Sie warf Aidan einen niedergeschlagenen Blick zu, wohl um abzuwägen, ob sie weiterreden sollte. „Aidan, dieses Baby hat schon gelebt. So richtig. Addie hat seine Bewegungen spüren können." Trish hatte recht gehabt. Das hatte Aidan mit Sicherheit nicht hören wollen. Und ich auch nicht. Dass Trish das alles wusste, nagte offensichtlich genauso sehr an ihr, wie an Aidan, denn ihre Augen wurden glasig. „Es hat schon alle lebenswichtigen Organe gehabt, einen Herzschlag, und begonnen seine Reflexe zu trainieren und-"
„Hör auf", unterbrach Aidan schwach, und rieb sich übers Gesicht. „Bitte."
„Warum hat sie so lange gewartet?", fragte ich leise, nach ein paar Sekunden der Stille. „Wenn sie das Kind ohnehin nicht haben wollte."
„Sie hat es viel zu spät erfahren. Sie hat erst gar nicht bemerkt, wie lange sie drüber war, und hat es dann auf den Stress an der Uni geschoben. Sie hat es einfach zu spät erfahren. Und zu dem Zeitpunkt, an dem sie noch legal hätte abtreiben können, wusste sie noch nicht, was sie machen soll. Sie hat sich kurzzeitig für das Kind entschieden, hat dann aber Angst bekommen." Sie sah mich an. „Angst lässt Menschen schlimme Dinge tun." Sie sprach von Chase. Ich wusste nur nicht warum. Wovor hätte er schon Angst haben können? Seine Schwester war doch schon tot, sie konnte nicht zwei Mal sterben. Und der Vorfall in meiner Bar hatte nichts mit Angst, sondern Wut zu tun gehabt.
„Wovor denn Angst?", fragte Aidan aufgebracht.
„Angst vor allem. Angst davor, dass Trev sie verlässt, weil er keine Kinder will. Angst davor, dass sie ihr Studium abbrechen muss, und keinen Job findet. Angst davor, dass ihr dieses Kind praktisch die Jugend nimmt. Angst davor, dass eure Mutter sie endgültig verstoßen wird. Sie hatte Angst davor ihr Leben zu verlieren."
Aidan hob eine Hand. „Wie um alles in der Welt hat sie das bezahlt, wenn sie nicht unsere Eltern angeheuert hat?"
Trish seufzte tief, und sah an die Decke. „Wie formuliere ich es am besten? Sie hat sich von jemandem Geld geborgt, bei dem sie jetzt ihre Schulden abarbeitet."
„Jacob?"
„Jacob."
„Soll das ein Witz sein?"
„Wenn ja, dann finde ich die Pointe nicht." Trish griff wieder nach ihrem Glas, und kippte den letzten Rest hinunter. „Ihr hättet doch nie zugelassen, dass sie ihr eigenes Kind abtreibt, das schon gelebt hat." Die Art, wie Trish diese Worte aussprach, klang beinahe wie ein Vorwurf.
Ich wollte es mir kaum eingestehen, aber wäre ich an Addie's Stelle gewesen, hätte ich vermutlich genau dasselbe getan. Mal abgesehen davon, dass ich gar keine Kinder wollte, und ohnehin nie in diese Situation gekommen wäre. Wer will schon Kinder in eine so grausame Welt setzen? Das war barbarisch. Aber ich konnte nachvollziehen, dass Addie in ihrer „aussichtslosen" Situation Panik bekommen, und eine Kurzschlussreaktion diese schreckliche Entscheidung hervorgerufen hatte.
„Könnt ihr jetzt gehen?", fragte Trish, und stand auf. „Meine Mom wird sicher gleich zurück sein." Ich sah Aidan an, dass er einerseits froh war, von Trish praktisch rausgeworfen zu werden, andererseits aber gerne noch mehr erfahren hätte, wobei ich bezweifelte, dass sie ihm noch etwas anderes hätte sagen können. Seufzend stieß ich mich vom Fenster weg, und folgte ihm in den Flur. Ich für meinen Teil, war ganz froh diesen Ort verlassen zu können, der alles andere als Geborgenheit ausstrahlte.
„Aidan", sagte Trish noch, als wir bereits im Hausflur standen. Er drehte sich um, und sah Trish durch die halb geschlossene Türe an. „Addie hat eine falsche Entscheidung getroffen. Aber das weiß sie selbst." Er nickte, bevor er die Türe hinter uns zuzog.
~~ ~~
Wir beeilten uns ins Auto zu steigen, um vom stärker gewordenen Regen nicht durchgeweicht zu werden. Doch dann blieben wir schweigend nebeneinander sitzen. Ich konnte nichts sagen, denn alles was ich gesagt hätte, hätte unser Verhältnis wohl bloß erneut zerstört. Also wartete ich, genauso still und ruhig wie Aidan.
Als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er nicht annähernd so fertig ausgesehen, wie jetzt. Durch den leichten Bartschatten stachen die dunklen Ringe unter seinen Augen noch deutlicher hervor. Seine Haut schien sogar blasser als meine. Seine Haare standen recht wirr in alle Richtungen ab.
Wenn er lachte, war alles gut. Wenn er lachte, hatte ich das Gefühl, dass all meine Probleme lösbar waren, und das Gewicht auf meinen Schultern wurde auf magische Weise hochgehoben. Aber wenn er so trübselig neben mir saß, und selbst keinen Ausweg wusste, wie hätte ich dann einen wissen sollen? Und wann waren meine Launen von seinen abhängig geworden?
Ich hatte Aidan's Auto immer gemocht. Keine Ahnung, warum das so war, es war einfach ein Auto. Aber es war dasselbe mit seinem Zimmer. Ich hatte mich sofort wohl gefühlt. Meine Augen wanderten umher, und blieben an der Autotüre rechts von mir hängen. Ich weiß nicht, warum es mir nicht früher aufgefallen war, aber an der Stelle, an der das Fenster seinen Anfang fand, stand etwas -vermutlich mit schwarzem Edding- geschrieben. Ich musste mich ein bisschen zur Seite beugen, um es lesen zu können, so klein war es geschrieben.
The best part about the owner of this car is his little sister!
Ich musste schmunzeln. „Das war Addie, oder?" Ich ging nicht davon aus, dass Aidan diese Worte selbst geschrieben hatte. Sein Blick glitt zu den Buchstaben, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Sie war sich schon mit vierzehn nicht zu schade mein Auto zu beschmieren." Ich sah ihm an, dass es ihn, trotz aller Umstände, glücklich machte, daran zurück zu denken. „Ich hab das Auto an meinem sechzehnten Geburtstag bekommen und Addie hat noch am selben Tag ihr Revier markiert."
„Und? Stimmt was sie geschrieben hat?"
„Du glaubst nicht, wie sehr ich mir wünschte, dass es anders wäre." Ich musste lächeln, und warf noch einen Blick auf Addie's Worte. Wie konnte ein Mensch witzig, gemein und süß gleichzeitig sein?
„Du wolltest mir doch alles über dich erzählen", sagte Aidan schließlich. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt." Ich wusste, dass er nicht mehr über Addie reden wollte, allerdings war ich mir nicht ganz sicher, ob meine Vergangenheit das Aufheiterndste war, was ich ihm jetzt hätte erzählen können. Womöglich hätte ich mir eine glänzende Kindheit und Jugend ausdenken sollen, die nichts mit ignoranten Eltern, einer Entführung, einer soziopathischen Schwester und einigen von mir begangenen Morden zu tun hatte. Aber andererseits wäre die Wahrheit wohl ablenkender gewesen, als jede Lüge, die ich mir auf die Schnelle aus den Fingern hätte saugen können. Ich zog die Schultern hoch, und setzte einen übertriebenen Nachdenk-Blick auf. Vermutlich sah ich dabei so aus, als müsste ich eine Bruchgleichung im Kopf lösen.
„Hm", machte ich und betrachtete Aidan. „Mein Name ist Beverly Kathrin Anderson, ich wurde am 17. Jänner 1998 geboren und mein Sternzeichen ist Steinbock", begann ich, woraufhin Aidan müde lächelnd den Atem ausstieß.
„Das weiß ich doch schon."
„Beverly stammt aus dem Altenglischen und setzt sich zusammen aus den Wörtern beofor und leah, was übersetzt so etwas wie Biberwiese heißen soll. Außerdem ist es eigentlich ein keltischer Name, nur in englischer Form. Wusstest du das auch schon?" Aidan zog amüsiert die Augenbrauen zusammen, schien aber gespannt auf das, was ich noch so von mir geben würde. Jetzt gerade war mein einziges Ziel, seine trüben Gedanken von Addie wegzulocken, und ich hatte das Gefühl, dass mir das mit unzusammenhängenden Einzelinformationen über mich am besten gelingen würde. „Ich bin ungefähr 1,65 groß und habe mich seit Jahren kein einziges Mal mehr auf die Waage gestellt, weil mich mein Gewicht nicht im geringsten interessiert. Wenn meine Jeans nicht mehr passen, kaufe ich mir neue, dafür gibt es schließlich verschiedene Größen, kein Grund zum Abnehmen. Ich wurde in Wexford, Irland geboren, bin aber in Kalifornien aufgewachsen. Die erste Erinnerung, die ich an mein Leben habe, ist eine rot-weiß gestreifte Katze mit zweifärbigen Augen." Da ich davon ausging, dass wir noch einige Zeit in diesem Auto verbringen würden, streifte ich mir die Schuhe ab, und setzte mich im Schneidersitz hin, bevor ich weiterredete. Dabei erwartete ich von Aidan nicht wirklich eine Antwort. Er sah mich einfach nur belustigt und neugierig zugleich an, aber seine Gedanken waren immer noch nicht ganz bei mir, das konnte ich spüren. „Ich hasse es früh aufzustehen. Der frühe Vogel fängt den Wurm? Von wegen, der frühe Vogel stirbt an Schlafmangel. Aber wenn ich einmal wach bin, kann ich innerhalb der nächsten paar Stunden nicht mehr einschlafen. Und ich bin Pessimistin. Jedenfalls die meiste Zeit. Es gibt mehr Dinge, die ich hasse, als Dinge, die ich mag und es fällt mir leichter zu sagen, was ich nicht will, als zu definieren, was ich will. Ich liebe Chai Latte, und karamellüberzogene Äpfel. Meine Lieblingsfarbe ist Blau, Eisblau, um genau zu sein, dieselbe Farbe, die unschuldige Seelen haben. Ich hasse Kaviar und mit Kaffee kann man mich mindestens so sehr jagen, wie mit schnulzigen Liebesfilmen, oder Serien, mit einem Happy End. Das Leben hat schließlich auch kein Happy End. Ich hasse die Farbe Rot, am meisten meine Seelenfarbe. Ich glaube, du erkennst ein Muster." Aidan schmunzelte. „Ich hasse Leute, die lügen, obwohl ich es selbst die ganze Zeit tu, aber nur, weil ich es nicht wirklich anders kenne, und den meisten Leuten nicht genug vertraue, um ihnen die Wahrheit zu sagen, denn wie wir alles wissen, ist Wissen Macht. Und nur für den Fall, dass du dich wunderst: In den letzten Minuten habe ich kein einziges Mal gelogen. Ich bin nicht religiös. Ich glaube nur das, was ich sehe, also glaube ich nur an Dämonen. Für mich sind Geheimnisse existenziell. Geheimnisse machen Menschen aus, unterscheiden sie voneinander, machen sie individuell. Ich bin der größten Überzeugung, dass Geheimnisse nicht nur zerstören, sondern auch aufrecht erhalten. Ich bin weder Rassistin, noch homophob, Sexist, Feminist, oder sonst etwas. Ich bin Equalistin, falls es das überhaupt gibt. Probleme löse ich meistens im Stillen, mit mir selbst, ohne die ganze Welt an meinen Gefühlen teilhaben zu lassen. Als Kind hatte ich Asthma, ist aber weggegangen, als mein Dämon sich an mich gebunden hat." Ich legte eine kurze Sprechpause ein, um zu überprüfen, ob Aidan endlich aufgehört hatte über Addie nachzudenken. Er betrachtete mich mit, gespielt übertriebenem, Interesse und einem Lächeln auf den Lippen. So gefiel er mir schon wesentlich besser. „Ich hasse logisches Denken, das liegt mir kein bisschen. Deshalb treffe ich auch oft Entscheidungen, die mich ziemlich in die Scheiße reiten, was irgendwie auf andere abzufärben scheint. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich mit meinem Dämon zusammen bin, was verrückt ist, weil ich ihn momentan hasse." Ein verärgertes Grummeln ertönte vom Rücksitz, aber ich achtete nicht darauf. Doch gleichzeitig erinnerte er mich daran, dass ich im Grunde genommen kein bisschen über mich erzählte, zumindest nicht wirklich. Ich rutschte auf dem Sitz ein Stück weiter nach unten, sodass ich meinen Kopf gegen die Rückenlehne drücken, meine Beine anziehen und meine Armer drum herum schlingen konnte. Mein plötzlicher Stimmungswandel war unübersehbar gewesen, aber Aidan sagte nichts. Er schien eher darauf zu warten, ob ich etwas dazu sagen würde. Ich sah aus der Windschutzscheibe, die, wegen des herabrinnenden Regens, selbst wie ein kleiner Wasserfall aussah, und musste die Worte erst in die richtige Reihenfolge bringen, bevor ich es wagte sie auszusprechen. „Meine Eltern sind tot. Sie sind schon seit zwei Jahren tot. Und als ich zehn Jahre alt war, wurde ich entführt."
Es war nicht stiller als vorhin, aber es kam mir so vor. Ich wurde nervös. Ich hatte noch nie wirklich jemandem davon erzählt. Die meisten Menschen hatten einfach schon davon gewusst, die Dinge aber nie zur Sprache gebracht. Und wenn jemand mit mir darüber hatte reden wollen, war ich den Themen geschickt ausgewichen. Dingen aus dem Weg zu gehen -darin war ich geübt.
Mir wurde einmal mehr bewusst, dass ich Aidan zwar gesagt hatte, ich würde ihm alles erzählen, aber noch immer nicht in der Lage war, über diesen ganz bestimmten Part meines Lebens zu sprechen. Nach über fünf Jahren. Ich wusste nicht, in wie weit das normal war, nach hunderten von Therapiegesprächen (in denen ich zugegebenermaßen die meiste Zeit geschwiegen hatte, also kann von Therapiegespräch, kaum die Rede sein). Also beschloss ich diesen Teil zu überspringen. Das würde mir einiges ersparen, und Aidan auch.
„Als ich wieder zu Hause war, kam ich in Therapie, habe Privatunterricht bekommen, und meine Eltern sind wieder ihren Geschäften nachgegangen." Die Geschichte über Anthony und mich, und dass wir uns über die zwei Jahre nach und nach nähergekommen waren, ließ ich weg. „Meine..." Ich brach ab, rieb mir übers Gesicht, fuhr mir durch die Haare, schluckte, atmete tief durch, um mich zu beruhigen, und fühlte mich genauso beschissen wie davor. „Meine Psychiaterin wollte immer, dass ich mit ihr über meine Entführung spreche, aber das konnte ich nicht. Also hat sie gefragt, ob ich es aufschreiben will, aber ich bin nicht so gut mit Worten, und als nach einer Stunde noch immer ein leeres Blatt vor mir lag, habe ich angefangen irgendetwas an den Rand zu kritzeln. Sie hat mich gefragt, ob ich gerne zeichne, wobei ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht wirklich getan habe. Sie hat gemeint, dass ich doch zu Hause in Ruhe versuchen könnte alles aufzuzeichnen. Also dachte ich, ich gebe dem Ganzen einen Versuch. Ich habe schnell gemerkt, dass ich mehr Talent hatte, als gedacht, nur war die erste Zeichnung eine komplette Lüge. An mich und an meine Psychiaterin. Das zweite hat schon eher der Realität entsprochen. Das dritte noch mehr, und das vierte war die Inkarnation meiner Alpträume. Die erste Erinnerung, die ich aufgezeichnet habe." Ich stützte meinen rechten Arm an der Autotür und vergrub meine Finger in meinen Haaren. „Aber ich wollte sie nicht herzeigen. Ich wollte die Zeichnung niemandem zeigen, denn es war meine Vergangenheit, und meine Erinnerung. Als ich weg war, hat es keinen gejuckt, was mit mir passiert ist, nur im Nachhinein wollen sie alle Details wissen. Du musst dich damit auseinandersetzen. Sag mir, wo du warst. Erinnere dich. Wie hat es sich angefühlt? Wie kommst du damit zurecht? Ja, wie hat es sich wohl angefühlt? Ihre Sorgen, ob das Saphir- oder Amethystarmband schöner ist, das sie sich mit dem Geld meiner Eltern gekauft hat, hätte ich gerne gehabt." Ich begann an der Haut um meinen Daumennagel herum zu kratzen. „Warum hätte ich versuchen sollen, es irgendjemandem zu erzählen -unbeschreibbare Gefühle in Worte zu fassen- wenn es ohnehin niemand verstanden hätte? Keiner hätte das nachvollziehen können. Schon gar keine aufgetakelte Seelenklempnerin, deren größtes Problem die bröckelnde Fassade ihres Hauses ist. So sind meine Zeichnungen zu Erinnerungen, und diese Erinnerungen zu Geheimnissen geworden." Ich wusste nicht, ob Aidan es verstand. Immerhin hatte es noch niemand verstanden. Der entscheidende Vorteil jedoch war, dass Aidan nicht aus den typischen Kreisen stammte, aus denen ich die meisten Menschen kannte. Ich wusste, dass sein Blick auf mir ruhte, auch ohne, dass ich ihn ansah. Dass er schwieg, fand ich gut. Absolut gar nichts, das er gesagt hätte, hätte ich nicht schon in tausendfacher Ausführung von anderen Menschen gehört gehabt.
„Ich war fünfzehn, als ich das erste Mal die Gedanken eines anderen Menschen hören konnte. Ich wusste noch nicht, dass es einen Weg gibt, das zu kontrollieren, und habe immer wieder die Gedanken von Menschen hören können. Mir war nicht einmal klar, dass es Gedanken waren. Ich dachte ich wäre schizophren. Oder einfach am Durchdrehen. Aber jetzt da ich weiß, dass alles was ich gehört habe die Gedanken von Menschen waren..." Ein Gefühl der Wut flatterte in meinem Brustkorb auf, als ich daran zurück dachte. „Glaub mir, du willst nicht wissen, was andere Leute denken. Schon gar nicht, was sie über dich denken. Man glaubt eine Person zu kennen, aber man kann sich nie zu hundert Prozent sicher sein, wer sie ist. Ein Mensch kann noch so oft sagen, dass er dich gern hat, du kannst nie wissen, dass er es ernst meint. Mein Vater war sich sicher, dass ich nicht seine Tochter war, meine Mutter verteufelte mich für den ständigen Nahezu-Zusammenbruch ihrer Ehe, meine Freunde mochten mein Geld, mein Haus und meine Schwester. In Wahrheit haben sie mich für einen verkorksten Freak gehalten, der ich, nach allem was passiert ist, vermutlich auch bin. Delilah und Anthony haben zu den wenigen Menschen gehört, die mir geblieben sind. Ich habe mich mehr und mehr zurückgezogen und war nur noch mit meinem Dämon zusammen." Die Autos, die draußen an uns vorbeifuhren, hinterließen ein Rauschen, und die Roten und Orangen Lichter der Scheinwerfer, brachen sich in den Regentropfen an den Fensterscheiben des Autos. „Ich denke, einer der Gründe, warum Chase mich so sehr hasst, ist, dass er nicht versteht, warum ich mich nicht von meinem Dämon trenne. Er denkt, dann wären all meine Probleme gelöst. Dabei ist die Antwort doch wohl offensichtlich. Er hat mich nie alleine gelassen. Er ist zwar für die schlimmsten Dinge, die mir je passiert sind, verantwortlich, aber er würde mich gleichzeitig auch immer beschützen. Mein Dämon war immer da." Eigentlich war er das Schlimmste und Beste, das mir je passiert war. Sobald wir uns an den anderen gewöhnt hatten, waren wir recht bald ein eingespieltes Team geworden. An einen Dämon gebunden zu sein, hatte einige Vorteile. „Es fühlt sich gut an, nicht fühlen zu müssen. Ich hatte Panikattacken, Angstzustände, Suizidgedanken, konnte nicht schlafen. Die Gefühllosigkeit, diese... Taubheit... die ein Dämon hervorrufen kann, dass man nichts mehr fühlen muss, das war wie eine Droge." Ich war mir nicht sicher, ob Aidan sich bei diesen Worten versteifte, oder einfach bequemer hinsetzte, da ich ihn immer noch nicht ansah. „Eigentlich tun Dämonen das nur, wenn sie einen Menschen von sich abhängig machen wollen, weil es einem ohne Gefühle schwer fällt zwischen richtig und falsch zu entscheiden. Man kann sich zwar daran erinnern, wie man früher entschieden hätte, aber man weiß nicht mehr warum. Kannst du dir vorstellen, wie gut es sich nach drei Jahren ununterbrochener Angst angefühlt hat, keine Angst mehr zu haben? Vor gar nichts. Einfach wie ein gefühlskalter Zombie in der Gegend herumzulaufen, und zu glauben -zu wissen-, dass einem sowas nie wieder passieren kann. Dass einen nie wieder jemand oder etwas verletzten kann. Dämonen können ein so unfassbares Machtgefühl verleihen. Nur leider hatte das auch zur Folge, dass ich kaum noch ein Gewissen hatte. Und als ich die Stimme hören konnte, als Victoria und ich zum Flughafen gefahren sind, um unsere Eltern abzuholen... als sie dachte Ich wünschte du wärst verrottet, wo auch immer du warst... Ich wusste nicht, dass es ihre Gedanken waren, aber ich bin einfach so wütend geworden, dass ich hinübergegriffen, das Lenkrad umgerissen, und sie getötet habe." Der einzige Grund, warum ich noch lebte, war, dass mein Dämon stark genug gewesen war, jede meiner Verletzungen noch in der Sekunde zu heilen, in der sie entstanden waren, indem er von meinem Körper Besitz ergriffen, und ihn nach dem Unfall wieder verlassen hatte. „Keiner konnte verstehen, warum ich meine Schwester, einen so wundervollen Engel, umgebracht habe, und es wurde auf mein Trauma geschoben. Und weil ich Stimmen hören, und einen Schatten, der mich verfolgte sehen konnte, haben sie mich eingesperrt. Schon wieder. Und noch in der ersten Woche, hat mein Dämon dafür gesorgt, dass meine Eltern ums Leben kamen. Irgendein wahnsinniger Amokläufer hat sie auf einer ihrer Geschäftsreisen erschossen, und die kleine Beverly hat alles geerbt. Die Glückliche. Großes Haus, mehrere Millionen, sie kann keine Sorgen haben. Wie kann sie es wagen sich über ihr Leben zu beschweren?" Ich wusste nicht, ob der Sarkasmus, oder die Bitterkeit in meiner Stimme dominierten. „Ich habe Rose kennengelernt. Anfangs habe ich sie für verrückt gehalten, aber irgendwann habe ich ihr zugehört, und sie hat mir alles über Dämonen erzählt, was sie wusste. Sie hat mir gesagt, dass das Ausschalten meiner Gefühle nicht die Lösung war, und mein Dämon hat es unterlassen." Dass ich mich danach noch elender gefühlt hatte, als davor, ließ ich weg. Genauso wie die Tatsache, dass ich mich nicht eine Sekunde lang wegen des Mordes an meiner Schwester schlecht gefühlt hatte, sobald ich herausgefunden hatte, dass alles was ich hatte hören können, die Gedanken von Menschen gewesen waren. „Nur wegen Rose, kann ich meine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, kontrollieren. Und nur dank ihr, muss ich mich nicht an die Jahre meiner Entführung erinnern, weil alles in meinem Kopf hinter einer dicken Mauer weggesperrt ist. Das ist das Gute daran, wenn man Gedanken kontrollieren kann. Es funktioniert auch bei mir selbst."
Es kostete mich eine Menge Überwindung, Aidan nach meiner Geschichte noch in die Augen zu sehen. „Ich vertraue Menschen nicht. Ich habe es oft genug getan, und habe jedes Mal eines auf die Fresse bekommen. Mein Dämon ist das einzige Wesen, auf das ich mich verlassen kann, egal was er mir antut, ich würde ihn nicht verlieren wollen. Ich hasse Geld. Geld macht nicht glücklich, sondern erlaubt dir nur auf eine angenehme Weise unglücklich zu sein. Emotional bin ich von der Sekunde an zerrissen gewesen, in der ich entführt worden bin. Ich bin ziemlich egoistisch, und mich interessiert kein Mensch mehr, als mich selbst. Ich habe wahnsinnige Zukunftsängste, denn ich habe Geld, aber keine Ausbildung, und keine Ahnung, was für einen Beruf ich gerne ausüben würde, weil ich mir nie Gedanken darüber gemacht habe. Ich sehe mich bis an mein Lebensende mit meinem Dämon in meinem Strandhaus hocken. Tag ein, Tag aus, mit der ständigen Frage als Begleiter, ob heute der Tag ist, an dem ich mich umbringen werde. Voraussichtlich mit fünfundzwanzig, je nachdem wie lange ich es, umgeben von Einsamkeit, aushalte. Viel mehr gibt es über mich wohl nicht mehr zu wissen, außer, dass du die erste Person bist, der ich das alles erzählt habe, und zwar, weil du die erste Person bist, der ich seit langem vertraue, was verrückt ist, weil ich dich fast gar nicht kenne. Und vermutlich mache ich einen riesen Fehler, dir zu vertrauen, und das erzählt zu haben, aber ich mag dich." Mehr als Anthony. Denke ich... Es war schwierig meine Gefühle für Aidan einzuordnen, wenn ich nicht verliebt war, er mir aber mehr bedeutete, als Anthony. Delilah hatte immer gemeint, dass man recht früh merkt, ob man in einen Menschen verliebt ist, oder glaubt, sich in einen Menschen verlieben zu können. Leichter gesagt, als getan, wenn man noch nie verliebt war, und nicht weiß, wie sich das anfühlt. „Ich bin ein schlechter Mensch, super verkorkst, werde nie ein normales Leben haben, oder eine funktionierende zwischenmenschliche Beziehung führen können, und schleppe einen Dämon mit mir herum, und mir fällt absolut kein Grund ein, warum du mich mögen solltest, die einzig plausible Erklärung ist, dass du genauso verrückt bist wie ich, aber das ist in hundert Jahren nicht zu schaffen." Halb gespannt, halb ängstlich, wartete ich auf Aidan's Reaktion.
Worst-Case-Szenario: Er würde mich aus seinem Auto schmeißen, weil er endlich erkannte, was für ein psychisches Wrack ich war. Er sah mich aus seinen dunkelbraunen Augen an, aber ich konnte seinen Blick absolut nicht deuten. Wie sehr ich das hasste. Ich würde gerne wissen, was er über mich dachte, selbst, wenn es genauso grausam gewesen wäre, wie bei etlichen anderen Leuten. Aber wenigstens hätte ich dann gewusst, ob ich einen Fehler begangen, oder das Richtige getan hatte.
„Schlimme Dinge getan zu haben, heißt nicht immer, auch ein schlechter Mensch zu sein." Redet er über mich, oder über Addie? „Fahren wir nach Hause?", fragte er dann. Einerseits war ich erleichtert, dass er mich nicht aus seinem Auto schmiss, andererseits weil er nicht weiter auf meiner Vergangenheit oder Sonstigem herumstocherte. Und gleichzeitig begann mein Herz zu flattern, weil er soeben die Worte wir und nach Hause, in demselben Satz verwendet hatte. Er hatte sein zu Hause, als meines bezeichnet.
Ich nickte, und gab ein Wort zur Antwort, das eine viel bessere Bedeutung, als das Wort nein hatte. „Ja."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top