46
Beverly
Ich weiß nicht, was ich vom Valentinstag erwartet hatte, als ich an diesem Morgen kurz vor acht Uhr aufwachte. Vielleicht hatte ich gehofft, Anthony würde in der Küche stehen, Frühstück machen und wir würden den gestrigen Tag vergessen und es uns einfach auf der Terrasse gemütlich machen, dann an den Strand gehen und einen netten Tag miteinander verbringen. Mein Dämon hatte mich, als ich daran gedacht hatte, mindestens so verstört angesehen, wie ich mein Spiegelbild, während ich mir die Haare gebürstet hatte. „Ja, du hast recht, das ist absurd."
Das Letzte was ich am Morgen des 14. Februars jedoch erwartet hatte, war, Chase in unserem Garten außerhalb seines T-Shirts vorzufinden, während er Klimmzüge an einem niedrigen Ast eines Baumes machte und dabei nicht einmal schlecht aussah. „Vergiss was ich gesagt habe", murmelte ich und deutete auf Chase. „Das ist absurd." Es verstörte mich sogar noch mehr, als der Gedanke an Anthony und mich zusammen am Valentinstag.
Ich setzte Tee auf, griff nach einem Apfel und ging in den Garten.
„Du weißt schon, dass wir ein Fitnessstudio im zweiten Stock haben, oder?", fragte ich skeptisch, während ich die Glastüre hinter mir wieder zuschob und beobachtete, wie Chase sich gleichmäßig den Ast nach oben zog, für einige Sekunden ausharrte und sich mindestens genauso kontrolliert wieder abließ.
„Ja, ich weiß auch, dass ihr eine Bar habt", presste er hervor. „Und ich weiß, dass ihr eine Dachterrasse habt. Und von der halben Bibliothek hab ich auch gehört. Die Bowlingbahn und den Billardtisch habe ich ebenfalls schon gefunden." Er ließ sich von dem Ast fallen, richtete sich auf und sah mich abfällig an. „Dasselbe gilt für die Autos in der Garage und die unübersehbare Poollandschaft. Ich brauch kein extravagantes Fitnessstudio, um zu trainieren, danke." Ich rollte mit den Augen. Die Absicht, mit meinem Haus anzugeben, hatte ich nicht gehabt. Ich hatte lediglich gedacht, sein Körpergewicht an einer glatten Metallstande nach oben zu ziehen, sei angenehmer, als an einem kratzigen Ast.
Die Sonne stand noch recht niedrig und schien mir direkt ins Gesicht, sodass ich eine Hand vor meine Augen hielt. Chase griff schweratmend nach der Wasserflasche, die am Stamm des Baumes lehnte und trank bestimmt mehr als die Hälfte in Rekordzeit. Sein graues T-Shirt hing über dem Ast und wehte in dem kühlen Wind, während Schweiß von seinen blonden Strähnen tropfte und sein Oberkörper im Licht der frühen Morgensonne glänzte. Eines musste ich ihm jedenfalls lassen: Er war durchtrainiert. Was unter seinen T-Shirts deutlich weniger hervorstach, war jetzt umso ersichtlicher. Seine Muskeln waren viel zu definiert, als dass er als bloßer Hobbysportler durchgegangen wäre. Hobbyjäger traf da schon eher zu. Vermutlich war sogar sein kleiner Zeh stärker als ich. Aber anders, als es das bei Anthony oder Aidan vielleicht getan hätte, zog mich sein durchtrainierter Körper kein bisschen an, weil ich nur an die unzähligen Mordversuche denken konnte und daran, wie einfach es ihm vermutlich fallen würde, mir das Genick zu brechen.
Die Tatsache, dass er oberkörperfrei vor mir stand, hatte noch eine andere Konsequenz zufolge. Ich konnte die Tätowierung auf seinem rechten Arm sehen, die ich bei unserer ersten Begegnung bereits bemerkt hatte. Es waren die Umrisse eines Dreiecks, aus dessen unterster Spitze die Wurzeln eines Baumes ihren Anfang fanden, und über die Linien der geometrischen Figur hinausragten. Die verschlungenen Äste bildeten viele Trinity Knots, die für die Dreifaltigkeit Gottes stehen. Wären die schwarzen Linien mit ein paar weiteren Symbolen verziert worden, wären die einzelnen Trinity Knots Schutzsymbole gegen Dämonen gewesen.
Als Kind hatte ich immer davon geträumt, am Trinity College in Irland zu studieren, dort, wo auch meine Tante lebte. Nur war dieses College leider dämonensicher, sodass ich meinen Traum recht schnell hatte verwerfen müssen, sobald mir die Konsequenzen, an einen Dämon gebunden zu sein, bewusst geworden waren.
Ich fragte mich automatisch, warum Chase kein Tattoo hatte, das so dämonensicher war, wie die Halskette, die er an diesem Morgen gar nicht um seinen Hals trug. Warum trägt er sie nicht? Ich an seiner Stelle, hätte mir vermutlich Schutzsymbole auf den ganzen Körper tätowieren lassen.
„Schön, aber ich will mir den Morgen nicht schon durch deine verschwitzte Anwesenheit in meinem sauberen Garten ruinieren." Ich biss in meinen Apfel und genoss den süßen Saft, der sich auf meiner Zunge ausbreitete. Augenblicklich wurde ich von kleinen Mücken umschwärmt, die in dem Apfel eine Futterquelle gefunden zu haben schienen.
„Willst du mich loswerden?"
„Ich will vor allem, dass du duschen gehst und dir wieder was anziehst, bevor du einen neuen Versuch startest, mich umzubringen."
„Lenke ich dich ohne Shirt zu sehr davon ab herumzukeifen?"
„Nein, ich will nur nicht das Wohnzimmer vollkotzen."
Chase schnaubte, bevor er die Wasserflasche zurück an ihren Platz stellte, den Ast wieder umklammerte und sich daran hochzog.
Ich wartete kurz, ob er noch etwas erwidern wollte, aber offenbar war in diesem Garten nur Platz für ihn und sein Ego und das war offenbar groß genug, um nicht das letzte Wort haben zu müssen. Zurück in der deutlich kühleren Küche, goss ich mir den Tee in einen Becher, setzte mich auf die Couch und schaltete den Plasmafernseher ein.
Das Dämonenblut, das Chase mir am Vorabend gegeben hatte, hatte ich nicht angerührt. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was dieses Zeug mit mir anstellen würde und ohne die Konsequenzen abschätzen zu können, hatte ich keine Lust, es herauszufinden. Lieber lief ich weiter mit einer halboffenen, schmerzenden Wunde herum. Das Fläschchen war sicher im Innenraum eines Kugelschreibers verwahrt, sodass es auch heute keiner der Angestellten beim Aufräumen oder Putzen finden würde.
Wie zu erwarten, waren María und die anderen überpünktlich und mehr als überrascht, mich wieder zu sehen. Sie begrüßten mich mit überschwänglicher Freude und bombardierten mich mit Fragen. Ich war natürlich auch glücklich, die Menschen, die ich seit meiner Kindheit kannte, wieder zu sehen, aber es waren zu viele Leute, als dass ich mich noch hätte wohlfühlen können. Das merkte María auch bald, und schickte alle an ihre Arbeit, während sie Ivy (mein zweites, ehemaliges Kindermädchen) bat, schnell einkaufen zu gehen, damit sie mir etwas zu Essen machen konnte, obwohl ich ihr mehr als einmal versichert hatte, dass sie das nicht tun musste.
Erst während María begann ihr bestes Huevos Rancheros Rezept zuzubereiten und ich ihr in der Küche Gesellschaft leistete und ihr erzählte, was in den letzten zwei Jahren passiert war (wobei ich den Modoc Teil natürlich wegließ), fiel mir auf, wie unfassbar eingerostet mein Spanisch war. Die einzelnen Worte und Sätze, die Anthony oder Delilah und ich untereinander gewechselt hatten, waren nicht schwer zu entschlüsseln gewesen, aber die letzten zwei Jahre in zusammenhängenden und richtig formulierten Sätzen wiederzugeben, war eine ganz andere Sache. Aus diesem Grund wechselte ich ziemlich sprunghaft zwischen Englisch und Spanisch hin und her, aber María verstand es trotzdem. Mittlerweile lebte sie immerhin schon ein paar Jahre hier. Ihr Essen war wie immer köstlich und ich hatte es vermisst, bekocht zu werden, um ehrlich zu sein. Während sie sich wie gewohnt ganz um mich kümmerte, bemerkte ich die vielen Menschen, die in meinem Haus herumschwirrten gar nicht.
María brachte mich auf den neusten Stand, was in dem Unternehmen meiner Eltern vor sich ging, aber offenbar war alles in Ordnung. Ich hatte ohnehin nicht vorgehabt, mich großartig damit zu beschäftigen. Ich kannte mich nicht aus und fand, dass große Entscheidungen, die über Milliardenbeträge bestimmten, von jemand anderem als mir getroffen werden sollten. Es war die letzten zwei Jahre gut gegangen und sobald ich die Zeit haben würde, würde ich mir einen Anwalt holen und das Unternehmen an jemanden abtreten, der gut dafür zahlen würde. Ich wollte damit nichts zu tun haben.
Nachdem ich gegessen hatte suchte ich Trish. Ich wusste nicht genau warum, aber ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der meine Muttersprache sprach. Jemand anderem als Chase. Ich fand sie im Musikzimmer, auf dem dunkelblauen Divan neben dem Fenster sitzen. Sie war seit ihrer Ankunft oft hier gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass jeder Mensch seinen persönlichen Lieblingsort in diesem Haus hatte. Für meine Schwester war es der hintere Teil der Dachterrasse gewesen, weil sie von dort aus mit dem Teleskop stundenlang die Sterne hatte beobachten können. Das war mir ganz recht gewesen, besonders, wenn sie schlecht gelaunt gewesen war, so hatte ich sie zumindest nicht sehen müssen. Meine Eltern hatten wohl ihr Arbeitszimmer am liebsten gehabt, sofern sie zu Hause gewesen waren. Anthony und Delilah waren sich einig gewesen, dass die Spielhalle, besonders die Bowlingbahn und der Garten das Beste an diesem Haus waren. Addie's Herz hatte bestimmt seinen Weg in die Bibliothek gefunden und Trish war offenbar eine Musikliebhaberin. Auf ihrem Schoß lag ein leeres Notenheft und sie kritzelte mit Bleistift darin herum.
„Schreibst du selber Stücke?", fragte ich überrascht und näherte mich ihr. Sie zuckte erschrocken zusammen und sah auf. „Entschuldigung."
„Schon okay, ist ja dein Haus", lächelte sie und nickte dann. „Ich schreibe Klavierstücke. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich mir das Notenheft geliehen habe, aber es lag zwischen den anderen Notenheften im Schrank und hat mich angefleht Bitte, Trish, beschreibe mich, mit deinen Visionen von guter Musik." Ich musste nun ebenfalls lächeln und setzte mich zu ihr.
„Gehst du auf eine Musikhochschule oder so?"
„Nein. Ich studiere Parapsychologie an der Fresno Pacific University."
„Und die haben keine Musikkurse?", fragte ich skeptisch.
„Natürlich haben sie das. Die FPU ist sogar für die vielen Musik- und Theaterkurse bekannt." Ich zog die Augenbrauen zusammen. Warum besuchte sie eine Universität, die viele Musikkurse anbot, ohne an einem solchen teilzunehmen, wenn sie Musik offensichtlich liebte? Als hätte sie meine Gedanken gelesen, antwortete sie: „Mit Parapsychologie kenne ich mich bestens aus. Es nimmt für mich weniger Zeit in Anspruch, als ein Musikstudium, interessiert mich aber mindestens genauso sehr. Ein Musikstudium ist zeitaufwendig und teuer. Und so viel Zeit und Geld habe ich nicht."
Für mich war es, so blöd es auch klingt, unvorstellbar, mir etwas nicht leisten zu können. Wann immer ich etwas hatte haben wollen, hatten meine Eltern es mir, ohne mit den Wimpern zu zucken besorgt. Geld hatte in meinem Leben noch nie wirklich eine Rolle gespielt und es war für mich unvorstellbar, dass Trish etwas was sie sich wünschte, nicht haben konnte. Das musste sich schrecklich anfühlen, aber ich kannte dieses Gefühl nicht. Nicht in Bezug auf Geld.
„Warum fehlen dir Zeit und Geld?"
„Nicht jeder ist Millionärstochter", entgegnete sie. „Im Grunde genommen geht es meiner Mom nicht sonderlich gut, seit mein Vater uns verlassen hat. Sie trinkt häufig und verpasst ihre Schichten im Restaurant, weshalb sie aus einem Job nach dem anderen fliegt." Trish fuhr sich durch die erdbeerblonden Haare, die durch das Sonnenlicht an manchen Stellen tatsächlich blond wirkten, drehte sie zu einem Dutt und befestigte diesen mit einem der Haargummis, die sie am Handgelenk trug. Mir fiel erst jetzt auf, dass die kleinen Sommersprossen nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Unterarme bedeckten. Schon als Kind hatte ich mir Sommersprossen gewünscht, aber Gott hatte offenbar lediglich beschlossen mir eine undefinierbare Haarfarbe zu geben. „Und wenn ich nicht will, dass meine Mom, Kace oder ich verhungern, oder auf der Straße wohnen, dann muss ich das Geld selbst besorgen."
„Kace? Ist er dein Bruder?"
Sie nickte. „Er ist neun. Und manchmal echt nervig."
„Ich bin auf seiner Seite, egal was es ist. Große Schwestern sind meiner Erfahrung nach scheiße."
„Ja, deshalb gebe ich auch den Großteil meiner Freizeit für ihn auf, weil ich so scheiße bin", schmunzelte sie. „Ich mache das für Kace, nicht für meine Mom. Sie ist erwachsen und wenn sie meint, sich besaufen und jeden Job verlieren zu müssen, soll sie es tun. Ich bin auf ihre Hilfe nicht angewiesen, ich kann für mich selbst sorgen. Nur mein kleiner Bruder kann das nicht, deshalb muss ich dafür sorgen, dass er in die Schule kommt, seine Hausaufgaben macht, nicht nur Burger und Pizza in sich hineinstopft und nicht vor dem Fernseher versauert."
„Aber im Moment bist du hier."
„Meine Mom kann sich ruhig auch mal zwei Tage um ihn kümmern."
„Und du finanzierst Wohnung, Studium, Essen und alles andere mit deinem Job in einer Bar?", fragte ich ungläubig, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie mit ihren Schichten genug verdiente, um für den Lebensunterhalt dreier Menschen sorgen zu können.
„Ich arbeite nicht nur im Myway." Sie legte das Notenheft und den Bleistift zur Seite und setzte sich im Schneidersitz hin. „Ich gebe Schülern Nachhilfe in Mathe und Physik, wann immer ich Zeit habe. Ich helfe bei Events beim Catering aus. Und wenn die Pianisten in edlen Restaurants ausgefallen sind, wurde ich auch schon ein paar Mal angerufen." Bei dem letzten Satz lächelte sie stolz, wurde aber recht schnell wieder ernst. „Für dich mag das schwer vorstellbar sein, aber Geld ist immer ein Problem. Zumindest dann, wenn man keines hat." Nicht Trish auch noch. Chase hatte mir doch bereits ein schlechtes Gewissen gemacht. Aber zumindest konnte ich jetzt ein bisschen besser verstehen, was Trish am Vortag gemeint hatte mit Ich bin glücklich, wenn ich nicht zu Hause sein muss.
„Ist das nicht anstrengend?" Ich konnte kaum glauben, dass sie es schaffte das alles unter einen Hut zu bekommen und trotzdem nicht müde, oder ausgelaugt schien, nebenbei noch studierte und Zeit hatte, sich um ihre beste Freundin Sorgen zu machen.
„Ich kann, weil ich es können muss. Wie gesagt, wenn es nicht um Kace gehen würde, wäre ich schon längst von zu Hause ausgezogen." Was war bloß mit Victoria falsch gelaufen, dass sie sich nicht einmal halb so sehr um mich, ihre kleine Schwester, geschert hatte, wie sich Trish um Kace, oder Aidan um Addie kümmerten?
„Warum haben sich eure Eltern getrennt?", fragte ich vorsichtig.
„Haben sie nicht." Trish lachte bitter auf. „Mein Vater ist gegangen. Weil ich an Mephistopheles gebunden bin."
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff. Ungläubig stieß ich den Atem aus. „Dein Vater ist ein Jäger..."
Sie nickte.
„Wie beschissen ist das denn?" Es war eine Kunst gewesen, bei der Wortwahl noch einfühlsam zu klingen.
„Ich war erst acht, als Mephistopheles sich an mich gebunden hat. Mein Vater hat es natürlich gemerkt, noch bevor es passiert ist. Also hat er mir alles über Dämonen beigebracht, was er wusste, und ist gegangen, als es passiert ist. Seitdem hält er sich von mir fern, so gut das eben geht, ohne dabei auch Kace aus seinem Leben zu streichen. Er war nicht einmal ein Jahr alt, als unser Vater gegangen ist. Mein Vater und meine Mom kommen noch recht gut miteinander aus, aber es verletzt sie, dass er sie praktisch ohne Grund verlassen hat."
Ich widerstrebte dem Verlangen, ihr tröstend eine Hand auf den Unterarm zu legen. Sie war enttäuscht von ihrem Vater, das konnte ich hören und ich war vermutlich die letzte Person, die sie hätte trösten können. In ihren Augen war ich vermutlich auf die Butterseite des Lebens gefallen. „Dein Dad ist doch bloß gegangen, weil er dich schützen wollte. Wäre er bei dir geblieben, hätten andere Jäger mit Sicherheit von deinem Dämon erfahren."
„Aber er liebt mich nicht mehr." Sie drehte ihr Gesicht zu mir und in ihren grauen Augen spiegelte sich Enttäuschung und Wut. „Er denkt, ich bin ein Monster. Besonders seit ich grüne Augen habe."
„Dein Vater weiß davon?"
Trish nickte. „Manchmal habe ich das Gefühl, Jäger wissen solche Dinge einfach. Und als Mom, Kace und ich ihn an Weihnachten besucht haben, hat er mich darauf angesprochen und gesagt, dass ich mich besser nicht mehr in seiner Nähe blicken lassen soll."
„Hast du denn jemanden getötet?", hakte ich unverblümt nach. Was hätte ich jetzt noch zu verlieren gehabt? Trish verneinte. „Dann hast du einen Mord nicht verhindert?" Sie schüttelte wieder den Kopf.
„Nicht direkt. Ich hätte nie gedacht, dass es wirklich passieren würde." Plötzlich ging mir ein Licht auf. Ein böses Licht.
„Addie?" Dieser Name verließ meinen Mund nur als Flüstern und dass Trish darauf nichts antwortete, war Antwort genug. „Addie ist Schuld daran, dass sich deine Seele grün gefärbt hat."
„Sie ist nicht... Schuld. Sie hat nur dazu beigetragen."
„Also ist sie Schuld."
Trish sah mich beklommen an. „Sag ihr das nicht. Ich will nicht, dass sie sich schlecht fühlt."
Das glaubte ich ihr aufs Wort. Addie hatte bereits genug damit zu tun, sich an einen Dämon zu gewöhnen. Sie musste nicht auch noch erfahren, dass sie es zu verantworten hatte, dass ihre beste Freundin mit einer Zielscheibe für Jäger auf dem Rücken herum rannte.
Ich richtete meinen Blick zum Fenster hinaus. Chase trainierte immer noch. Inzwischen war er zu Liegestützen übergegangen.
„Ist heute der Tag, an dem er mich umbringen wird?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, weil ich ihn noch nie hatte trainieren sehen. Trish folgte meinem Blick und schmunzelte.
„Das fragt er sich auch jeden Tag aufs Neue."
„Ich dachte er redet mit dir nicht über seine Arbeit."
„Ja, ich bin auch etwas verwirrt", lachte sie. „Du gehörst weder zu seiner Arbeit, noch seinem Privatleben. Du bist irgend so ein Mittelding."
„Schmeichelhaft." Ich verdrehte die Augen. „Wenigstens trägt er diesen Anhänger heute nicht." Trish legte den Kopf schräg und sah mich kurz verwirrt an, bevor sie zu nicken begann, als wäre ihr diese Tatsache eben wieder eingefallen.
„Hat er heute Morgen wohl vergessen."
Ich stieß einen verachtenden Laut aus. „Warum nimmt er sie dann überhaupt ab?"
Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Wie soll ich ihn denn sonst berühren?"
„Wie bitte?"
„Hat Aidan dir nichts erzählt?"
„Nein."
„Gut gemacht, Trish!" Sie fasste sich angestrengt an die Stirn. „Warum schreist du es nicht gleich vom Dach?"
Ich stieß einen kurzen Lacher aus. Einerseits war es keine allzu große Überraschung, andererseits widersprach es all meinen Vorstellungen. Ein Dämon, ein Mensch, ein Jäger. Und das sollte funktionieren?
„Ihr seid zusammen?"
„Gott, nein." Trish schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Dutt in sich zusammen fiel und sie das Haargummi wieder aus ihren Haaren zog. „Beziehungen sind nichts für Chase. Und für mich auch nicht. Wir schlafen nur miteinander." Eine Sache, die ich noch nie hatte nachvollziehen können. Ein paar meiner Freundinnen hatte solche seltsamen Freundschaft-Plus Beziehungen am Laufen gehabt, die ich weniger als nicht hatte verstehen können. Ich verstand nicht, wie Leute gerne Sex haben konnten und noch weniger, wie sie nur Sex haben konnten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich immer noch bezweifelte, Liebe für einen anderen Menschen empfinden zu können. Für mich hätte eine ideale Beziehung wohl aus Küssen, Kuscheln und viel Vertrauen bestanden, nicht mehr. Nur gab es wohl keinen Mann auf dieser Welt, der bescheuert genug gewesen wäre, auf so etwas einzusteigen. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass ich emotional verkrüppelt war, und vermutlich alleine, mit neun Katzen sterben würde.
Trish seufzte und sah wieder aus dem Fenster, diesmal aber auf das Meer hinaus. Chase war nirgends mehr zu sehen. „Er mag Menschen nicht besonders."
„Was du nicht sagst. Wäre mir beinahe entgangen."
„Aber", warf sie belustigt ein.
„Es gibt ein aber?"
„Für die Menschen, die ihm wichtig sind, würde er alles tun."
„Ist die Definition für Egozentriker neuerdings eine andere?"
„Er ist nicht so egoistisch wie du denkst."
Ich schüttelte heftig den Kopf und setzte mich aufrecht hin. „Okay, stop. Warum versuchst du mich gerade davon zu überzeugen, dass der Mann, der mich aus tiefster Seele hasst und gerne umbringen möchte, ein guter Mensch ist?" Die ganze Situation war mir so suspekt, dass ich beinahe zu lachen angefangen hätte.
„Tu ich gar nicht." Sie schwang ihre Beine über die Kante des Divans. „Was Dämonen angeht, denkt er wirklich zu gradlinig. Aber er wird die Sache mit seiner Schwester eben nie vergessen können."
„Amy."
Trish sah mich überrascht an. „Sag bloß, er hat dir davon erzählt."
„Er hat mir nur ihren Namen genannt."
Trish nickte und lenkte das Thema rasch auf mich und Anthony. Da sie mir (unabsichtlich, aber doch) von sich und Chase erzählt hatte, beschloss ich auf die Unterhaltung einzusteigen. Ich erzählte ihr in groben Zügen, wie die ganze Sache zwischen uns angefangen hatte, ließ das warum jedoch bewusst weg. Trish wollte eben nachfragen, warum Anthony und Victoria an jenem Abend, an dem er und ich uns zum ersten Mal geküsst hatten, gestritten hatten, als ich schnelle Schritte aus dem Flur hörte. Keine Sekunde später stand Chase im Raum und fixierte mich mit einem wütenden Blick.
„Hast du den Verstand verloren?" Er war immer noch ein wenig verschwitzt, aber wenigstens trug er jetzt ein T- Shirt.
„Was habe ich denn jetzt schon wieder getan?", fragte ich genervt.
„Hast du Aidan erzählt, dass Addie einen Mord innerhalb ihrer Familie begangen hat?" Na toll. Trish warf mir einen undefinierbaren Blick zu.
„Du hast es Aidan gesagt?"
„Moment." Chase sah Trish irritiert an. „Das war keine Lüge? Und du wusstest davon?" Trish stand auf.
„Sie ist meine beste Freundin und mich kann niemand anlügen. Es gibt nichts, das ich nicht über sie weiß", erklärte sie ruhig.
„Dann hast du mich belogen?"
„Hab ich nicht. Es ist ja nicht so, als ob du gefragt hättest Hat Addie jemanden umgebracht? und ich Nein geantwortet hätte."
„Oh, tut mir leid, wie dumm von mir, wie konnte mir diese offensichtliche Frage nur entfallen?", fragte er mehr als zynisch. Ich an Trish's Stelle, hätte jetzt Angst vor ihm bekommen, aber offenbar gehörte sie zu den Menschen, für die Chase alles tun würde, und wusste das auch, denn sie scheute sich nicht davor auf ihn zuzugehen.
„Ich lauf doch nicht in der Gegend herum und erzähle die Geheimnisse meiner besten Freundin. Das ist ihre Geschichte, nicht meine. Und es ist ihre Geschichte zu erzählen, wenn sie es will, wird sie es tun!"
„Es geht um Mord, Trish, Mord! Das geht uns alles was an, wir sind ihre Freunde."
„Du hast doch keine Ahnung, was passiert ist! Hör sofort auf, Addie zu verurteilen, du bist der Letzte, der das Recht dazu hätte!" Chase zuckte zusammen, als hätte Trish ihn geschlagen. Mit einem Mal war er ruhig und sah Trish wie versteinert an. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. In Trish's Blick spiegelte sich Schuld und sie schloss für einen Moment die Augen.
„Chase, ich wollte nicht..." Doch er drehte sich um und verließ den Raum.
~~ ~~
Es war weit nach Mitternacht, aber ich wälzte mich in meinem Bett hin und her und konnte nicht einschlafen. Zu viele Dinge schwirrten in meinem Kopf herum. In solchen Momenten wünschte ich mir einen Aus-Knopf für mein Gehirn. Seufzend schlug ich die Bettdecke zur Seite und stand auf. Mein Dämon hopste vom Fensterbrett herunter und folgte mir. Manchmal war er wirklich wie ein Hund. Ich vertrat mir ein wenig die Beine und überlegte, ob ein kleiner Drink mich ausknocken würde. Also trottete ich in die Bar, wenig überrascht, Chase dort vorzufinden. Er saß mit dem Rücken zu mir auf einem der Barhocker, neben sich ein fast leeres Glas und eine Flasche ziemlich teuren Scotch. Er drehte sich um, als er das Geräusch, der sich öffnenden Türe, hörte.
„Wunderbar, ich hab schon verzweifelt nach einem Grund zum Trinken gesucht", meinte er, drehte sich wieder um und kippte den Rest aus dem Glas hinunter, bevor er sich wieder etwas nachgoss. Ich beschloss, seine Kommentare ab jetzt zu ignorieren. Sie machten mir nur schlechte Laune und ich war verwundert, dass er von seiner negativen Ausstrahlung nicht selbst längst depressiv war.
Auch hier hatte sich, wie im Rest des Hauses, nicht das Geringste verändert. Eine typische, recht edel eingerichtete Bar, damit meine Eltern nach einem erfolgreichen Vertrag mit ihren Kunden oder Geschäftspartnern hatten anstoßen können. Ein paar Tische und Stühle links und rechts von dem Gang, der direkt zu der Bar hinführte. Das Licht war gedimmt und die Farben im Raum beschränkten sich auf Orange, Braun, Rot und Gold. Ich steuerte auf die Bar zu und machte dabei einen großen Bogen um Chase, ehe ich mich vor den Regalen mit den vielen feinsäuberlich aufgereihten Flaschen wiederfand. Ich hatte Chase zwar den Rücken zugekehrt während ich das Angebot studierte, aber dadurch das der hintere Teil der Regale verspiegelt war, hätte ich jeden potenziellen Angriff kommen sehen.
Bourbon war nicht wirklich mein Lieblingsgetränk, weil ich Whisky hasste, aber trotzdem landete er wenige Sekunden später in einem der Kristallgläser. Ich fragte mich zum ersten Mal in meinem Leben, wie viel Geld ich vertrank, während ich das Glas in einem Zug leerte und darauf wartete, dass das widerliche Brennen nachließ.
„Warum schläfst du nicht?", fragte Chase, ohne mich anzusehen.
„Was ist das denn für eine Frage?" Ich goss noch einmal Bourbon in mein Glas. Als ich ihn trank, brannte es weniger. „Ich kann nicht einschlafen."
„Ich könnte dir einen Schlag verpassen." Meine Augenbraue wanderte wie von selbst in die Höhe. „Ich bin sicher, dann schläfst du gut."
„Danke, aber ich glaube ich bleib bei Plan A." Ich prostete ihm mit dem erneut aufgefüllten Glas zu. Es brannte kein bisschen mehr. Mein Dämon sprang auf die Marmorplatte vor mir und legte sich zwischen Chase und mich. Dann warf er mir einen skeptischen Blick zu und deutete auf den Bourbon, aber ich zuckte nur mit den Schultern.
„Warum schläfst du nicht?", gab ich seine Frage zurück und spürte, wie der Alkohol seine Arbeit tat, besonders, weil ich vor Stunden das letzte Mal etwas gegessen hatte.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht."
„Es geht mich was an, wenn du hier sitzt und meine beste Flasche wegsäufst."
„Das ist nicht die Beste, keine Sorge." Er deutet mit seinem Glas hinter mich, auf den Scotch, der im dritten Regal in der Mitte in einer Glasvitrine stand. „Der Dalmore Trinitas ist die beste Flasche in diesem Raum." Ich kannte mich mit Alkohol um ehrlich zu sein kein Bisschen aus. Entweder er schmeckte, oder eben nicht. Aber keine Flasche hier hatte unter tausend Dollar gekostet, das war mal sicher.
Ich drehte mich wieder zu Chase und beobachtete ihn dabei, wie er in sein Glas starrte, als fände dort ein interessantes Basketballmatch statt. „Wie alt war sie?", fragte ich unvermittelt und stützte mich am Tresen ab. Chase sah auf und auf seinem Gesicht lag derselbe versteinerte Ausdruck, wie heute Vormittag, als er mit Trish gestritten hatte. Er wusste von wem die Rede war.
„Hör auf, nach meiner Schwester zu fragen. Das geht dich nichts an." Wenn ich das so einfach gekonnt hätte. Tatsächlich wünschte ich mir nichts mehr, als mich nicht in seine Angelegenheiten einmischen zu müssen, aber irgendetwas sagte mir, dass ich Chase besser verstehen können würde, würde ich erfahren, was mit seiner Schwester wirklich passiert war. Ich ging auch davon aus, dass er mich besser verstehen könnte, würde er wissen, was in meiner Vergangenheit alles passiert war. Wirklich wissen. Nicht bloß die trockenen Fakten in einer Akte über mich gelesen zu haben. Ich wollte Chase verstehen, aber offenbar war die Sache mit Amy der Schlüssel dazu und Trish wollte nicht reden. Und dann war da noch der Alkohol, der jegliche Rationalität und Vernunft aus meinem Körper jagte. Chase wandte sich wieder seinem Scotch zu. Er erinnerte mich ein bisschen an die typischen, alleine-an-der-Bar-sitzenden, melancholischen Trinker, aus so manchem Film.
„Sie war jünger, als du, oder?" Mein Dämon begann nun selbst zu knurren. Sogar er verstand, dass ich Chase lediglich auf hundertachtzig brachte. Vermutlich hätte ich wirklich aufhören sollen. Ihn einfach alleine lassen, auf mein Zimmer gehen, und mich von meinen alkoholbenebelten Träumen zudecken lassen. „Ich nehme an, dass sie nicht mehr lebt." Oder ich würde hier bleiben und so lange auf dem Thema herumstochern, bis bei ihm der Geduldsfaden reißen und er mir wirklich einen Schlag verpassen würde. Seine Kiefermuskeln spannten sich an und sein Griff um das Glas wurde fester. „Hat der Dämon sie getötet? Hasst du Dämonen deshalb?"
„Hör auf damit!", knurrte er.
„Was für ein Dämon war es?" Ich beugte mich weiter vor. „Dämonen haben normalerweise doch gar kein Interesse am Töten von Menschen, wenn sie damit nichts bezwecken können."
„Sei still!" Hör sofort auf Addie zu verurteilen, du bist der Letzte, der das Recht dazu hätte! Ich erinnerte mich an Trish's Worte und hatte auf einmal das Gefühl, zu begreifen.
„Oder war es nicht der Dämon, der sie umgebracht hat?", wisperte ich.
Chase sprang so schnell auf, dass der Stuhl nach hinten kippte. „Der Dämon hat von ihr Besitz ergriffen! Der Dämon hat sie umgebracht! Ein verdammter Dämon hat meine kleine Schwester umgebracht! Sie war Monate lang von diesem Monster besessen und konnte sich nicht wehren, und keiner hat es bemerkt! Er hat sie dazu gezwungen, Menschen zu töten! Ein Dämon ist schuld daran, dass meine Schwester tot ist!" Ich hätte mit diesem Wutausbruch rechnen müssen, aber das hatte ich in meinem angetrunkenen Zustand nicht getan. Ich stolperte zwei Schritte rückwärts und wäre beinahe gegen all die Regale geprallt. Ich schluckte schwer und mein Herz raste vor Schreck, als ich die schreckliche Wahrheit in seinen Augen erkennen konnte.
„Es war nicht der Dämon, der sie getötet hat", wiederholte ich, obwohl ich es augenscheinlich nicht hätte tun sollen. Chase beugte sich über die Bar.
„Es war die Schuld eines Dämons!"
„Aber Amy ist nicht durch seine Hand gestorben."
„Das spielt keine Rolle! Sie hat Menschen umgebracht, unschuldige Menschen. Und wir konnten ihr nicht helfen, diesen verdammten Dämon nicht austreiben, gar nichts! Wir hatten keine Wahl!"
„Als was?", fragte ich erschrocken. „Sie umzubringen?" Chase Körper begann vor Wut zu beben. „Ihr habt sie einfach umgebracht, weil ihr Jäger seid und keinen anderen Weg wusstet? Es hätte doch tausend andere Wege gegeben!"
„Halt den Mund, du hast keine Ahnung wovon du redest!"
„Wirklich? Du sagst, der Dämon hat sie umgebracht, aber das stimmt nicht. Und es war auch nicht deine Familie, sondern du alleine, hab ich recht?" Vermutlich hätte ich schneller auf Chase reagieren können, wenn ich nicht bereits so benebelt gewesen wäre, aber plötzlich konnte ich das Splittern der Flaschen hören und spürte erst Sekunden später den Schmerz, der sich über meinem ganzen Rücken und meinen Armen ausbreitete, bevor ich begriff, dass Chase weitaus mehr, als einen einfachen Schlag, vorhatte. Der Alkohol und die Scherben bildeten eine zu rutschige Oberfläche, sodass es Chase nicht schwerfiel, mich zum Straucheln zu bringen und ich fiel. Der Aufprall auf dem harten Boden raubte mir die Luft zum Atmen und ich spürte einmal mehr das unsägliche Brennen an meinem Hals, das ich wohl zum letzten Mal spüren würde. Chase Gewicht lag schwer auf mir und es war praktisch unmöglich, das Messer von mir wegzudrücken. Ich nahm meinen Dämon kaum wahr. Er bewegte sich aufgewühlt an der Decke hin und her und sendete Stoßgebete (an wen auch immer, Gott wohl kaum), dass ich nicht sterben würde. Wie konnte es bloß möglich sein, dass Chase locker eine Flasche getrunken hatte, aber trotzdem um so vieles stärker und geschickter war, als ich, die lediglich drei Gläser getrunken hatte? Nach einigen kläglichen Versuchen ließ ich meine Hände sinken und sah Chase schweratmend an. Ich spürte wie das warme Blut meinen Hals entlang lief. Noch ein bisschen tiefer und ich wäre tot. Das Brennen an meinem Hals wurde nur durch den Alkohol gedämpft, aber es fühlte sich trotzdem an wie Brennnesseln, Feuer und Eis gleichzeitig.
Da war nur Wut. Nur Wut in seinen Augen. Ich wusste nur nicht, ob er wütend auf mich oder sich war. Vermutlich auf uns beide und bisher war sein Zorn immer nur gegen mich gerichtet gewesen. Ich hatte immer gedacht, ich hätte ihn nicht wütender machen können, als damals im Myway, oder als er mich im Wald fast umgebracht hätte, oder als ich sein Auto geklaut hatte. Doch nun sah er in mir den Dämon, der von seiner Schwester Besitz ergriffen hatte.
„Töte mich doch." Meine Stimme kratzte in meinem Hals und jedes Wort schmerzte. „Wenn du dich dann weniger hasst." Aber er bewegte sich nicht mehr. Das Messer lag noch immer auf meiner Haut. Er hätte nur abrutschen müssen. Sich nur ein bisschen mehr nach vorne beugen. Und ich wäre tot gewesen. Also lag ich da, von dem Alkohol betäubt und wartete darauf, dass Chase dem Ganzen ein Ende setzen würde. Je länger es dauerte, desto mehr wurde ich mir der Situation bewusst und desto mehr begann mein Körper zu zittern und Panik trieb mir Tränen in die Augen, denen ich verbat, über meine Wangen zu laufen. Weinend würde ich auf keinen Fall sterben, aber ich wollte nicht noch länger auf das Unvermeidliche warten. In wenigen Sekunden wären all meine Probleme gelöst und ich würde meiner Schwester in der Hölle wieder begegnen.
Doch mit einem Mal verschwand das Gewicht auf meinem Körper und meine Hand schoss an meinen Hals, um die Wunde zu verdecken, während ich einen tiefen, brennenden Atemzug nahm. Doch ich konnte mich nicht weiter bewegen. Ich konnte nur hören. Ich hörte die Tische und Stühle, die Chase umwarf, und die Flaschen und Gläser, die zerbrachen, während er die Bar verließ. Selbst als er sich nicht mehr im Raum befand, klang es, als würde er Löcher in die Wände schlagen. Ich spürte die Glasscherben in meinem Rücken und den Alkohol, der meine Kleidung durchtränkte. Die Schärfe stieg mir in die Nase. Das Blut lief zwischen meinen Fingern hindurch. Die Wunde war nicht annähernd so schlimm, wie die an meinem Bein. Etwas kitzelte meine Wangen und ich begriff, dass ich nun doch weinte. Zitternd versuchte ich zu atmen, denn ich hatte das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen. Mein Dämon legte sich neben mich, sagte aber kein Wort. Er berührte meine Hand und ich spürte die Kälte, die meinen Körper durchzog und sich an den Stellen konzentrierte, an denen ich verletzt war.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Boden lag und mich nicht bewegte. Es war wieder still. Ich wusste, dass Chase gegangen war. Ich betete, dass er nicht zurückkommen würde. Wahrscheinlich hätte ich mich irgendwo verstecken sollen, nur für den Fall, dass er seine Meinung ändern würde. Oder ich hätte auf mein Zimmer laufen und das Dämonenblut testen sollen.
Irgendwann richtete ich mich vorsichtig auf und lehnte mich erschöpft gegen die Bar. Ich wollte das Chaos, das vermutlich im Rest des Raumes herrschte, nicht sehen. Ich begann noch mehr zu zittern und konnte nicht aufhören zu weinen. Das lag jedoch nicht nur an dem, was eben passiert war, sondern an allem. Ich begriff zum ersten Mal in meinem Leben, dass Dämonen tatsächlich alles zerstörten und jedem wehtaten, der ihnen zu nahe kam. Mein Dämon hat mein Leben zerstört. Wellen der Erkenntnis brachen über mir zusammen, als ich daran dachte, dass es seine Schuld war, dass ich entführt worden war. Seine Schuld, dass ich niemandem vertrauen konnte. Seine Schuld, dass ich getötet hatte. Ich begriff auch, dass ich Anthony verloren hatte, weil ich mich für Aidan entschieden hatte, noch bevor es mir klar gewesen war. In diesem Moment jedoch wurde es bewusst, weil ich Aidan neben mir haben wollte, nicht Anthony. Ich wollte, dass er hier neben mir sitzen, mich in seine Arme nehmen und mir irgendetwas Beruhigendes zuflüstern würde. Doch das war mir erst seit fünf Sekunden klar. Ich hatte auch Delilah verloren, meine beste Freundin. Ich hatte sie in dem Moment verloren, in dem ich meinem Dämon begegnet war. Ich hatte mein ganzes Leben verloren, wegen eines Dämons. Wegen einer Kreatur, die ich immer noch zu schützen versuchte. Er wollte sich an mich schmiegen, aber ich rückte hektisch weg von ihm.
„Verschwinde!", weinte ich. „Geh weg! Lass mich in Frieden!" Ich wusste, dass ich mich nicht von ihm trennen können würde, weil ich ihn immer noch brauchte, aber ich konnte ihn jetzt nicht sehen. Er hatte mir die Chance auf ein normales Leben genommen und das war mir eben zum ersten Mal klar geworden. Ich zog die Beine an, verschränkte meine Hände hinter dem Kopf und wiegte mich wie ein Kind vor und zurück, während ich krampfhaft alle abgeriegelten Erinnerungen zurück in ihre Zellen zu versuchen drängte, bevor sie an die Oberfläche tauchen konnten. Mein Dämon gab keinen Laut von sich, machte aber auch keinerlei Anstalten, sich von mir fortzubewegen.
Ich saß noch lange da. Vermutlich bis zum Morgengrauen. Doch dann rappelte ich mich auf. In all den Stunden des Denkens und Verarbeitens, waren mir vier Dinge klar geworden.
Erstens: Mein Dämon hatte mein Leben zerstört.
Zweitens: Trish's Dämon hatte ihr Leben zerstört.
Drittens: Ein Dämon hatte Chase Leben zerstört.
Dämonen verdarben alles und jeden.
Und viertens: Wenn ich nichts unternehmen würde, dann würde ein Dämon auch Addie's Leben zerstören.
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