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Beverly

So sehr ich mein Haus auch hasste, das Wetter in Santa Barbara war allemal besser als in Fresno. Die Sonne schien und es hatte fast zwanzig Grad im Schatten. Der Wind wehte nicht vom Meer her, sondern vom Land, weshalb es sogar noch ein wenig wärmer schien. Schwimmen würde ich zwar noch nicht riskieren (unter anderem auch wegen der nervtötenden Wunde an meinem Bein), aber ich hatte die Sonne vermisst.

Es hatte sich immer schon seltsam angefühlt, in einem so riesigen Gebäude alleine herumzulaufen. Selbst wenn jemand zu Hause gewesen war -die Chance auf jemanden zu treffen, ohne explizit nach dieser Person zu suchen, war eher gering gewesen. Unsere Haushälterin und die Kindermädchen waren immer so unauffällig und leise gewesen, dass ich sie nie bemerkt hatte. Mein Frühstücksgeschirr war wie von selbst verschwunden, getragene Kleidung hatte am nächsten Tag wieder sauber und gebügelt in meinem Schrank gelegen. Ganz egal, wie viel Unordnung ich auch zu machen versucht hatte, sobald ich den Raum das nächste Mal betreten hatte, war alles wieder aufgeräumt und sauber gewesen. Ein Wunder, dass ich keinen Putzfimmel entwickelt hatte. Heute war Sonntag, also war erst recht keiner da. Außer mir. Und auch morgen würde ich alleine sein.

Nachdem ich gestern praktisch aus meiner Wohnung-auf-Zeit rausgeworfen worden war, war ich erst nur ziellos durch die Gegend herumgeschweift. Ich hatte ungefähr zwanzig Mal überlegt, ob ich zurückgehen und meine Zeichnungen holen sollte, aber gleichzeitig war es mir in diesem Moment auch völlig egal gewesen. Ich hatte einfach nur weglaufen wollen. Erst hatte es mich zu meiner ehemaligen Klinik getrieben. Ich hatte mir die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, damit man mich auf den Überwachungskameras nicht hatte erkennen können, während ich ein paar Mal um den Block gelaufen war. Ich hatte gehofft, Rose an ihrem Fenster sitzen zu sehen, aber es war früher Nachmittag gewesen und sie hatte vermutlich in einer Gruppentherapie festgesessen. Schließlich hatte ich beschlossen, doch lieber wo anders in Selbstmitleid zu versinken, bevor man mich entdecken würde. Außerdem war mir kalt geworden, aber ich hatte nicht einmal ansatzweise in der Nähe von Fresno sein wollen und schon gar nicht mitten in der Stadt. Also hatte ich mich in irgendeinen Bus gesetzt. Nach etwa zwanzig Minuten war mir dann aufgefallen, dass dieser direkt nach Santa Barbara fuhr, der Ort, an dem ich halb offiziell wohnte, also war ich einfach sitzen geblieben. Die Fahrt hatte etwa vier Stunden gedauert und ich wäre ein paarmal fast eingeschlafen. Als ich ausgestiegen war, hatte ich erst einmal einen kleinen Hitzeschock erlitten. Ich hatte den Temperaturunterschied völlig falsch eingeschätzt und augenblicklich meine Jacke ausgezogen.

Es hatte mich noch etwa dreißig Minuten Fußmarsch durch die breiten Straßen gekostet. Rechts von mir die menschen- und autoleere Straße, die riesigen Villen und der Strand und das Meer dahinter. Links die kleineren Anwesen mit Garten, einige Palmen am Straßenrand und dahinter hoben sich kleinere Hügel in der Ferne ab. Merkwürdigerweise hatte sich eine tiefe Ruhe in mir ausgebreitet, als ich die weiße Mauer und die verzierten, hohen Eisenzäune hatte sehen können, die das ganze Grundstück vom Rest der Umgebung abgrenzten. Zwischen den einzelnen Villen waren etwa zehn Quadratmeter große Flächen mit Bäumen bepflanzt, um die Gärten vor neugierigen Blicken der Nachbarn zu schützen. Es hatte bereits gedämmert und die diversen Laternen, Lampen und Lichter unseres Hauses waren mit Bewegungssensoren ausgestattet. Dadurch hatte vermutlich die ganze Straße mitbekommen, dass irgendjemand in dieses Haus gegangen war. Ich hatte eigentlich unauffällig bleiben wollen, soviel dazu. Unsere Villa war wie eine Leuchtreklame. Meine, schoss es mir durch den Kopf. Nicht unsere. Meine. Irgendwann würde ich mich schon noch daran gewöhnen...

Schlüssel waren glücklicherweise überflüssig gewesen. Das schwarzlackierte Eisentor ließ sich mit einem zehnstelligen Pin-Code öffnen, genau wie die, aus Glas gefertigte, Haustüre. Vermutlich wäre es klug von mir gewesen, den Code auf zweiunddreißig Stellen zu erhöhen. Ich traute Chase durchaus zu, ihn zu kennen.

Nach diesem Tag hatte ich mich einfach nur noch in mein Bett geworfen und war auch verdammt schnell eingeschlafen. Dafür hatte ich am Morgen für einige Sekunden nicht gewusst, wo ich war.

Es war mittlerweile früher Nachmittag und ich fragte mich, wohin der Tag so schnell verschwunden war. Ich war frühmorgens aus dem Bett gekrochen und hatte im Grunde den ganzen Tag nichts anderes getan, als in diesem Haus irgendetwas zu finden, das anders war, als früher. Doch dieses Gebäude schien jenseits von Raum und Zeit zu liegen. Es war komplett und zu einhundert Prozent gleich, wie vor zwei Jahren. Es hatte sich nicht das Geringste geändert. Ich war in jedem Raum gewesen, mit Ausnahme des Schlafzimmers meiner Eltern und dem meiner Schwester. Alles sah gleich aus. Makellos, sauber, unberührt, verlassen. Vom Fitnessraum, bis hin zur Poolanlage, der Bar und der Dachterrasse. Die Gästezimmer, die Arbeitszimmer, der Konferenzraum, das Musikzimmer, die Spielhalle mit Bowlingbahn, Billiardtisch und Tischkicker. Der Garten war gleich, die Garage war gleich und es hatte sich für einen kurzen Moment so angefühlt, als hätten die letzten zwei Jahre nie stattgefunden. Als würde meine Schwester jede Sekunde um die Ecke kommen und mir sagen, dass sie ein paar Freunde eingeladen hatte (so um die fünfzig) und mich den Abend über nicht sehen wollte. Es hatte sich angefühlt, als ob meine Mutter aus dem ersten Stock ins Wohnzimmer kommen würde, in ihrer typischen Bussinesskleidung und perfekt hochgesteckten Haaren, und mir Bescheid geben würde, dass sie übers Wochenende nach St. Louis fliegen musste. Sie hätte mein Gesicht in ihre Hände genommen und mir einen Kuss auf die Stirn gedrückt, bevor sie mit ihrer kleinen Handtasche aus dem Haus gestöckelt wäre. Es hatte sich angefühlt, als ob mein Vater an meine Zimmertüre klopfen und mich fragen würde, ob ich mit ihm Billiarde spielen wollte. Ich hätte aus purer Freundlichkeit zugestimmt, so wie er aus purer Freundlichkeit gefragt hätte. Das Spiel hätte nicht lange angehalten, denn nach spätestens zehn Minuten wäre er angerufen worden, und hätte sich entschuldigt, denn er musste in sein Arbeitszimmer, seine Finanzen überprüfen, mit denen seine Angestellten jonglierten.

Jetzt saß ich am Strand. Der helle, beinahe weiße Sand unter mir und ein gut gekühltes Bier griffbereit. Der Sand blieb am unteren Teil der Flasche kleben und bröckelte jedes Mal an einigen Stellen herunter, sobald ich einen Schluck trinken wollte. Die Sonne brannte ungewohnt stark auf meiner Haut. Mein Dämon raste an der Küste entlang, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte, kam dann wieder zurück und hüpfte in die andere Richtung davon. Das tat er schon seit einiger Zeit. Er wusste, dass ich mich hier auf seltsame Art und Weise, wohl doch irgendwie zuhause fühlte. Wenn ich das fühlte, fühlte er es auch. Ich war nun einmal hier aufgewachsen, und dass diese Umgebung zu meinem Wohlbefinden betrug, würde ich nie ändern können. Zumindest fühlte ich mich wohl, solange ich am Strand saß.

Das Wasser glitzerte türkis und die Palmen, die hinter mir aufragten und ihren Schatten warfen, wiegten sich im Wind leicht hin und her. In der Ferne sah ich kleine Boote über das Wasser gleiten. Oder vielleicht waren es auch keine kleinen Boote, sondern riesige Schiffe, die einfach nur verdammt weit weg waren. Einige Meter neben mir türmten sich die großen glitschigen Steine, auf denen meine Schwester und ich als Kinder herumgeturnt waren. Ich wusste, dass sich hinter einem der Steine ein großer Hohlraum befunden hatte, den wir als Geheimversteck genutzt hatten, aber er war mittlerweile bestimmt von Sand oder anderen Steinen zugeschüttet worden.

Kalifornien hatte wohl mit die schönsten Strände der Welt. Privatstrände waren sowieso am angenehmsten. Sie waren ruhig und das Meer wurde nicht von tausenden Menschen in einen großen Pool verwandelt, dessen unendliche Weite man wegen der vielen Luftmatratzen und Plastikbälle nicht mehr bewundern konnte. Ich riss einen Grashalm, der neben mir aus dem Sand ragte, heraus und wickelte ihn gedankenverloren um meinen Finger.

Ich hatte nur eine kurze Hose und ein lockeres Top an, meine Haare zu einem losen Knoten zusammen gebunden und trotzdem war mir heiß, also ließ ich den Grashalm fallen, griff nach meinem Bier und rutschte solange rückwärts, bis ich im Schatten der Palmen saß. Ich legte mich auf den Rücken, wohlwissend, dass ich die Sandkörner vermutlich noch Tage später aus meinen Haaren klauben können würde, und schloss die Augen. Das Rauschen der Wellen und das Schreien der Möwen, hatte etwas Beruhigendes an sich. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich den Geruch des Meerwassers vermisst hatte. Den salzigen Duft, der in der Nase kitzelte und auf der Haut kribbelte. Ich grub meine Hände in den warmen Sand, hob eine Handvoll auf und ließ ihn zwischen meinen Fingern wieder zu Boden rieseln.

Wenn ich nicht konstant verdrängt hätte, dass ich im Grunde genommen völlig alleine auf dieser Welt war, wäre ich mit Sicherheit nicht so entspannt gewesen.

Nach einiger Zeit konnte ich eine Gruppe von Menschen reden hören. Ich schlug die Augen auf, setzte mich aufrecht hin und ließ meinen Blick über den Teil des Strandes schweifen, der nicht mehr zu meinem Grundstück gehörte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich freuen oder verstecken sollte. Innerlich fluchte ich jedenfalls ein bisschen vor mich hin. Mir hätte klar sein müssen, sie alle hier früher oder später anzutreffen. Ihr Haus lag nur etwa fünf oder sechs Villen von meinem entfernt. Aber sie hatten mich noch nicht gesehen, weshalb ich wohl hätte aufstehen und verschwinden sollen, was ich jedoch nicht tat. Ich blieb auf meinem Fleckchen sitzen und beobachtete die Gruppe dabei, wie sie sich, recht weit von mir entfernt, niederließ, ihre Badetücher ausbreitete, lautstark lachte und ins Wasser rannte.

Mein Dämon hopste auf mich zu und knurrte, als er die Gruppe im vermutlich eiskalten Wasser toben sah.

„Das sehe ich auch", entgegnete ich genervt. Er fragte mich, warum ich nicht zurück ins Haus ging, worauf mir keine Antwort einfiel. Es dauerte nicht lange, bis alle von der Kälte getrieben wieder aus dem Wasser kamen und sich mit einer Runde Volleyball aufwärmten. Ich sah dem Ball dabei zu, wie er nahezu perfekt von Person zu Person sprang. Vermutlich hätte ich in dem Moment aufhüpfen und davon laufen sollen, in dem der Ball nur etwa fünf Meter neben mir landete. Doch ich tat es nicht. Ich hätte der Gruppe noch länger beim Spielen zusehen können, nur um mir vorzustellen, alles wäre wie früher, aber jetzt lag der Ball neben mir und ich sah Anthony auf mich zujoggen. Je näher er kam, desto langsamer wurde er, weil er überrascht erkannte, wer da im Schatten der Palmen im Sand saß. Ich seufzte, stand auf, klopfte den Sand notdürftig von meiner Kleidung, hob den Volleyball auf und ging ihm entgegen. Wir trafen einander an einem der großen Steine. Mein Herz klopfte. Entweder weil ich mich freute ihn wieder zu sehen, oder weil mich die Situation nervös machte. Ich versuchte, mich auf das Rauschen der Wellen zu konzentrieren, aber meine Blicke blieben immer wieder an ihm hängen. Wassertropfen perlten aus seinen Strähnen und liefen ihm über seine starken Schultern und Arme. Ich wusste, dass sie stark waren, weil sie mich mehr als einmal getragen hatten. Sandkörner klebten vereinzelt an seinem Körper.

„¡Maldita sea!", entfuhr es ihm, mit einem leisen Lächeln. Ich hatte seinen mexikanischen Akzent schon immer gemocht, sowie die Tatsache, dass er prinzipiell nur auf Spanisch fluchte. Manchmal redete er auch auf Spanisch mit mir, einfach weil er im Affekt oft vergaß, dass ich Amerikanerin war. Seine Mutter war Kanadierin und sein Vater Mexikaner. Ich kannte und mochte beide. Sie waren unfassbar herzliche Menschen und hatten mich bei sich immer willkommen geheißen. Selbst gegen Vicky hatten sie nie ein Wort gesagt, obwohl sie sie nicht wirklich gemocht hatten, das hatte ich aus ihren Gedanken heraushören können. Sie hatten auch mich nie dafür verurteilt, dass ich mit Anthony ziemlich viel Zeit verbracht hatte, nachdem er und meine Schwester kein Paar mehr gewesen waren. Leben und leben lassen, war wohl das Motto, nachdem Anthonys Eltern lebten. Er selbst sah seinem Vater unfassbar ähnlich, hatte aber die ruhige Art seiner Mutter geerbt. „Ich hätte nicht gedacht, dich je wieder zu sehen, Bev."

„Tut mir leid, dich zu enttäuschen", gab ich zurück.

„Ich bin froh, dass ich mich geirrt habe." Sein Blick glitt flüchtig meinen Körper entlang, bevor er wieder meine Augen traf. „Was ist mit deinem Bein passiert?"

Reflexartig sah ich an mir hinunter. Der Verband hielt mein Bein immer noch zusammen.

„Gestolpert und an einem Stein aufgeschnitten." Ich hielt ihm den Volleyball hin. Er nahm ihn entgegen, wobei sich unsere Hände berührten. Mir fiel auf, dass ich neben ihm vermutlich so weiß wie der Schnee in Fresno war. Ich mochte seinen dunklen, südländischen Hautton. Seine Haare waren etwas länger, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, und fielen ihm in die Stirn. Ich warf einen nervösen Blick an ihm vorbei, zu den anderen, die sich bestimmt wunderten, warum er so lange brauchte. Ich wollte nicht, dass alle herüberkamen. Aber gleichzeitig wollte ich auch nicht, dass Anthony wegging.

„Wohnst du wieder hier?", fragte er und deutete hinter mich, auf die Villa. Es klang beinahe hoffnungsvoll und ich musste lächeln.

„Nein, es ist eher eine Art vorübergehende Lösung. Aber das Wetter ist definitiv besser als in Fresno."

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Was hast du denn in Fresno gemacht?"

Sehr gut, Beverly. Ich biss mir auf die Zunge. Ich konnte nichts über Aidan, Addie, Chase oder Trev sagen. Anthony kannte sie. Dieser viel zu langen und unglaubwürdigen Geschichte wollte ich gerne ausweichen, denn sie hätte sowieso nur aus Lügen bestanden. „Nichts Wichtiges. Nur irgendwelche... Bankgeschichten. Das Unternehmen meiner Eltern. Du weißt schon." Das musste er mir abkaufen. Eine andere Ausrede hatte ich nämlich nicht.

„Wie lange bist du wieder..."

„Auf freiem Fuß?", bot ich ihm an. Er stieß ein wenig nervös den Atem aus.

„Du warst ja nicht im Gefängnis."

„Kommt auf dasselbe raus." Er hätte mir wenigstens die Freude machen können, sich ein T-Shirt anzuziehen. Es war nicht so einfach meinen Blick in seinem Gesicht zu lassen. „Seit ein paar Wochen."

Ein Augenblick der unangenehmen Stille folgte, was ich uns beiden nicht verübeln konnte. Wir hatten uns das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen. Nachdem Victoria uns erwischt und mit ihm Schluss gemacht hatte, hatten wir uns noch öfters getroffen, aber ich hatte mich schlecht gefühlt, weil ich meiner Schwester praktisch den Freund ausgespannt hatte, und hatte die Sache mit Anthony beendet. Damals hatte ich auch noch nicht gewusst, was für ein Miststück meine Schwester gewesen war, sonst hätte ich Anthony wohl täglich mit nach Hause genommen und ihr unter die Nase gerieben, dass ich ihren Freund jetzt hatte. Aber nach dem Autounfall war ohnehin alles aus dem Ruder gelaufen, sodass ich gar keine Zeit mehr gehabt hatte an Anthony zu denken. Aber je länger wir einander gegenüber standen, desto mehr wurde mir wieder einmal bewusst, warum ich mich in seiner Nähe immer so wohl gefühlt hatte.

Eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ meinen Blick erneut an Anthonys Schulter vorbeihuschen. Eine Person aus der Gruppe hatte sich gelöst und kam auf uns zu.

„Tony, ¿Vienes?" Es war Delilah, seine Schwester, und meine ehemalige beste Freundin. Sie würde sich bestimmt freuen mich wieder zu sehen, aber ich hatte Angst, dass bald alle hier stehen würden. Anthony drehte sich um.

„¡Sí, un minuto!", rief er zurück, bevor er sich wieder mir zuwandte. „Wie lange bleibst du noch hier?"

„Ich weiß noch nicht genau. Ein paar Tage, vermutlich", antwortete ich vage. Ich wurde nervös. Diese Unterhaltung machte mich nervös. Die Tatsache, dass seine Schwester auf uns zukam, machte mich nervös. Dass Anthony mich so anlächelte, machte mich nervös. Und ich hatte nichts, womit ich meine Hände hätte beschäftigen können, außer am Saum meines Tops herumzuzupfen.

„Und du wohnst jetzt alleine? In diesem riesigen Haus?" Anthony konnte ich ziemlich leicht lesen, auch ohne übernatürliche Fähigkeiten. Er lächelte mich immer noch an. „Soll ich später rüber kommen?"

Mein Herz flatterte und ich hasste es dafür. Ich lächelte zurück und nickte. Diese ungefähr eintausend Quadratmeter alleine zu bewohnen, war tatsächlich langweilig.

Delilah kam näher und ich war mir sicher, dass sie mich erkannt hatte, denn sie kam mit immer schnelleren Schritten auf uns zu.

„¡Dios mío!", quietschte sie und hüpfte aufgeregt auf mich zu.

„Sei leise!", zischte ich panisch und hielt meinen Zeigefinger vor die Lippen, aber die Anderen waren gerade dabei, ein paar Flaschen Alkohol zu vernichten, so wie es aussah, und taumelten übermütig im Sand herum. Eigentlich eine gewagte Sache, in Kalifornien, in der Öffentlichkeit unter einundzwanzig Jahren Alkohol zu trinken, aber dann fiel mir ein, dass der ganze Strandabschnitt Privatbesitz der jeweiligen Hausbesitzer war und es wohl niemanden interessierte. Anthonys Eltern hatten nie etwas dagegen gehabt, dass ihre Kinder Alkohol getrunken hatten. In Mexiko war das bereits ab achtzehn legal und ich Kanada mit neunzehn.

Sobald Delilah uns erreicht hatte, umklammerte sie mich so fest, dass ich für einen kurzen Moment keine Luft bekam. Ich umarmte sie natürlich zurück, aber nicht einmal ansatzweise so stürmisch.

„D, ich kann nicht atmen", presste ich hervor, woraufhin sie mich losließ, dafür aber an beiden Schultern packte und schüttelte.

„¿Cuándo has vuelto?", fragte sie, bis ihr augenscheinlich auffiel, dass sie immer noch spanisch sprach. Ich hatte es trotzdem verstanden, aber sie wiederholte sich. „Seit wann bist du wieder hier, B?"

Ja, dieses D und B war so eine Sache für sich. Das ganze hatte eigentlich damit angefangen, dass wir eine gemeinsame Reise nach Rom unternommen hatten. Lediglich vier Tage, weil meine Eltern um mein seelisches Wohl besorgt gewesen waren. Ich hatte den schiefen Turm von Pisa mit meinen eigenen Augen gesehen und wir waren im Kolosseum gewesen. An unserem letzten Tag hatten wir in einer dieser kleinen, überteuerten Souvenirshops diese unfassbar süßen Halsketten gefunden. Diese richtig kitschigen, die jeweils aus einer Herzhälfte bestanden und zusammen ein ganzes ergaben. Vorne hatte Best friends und forever darauf gestanden und auf der Rückseite hatte man noch etwas eingravieren lassen können. Dabei hatten wir uns auf unsere Anfangsbuchstaben beschränkt. Was soll ich sagen? Wir waren fünfzehn gewesen, alleine in Italien und hatten definitiv zu viel Geld gehabt. Ganz nüchtern waren wir wohl auch nicht gewesen. Einander bei unseren Anfangsbuchstaben zu nennen, war anfänglich wie ein Spiel gewesen und später zur Gewohnheit geworden. Natürlich trug sie die Halskette nicht mehr um den Hals. Das wäre ziemlich lächerlich gewesen. Stattdessen baumelte eine zarte Kette, vermutlich aus Weißgold, mit einem kleinen Diamanten in der Mitte, um ihren Hals. Passend dazu natürlich Armband und Ohrringe. Was ich von meinen Eltern stets abgelehnt hatte, hatte Delilah schon immer bereitwillig angenommen. Jedoch musste ich feststellen, dass sie sich kaum verändert hatte. Ihre Haare waren nur noch schulterlang und der dunkelblaue Bikini war neu, aber ansonsten sah sie so aus wie früher. Sie hatte denselben südländischen Hautton, wie ihre Geschwister, und dunkle Augen. Wir hätten uns vermutlich immer noch einen Kleiderschrank teilen können. Wir waren gleich groß und hatten beinahe dieselbe Figur. Von Unterwäsche bis Jacken und Schuhen, hätten wir einander alles leihen könne. Das war bei Übernachtungen nebenbei gesagt, unfassbar praktisch gewesen. Im Gegensatz zu Tony hatte sie aber auch die sprudelnden, mexikanischen Charakterzüge ihres Vaters übernommen

„Mein Gott, ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist!" Sie drückte mich schon wieder an sich und ich musste lachen. „Wie lange bist du wieder draußen? Geht es dir wieder besser? Wo wohnst du? Du wohnst wieder hier, oder? Du bist total blass, B, das geht gar nicht, du bist Kalifornierin. Tut mir leid, ich rede zu viel, oder? Aber es ist der reine Wahnsinn, dass du wieder hier bist, ich hab gar nicht gemerkt wie sehr ich dich vermisst habe!"

„Lange wird sie wohl nicht mehr hier sein, wenn du sie jetzt schon verjagst", meinte Anthony amüsiert, woraufhin Delilah sich löste, umdrehte und ihm auf die Schulter schlug.

„¡Cállate!" Dann nahm sie meine Hände in ihre und schwang sie gut gelaunt hin und her.

„Ihr sagt doch nichts, oder?" Ich sah unsicher zwischen den beiden hin und her. „Ich will nicht, dass alle Welt weiß, dass ich hier bin. Und Evan schon gar nicht."

„Keine Sorge", lachte Anthony und drehte den Volleyball in seinen Händen.

„Wir sagen es schon keinem", versicherte Delilah und hörte auf unsere Arme hin und her zu schaukeln.

„Auch nicht Keith und Nola, versprochen?" Ich war ein bisschen paranoid, das wusste ich. Aber ich kannte die Beiden. Ein Geheimnis war bald eine Neuigkeit, von der jeder wusste.

„Wir halten die Klappe, aber du solltest gehen, bevor sie herüberkommen." Delilah drückte meinen Arm und lächelte mich an. „Du musst mir später unbedingt alles erzählen, was ich verpasst habe. Und ich muss dir auch so viel erzählen, das glaubst du gar nicht. Zwei Jahre sind es gewesen. Das ist total krass. Ich komm nachher vorbei."

Antony, der eindeutig mit mir hatte allein sein wollen, wollte seiner Schwester widersprechen, aber sie sah ihn lediglich schadenfroh an, nahm ihm den Volleyball weg und lief davon.

„¡Lilah, eres mala, no es justo!", rief er ihr hinterher.

„¿Y? Eres más lenta que una tortuga", lachte sie. Anthony drehte sich hastig zu mir.

„Ich komm gegen fünf." Dann rannte seiner Schwester nach um ihr den Ball wieder abzunehmen, aber sie warf ihn Keith zu, der ihn wiederum zu Nola passte.

„Dann bis fünf", murmelte ich und füllte meine Lungen ein paar mal ausreichend mit Luft. Dann ging ich zurück zu meinem Schattenplätzchen, hob die Bierflasche auf und stapfte durch den Sand zurück zu den Steinstufen, die nach oben zu meinem Haus führten. Von dort aus, bis zum Gartentor, den mit Steinplatten ausgelegten Weg durch den Garten, über die kleinen Brücken, die die Poollandschaften verbanden, zu unserer Terrasse und schob die schwere Glastüre auf.

Während ich auf mein Zimmer ging, wobei ich mit Sicherheit eine Sandspur hinterließ, überlegte ich, ob ich nun froh oder verärgert sein sollte, dass Delilah auch kommen wollte. Als ihre ehemalige beste Freundin, sollte ich vermutlich glücklich sein. Aber als das Mädchen, dass mit Anthony hatte alleine sein wollen, war ich ganz und gar nicht zufrieden. Vielleicht würde sie ja früher gehen und Anthony hier lassen. Ich konnte nicht sagen, warum ich so unbedingt mit Anthony hatte allein sein wollen. Wahrscheinlich, weil er mir, selbst nach dieser langen Zeit, ein Gefühl der Sicherheit gab. Und im Gegensatz zu manch anderen Personen, mochte er mich.

Trödelnd ging in mein Badezimmer, schloss die Türe und sperrte ab, obwohl ich alleine zu Hause war. Ich hasste geöffnete Türen. Dann streifte ich meine sandige Kleidung ab und stieg unter die Dusche. Als die sanften Wassertropfen auf meinen Körper prasselten, wusste ich was mir gefehlt hatte. Ich konnte es wohl noch sooft verleugnen. Ganz verabscheuen konnte ich dieses Haus dann wohl doch nicht. Höchstens die Erinnerungen daran und die Personen, die darin gelebt hatten.

Meine Haare waren innerhalb weniger Minuten wieder trocken und ich zog mich um. Da ich nicht so recht wusste, was ich die nächsten drei Stunden mit mir anfangen sollte, beschloss ich, einkaufen zu gehen. Es war nichts zu essen da. Für gewöhnlich war der Kühlschrank immer gefüllt, weil unsere Haushälterin einkaufen ging, aber natürlich nur, wenn auch tatsächlich jemand hier wohnte. Also musste ich das wohl oder übel tun. Ich kramte meine Kreditkarte aus meiner Jackentasche und machte mich auf den Weg. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mit einem der Autos zu fahren, einfach weil ich es konnte und es sich gut anfühlte, aber so weit war es nicht und beim Autofahren konnte ich nicht wirklich nachdenken. Denn nun, da ich wieder ein wenig zur Ruhe gekommen war, machte ich mir durchaus wieder Sorgen, ob Aidan meine Zeichnungen durchstöberte. Mehr denn je. Er hasste mich. Er hatte keinen Grund, sie nicht sehen zu wollen. Und dann würde er es wissen. Er würde alles wissen. Die Entführung. Was er getan hatte. Was ich getan hatte. Der Autounfall. Evan. Alles. Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht, also drängte ich ihn schnell beiseite. Mein Dämon hüpfte aufgeregt neben mir her. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen.

„Wehe, du benimmst dich heute nicht", knurrte ich. Er hopste weiter vor mir her und sah mich aus seinen blutroten Augen beinahe unschuldig an, eine Emotion, die ich von ihm nicht kannte.

„Du magst Anthony, oder?", fragte ich überrascht. Er gab zurück, dass er ihn auf jeden Fall lieber mochte als Aidan.

„Naja, zwischen mir und Aidan lief ja auch nichts." Er stieß einen verachtenden Laut aus. „Ich schwöre!" Einen Augenblick lang sagte ich nichts. „Aber nehmen wir mal an, es wäre so." Mein Dämon wollte, dass ich die Klappe hielt, aber das wollte er oft. „Warum hast du Anthony lieber?" Keine Antwort. „Hallo?" Ein Grummeln. „Was stimmt mit Aidan's Haaren nicht? Die sind doch super." Erneutes Knurren. „Ja, Anthonys Haare sind auch toll, aber du kannst die beiden doch nicht anhand ihrer Haare beurteilen."

Ich wurde misstrauisch. Er hatte sich schon lange nicht mehr so merkwürdig benommen. Und was er da von Haaren schwafelte, war absoluter Blödsinn, total irrelevant und ganz und gar undämonisch. Er sagte dazu nichts mehr, sondern stolperte voraus zu dem kleinen Supermarkt am Straßenrand zwischen den Palmen.

Die Antwort auf die Frage, warum mein Dämon Aidan nicht mochte, blieb mir verwehrt.

~~ ~~

Natürlich hatte mich jeder erkannt. Zumindest alle, die schon vor zwei Jahren in dem kleinen Supermarkt gearbeitet hatten. Der Besitzer, eine Angestellte und ein Kassierer. An Sonntagen hatte der kleine Laden bis zwei Uhr nachmittags geöffnet und ich war genau zwei Minuten zu spät gekommen, hatte aber, einfach aus dem Grund, weil ich Beverly Anderson war, trotzdem hineingehen und einkaufen dürfen. Der Nachteil war nur gewesen, dass mich alle drei umschwirrt hatten, während ich den Korb gefüllt hatte. Ich war nicht darum herum gekommen Smalltalk zu führen. So schnell wie möglich hatte ich mich aus den Staub gemacht und die Einkäufe nach Hause transportiert.

Delilah drückte sich ziemlich genau um fünf zwischen dem Gartentor hindurch. Sie kannte die zehnstellige Zahl. Ich saß in der Küche auf einem der Barhocker und sah durch die Glaswand, die zugegebenermaßen einen atemberaubenden Panoramablick bot, wie sie gut gelaunt über das Gelände hüpfte und schließlich die Glastüre aufschob.

„¡Hola!", lächelte sie gut gelaunt, drückte die Türe wieder zu und kam zu mir. Heute war sie sehr körperkontaktfreudig, denn sie umarmte mich schon wieder. Nachdem sie mich wieder losgelassen hatte, drehte sie sich um ihrer eigene Achse und ließ ihren Blick durch das ganze Wohnzimmer schweifen.

„Ich hab total vergessen, wie es sich anfühlt, hier drinnen zu stehen", hauchte sie, und ging auf die Wasserwand zu, die sich, bei den Treppen angefangen, durch alle Stockwerke zog. Dann hüpfte sie zu der dunkelblauen Couch und setzte sich. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf, legte die Füße auf den kleinen Glastisch und betrachtete den Plasmafernseher. Dann sprang sie wieder auf, kam zu mir, setzte sich auf einen der Barhocker und drehte sich im Kreis.

„Du hast dich nicht verändert", lächelte ich und schob das Magazin, in dem ich (warum auch immer, ich las normalerweise keine Magazine) geblättert hatte, beiseite.

„Hätte ich sollen?", fragte sie unschuldig, woraufhin ich den Kopf schüttelte.

„Wo ist Anthony?"

„Keine Sorge, der kommt schon noch. Er besorgt Alkohol. Er ist ja vor einem Monat einundzwanzig geworden. Jetzt muss er immer den Lieferanten spielen."

Ach ja. Er war einundzwanzig geworden. Er war der älteste Sohn der Nelsons. Delilah und Evan waren Zwillinge und genauso alt wie ich. Wenn ich mich nicht verrechnet hatte, würde Nola bald siebzehn werden, und Keith sollte meines Wissens nach bald die Sweet-Sixteen erreichen. Mit Keith und Nola hatte ich nie besonders viel am Hut gehabt, weil sie für die Partys meiner Schwester zu jung gewesen waren und Anthony und Delilah öfter bei mir gewesen waren, als ich bei ihnen. Aber ich wusste, dass im Grunde genommen alle gut erzogen worden waren und unfassbar freundliche Menschen waren. Abgesehen von Evan.

„Ihr wisst aber schon, dass wir hier eine Bar haben, oder?", schmunzelte ich. Delilah nickte.

„Tony hat eben gute Manieren. Der kreuzt doch nirgends ohne Alkohol auf." Das stimmte vermutlich. „Weißt du, B...", begann sie. „Ich habe euer Haus immer lieber gehabt, als unseres." Euer Haus. Sie hatte sich auch noch nicht daran gewöhnt, dass es mein Haus war...

„Warum das?" Das Haus der Nelsons war vielleicht um ein paar hundert Quadratmeter kleiner, aber immer noch gigantisch. Und ein bisschen altmodisch, was mir immer total gut gefallen hatte. Aber Delilah hatte die vielen Lichter bei uns immer geliebt. Die graue, silberne und dunkelblaue Einrichtung. Die Tatsache, dass nie Unordnung herrschte, obwohl sie selbst einer der unordentlichsten Menschen war, den ich kannte.

„Ich weiß nicht. Vielleicht wegen dem Garten. Der ist super cool."

„Ihr habt auch einen Garten", erinnerte ich sie lachend.

„Aber Tony und Ev belagern ihn dauernd", brummte sie.

„Sie belagern zu zweit einen hundert Quadratmeter Garten?"

„Hundertfünf Quadratmeter", verbesserte sie, woraufhin ich amüsiert die Augen verdrehte. Sie stützte sich mit den Unterarmen auf der hellgrauen Marmorplatte ab. Ihre Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen gebunden und wippten jedes Mal mit, wenn sie sich bewegte. „Die beiden sind richtig nervig. Ich weiß nicht, warum du meinen Bruder so gerne magst. Tony, meine ich. Er ist doch total kindisch. Und außerdem hatte er seit zwei Jahren keine Freundin, obwohl er tonnenweise von gehirnlosen Puppen angehimmelt wird. Vielleicht ist er ja schwul." Ich hob mein Wasserglas und warf Delilah einen amüsierten Blick zu. Zumindest verstand ich, warum mein Dämon oft wollte, dass ich den Mund hielt. „Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat ständig nur von dir geredet, obwohl er sonst nie von dir geredet hat. Es war schon so unfassbar nervig. Also, ich meine nicht, dass es nervig war, dass er über dich geredet hat. Wer würde nicht über dich reden?" Ich zog die Augenbrauen hoch und ihr wurde bewusst, was sie gerade gesagt hatte. „Nur im positiven, natürlich. Aber du warst weg. Die meisten Jungs hätten sich ein anderes Mädchen gesucht. Nicht falsch verstehen, du bist wahnsinnig toll und alles, aber die Art wie Tony über dich geredet hat war... Du willst, dass ich die Klappe halte, oder?" Ich begann zu lachen und nickte. Ich konnte Menschen, die ohne Punkt und Komma redeten eigentlich nicht ausstehen. Aber Delilah war eine Ausnahme. Zugegeben, als ich sie kennengelernt hatte, hätte ich sie gegen die Wand klatschen können, aber irgendwann war mir aufgefallen, dass sie nur dann so viel redete, wenn sie aufgeregt oder nervös war und ansonsten eine ziemlich ruhige Person war. Aber gerade war sie offenbar überglücklich mich wieder zu sehen und ihre Euphorie wurde in Form eines unaufhaltsamen Redeschwalls entladen. Aber dann riss sie sich zusammen und wir redeten eigentlich nur Blödsinn, bis Anthony kam. Wir setzten uns alle in den Garten auf den Steinboden, der die Poollandschaft umrahmte, und ließen unsere Füße von dort aus ins Wasser baumeln. Das letzte Mal als ich hier gewesen war, war der Pool noch nicht eingelassen gewesen.

Ich hatte angenommen, dass es schwer werden würde, mit Anthony ins Gespräch zu kommen, aber mit Delilah war es praktisch unmöglich gewesen, irgendeine Art der unangenehmen Stille zwischen ihm und mir aufkommen zu lassen. Sie war die Brücke zwischen uns und hatte das Eis schneller gebrochen, als ich erwartet hatte. Vielleicht half auch der Alkohol dabei, aber bald unterhielten wir uns und lachten, als hätten wir nie etwas anderes getan.

„Ich liebe euren Pool", schwärmte Delilah irgendwann und zeigte praktisch auf den ganzen Garten. Das Becken erstreckte sich wie eine verzweigte Straße, mal enger, mal breiter, über die Hälfte des Gartens. Kleine Brücken schufen einen Übergang und inmitten des Wassers ragten Steinflächen mit Gras, Blumen und Palmen auf. Nachts wurde er von unzähligen Unterwasserlichtern beleuchtet.

„¡Ah, ya veo!", meinte Anthony und schubste Delilah ins Wasser. Nach Luft schnappend tauchte sie wieder auf und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

„¡Te odio, idiota!", rief sie aufgebracht und stemmte sich aus dem Wasser, während ich lachte. Sie streifte sich das nasse T-Shirt über den Kopf und wrang es über Anthony aus. Er reagierte nicht wirklich, sondern sah seine Schwester nur genervt an und ließ die kleine Rache über sich ergehen. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerten mich die beiden an Addie und Aidan... Schwermut, die mich nicht hätte belagern dürfen, drängte sich in mein Bewusstsein, aber Anthony und Delilah brachten sie schnell wieder zum Verblassen.

Und so ging das Ganze eine Weile weiter. Es waren unverfängliche Themen, über die wir sprachen. Keine Fragen darüber, was ich vorhatte nun zu tun, keine Fragen darüber, was in den letzten Jahren passiert war.

Als die Sonne begann, unter zu gehen, gingen auch die kleinen Laternen an den Wegrändern an. Ich hatte vergessen, wie schön es aussehen konnte, wenn der Horizont in Flammen aufging. Als sich rot und blau trafen, miteinander verschmolzen, und die Sonne im Meer einzutauchen schien. Wie atemberaubend es aussah, als sich die Wolkenfetzen in rosa Zuckerwattebauschen verwandelten, das Meer sich beruhigte und von den letzten Sonnenstrahlen angehaucht wurde. Die Nacht über der Welt einbrach und das Rosa in Lila verwandelte, während die Sonne tiefer und tiefer im Wasser eintauchte, bis sie vollständig verschluckt worden war und nur noch ein greller gelber Streifen am Horizont übrig blieb, der in ein paar Minuten schon verschwunden sein würde.

„Bev, alles okay?", fragte Delilah und riss mich aus meiner Melancholie. „Du siehst so traurig aus."

Ich schüttelte lächelnd den Kopf, merkte aber, dass mir tatsächlich Tränen in den Augen standen. „Eigentlich bin ich glücklich." Ich sah wieder zum Horizont. Die Sonne war verschwunden. Hinter uns tauchten bereits die ersten Sterne auf, die jedoch noch kaum zu erkennen waren.

Dieser Sonnenuntergang hatte mich fertig gemacht. Früher hatte ich sowas jeden Tag sehen können. Ich hatte es manchmal von meinem Balkon aus beobachtet, manchmal vom Strand aus, manchmal gar nicht. Man könnte meinen, dass so etwas irgendwann langweilig und Gewohnheit werden würde, aber ich hatte es vermisst. Die letzten zwei Jahre, hatte ich es überhaupt nicht gesehen. Keinen Sonnenaufgang, keinen Sonnenuntergang, keinen Vollmond. Ich hatte gewusst wie sehr es mir gefehlt hatte, aber es endlich wieder zu sehen, war mehr schmerzhaft als schön. Oft hatte ich nicht einmal gedacht, überhaupt je wieder so etwas Schönes zu sehen.

Irgendwann sagte Delilah, dass sie wieder nach Hause musste, weil sie ihrer Mutter versprochen hatte beim Kochen zu helfen. Bevor sie ging, sah sie mich und Anthony mit einem vielsagenden und zugleich warnenden Blick an, bevor sie mich noch einmal umarmte und aus dem Gartentor verschwand. Offenbar war sie zu faul, auf der Straße entlang zu gehen, denn sie hopste die Stufen bis zum Strand hinunter. Ich sah ihr nach, während sie nahe am Wasser entlang in Richtung ihres Hauses ging, bis eine Palme mir die Sicht versperrte. Die Lichter im Pool flackerten auf und die Beleuchtung am Boden, seitlich der Terrasse, passten sich ihresgleichen an.

Anthony rutschte näher zu mir, sodass sich unsere Arme berührten. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die weder Panik, noch Taubheit in mir auslösten, sondern einfach nur Ruhe. Und ein bisschen Nervosität... wie war diese Kombination überhaupt möglich?

„Also", lächelte er.

„Also." Endlich allein, vervollständigte ich unser beider Sätze. Die Sonne war ziemlich schnell vollständig verschwunden. Es war noch nicht dunkel, aber düster, und das sanfte Lichtermeer in dem wir uns befanden, schaffte eine angenehme Atmosphäre. Der laue Wind streichelte über meine nackten Arme und das Poolwasser gluckerte vor sich hin. Es wurde langsam kühl, aber neben Anthony war mir warm.

„Ich bin sicher, du hast es heute schon ungefähr fünfzig Mal von meiner Schwester gehört, aber ich hab dich vermisst." Er sah mich aus seinen dunklen Augen an und nahm meine Hände vorsichtig in seine. Ich lächelte leicht.

„Ich dich auch." Weitestgehend jedenfalls. Wenn ich nicht gerade am Rand der Todesschlucht gestanden hatte. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und sah unseren Füßen dabei zu, wie sie sich im Wasser hin und her bewegten und öfter als zufällig berührten.

„Was machst du morgen?", fragte ich, nahm meinen Kopf von seiner Schulter und befreite eine Hand, um nach dem Weinglas greifen zu können. Weder die Nelsons noch ich tranken gerne diese ganzen harten Sachen, die Chase und Co tranken. So waren wir einfach nicht erzogen worden. Auch heute am Strand, hatten sie lediglich eine Flasche Wein vernichtet. Rotwein schmeckte ja auch besser und brannte nicht wie Feuer, wenn man ihn trank.

„Morgen ist Montag, also... nichts", lächelte er und legte einen Arm um meine Taille.

„Wolltest du nicht studieren? Oder arbeitest du schon?", fragte ich und trank einen Schluck Wein. Die Lichter im Pool wurden von dem, sich leicht bewegenden Wasser, reflektiert und trafen auf Anthonys Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

„Weder noch. Ich war ein Jahr in Mexiko bei meinen Großeltern und meiner Tante und bin erst zu meinem Einundzwanzigsten wieder hergekommen. Ich war davor ein Jahr an der California State University, aber das war absolut nichts für mich." War das nicht die Uni, die auch Aidan und Addie besuchten?

„Was hast du jetzt vor zu machen?" Ich stellte das Glas wieder weg.

Er zuckte mit den Schultern. Dann sah er mich an. „Vorerst bleibe ich hier." Ich senkte den Blick und sah auf das Meer hinaus, das schon bald pechschwarz sein würde. Er sah mich immer noch an.

„Du warst in Mexiko, um legal trinken zu können, gib es zu." Ich stieß ihn spielerisch an und drehte meinen Kopf wieder zu ihm. Er lachte leise.

„Du bist so süß, wenn du versuchst, mich einschätzen zu wollen."

„Einschätzen?", ich zog gespielt beleidigt eine Augenbraue hoch. „Ich muss dich nicht einschätzen, dafür kenne ich dich zu gut, Nelson."

„Ist das so, Anderson?" Irgendwie schien sich mein Körper buchstäblich zu ihm hingezogen zu fühlen, denn ich kam seinem Gesicht immer näher. „Wie gut?" So nahe, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Meine Stirn berührte seine bereits. Sein Atem streifte meine Lippen und ein spielerischer Ausdruck lag in seinen Augen.

„Gut genug, um zu wissen, dass du mich küssen willst", flüsterte ich. Ich sah den kleinen Schatten hinter Anthony hin und herspringen, aber ich ignorierte ihn. Wenn es ihm nicht passte, dann hätte er vorhin nicht zur Sprache bringen müssen, dass er Anthony lieber mochte als Aidan. Nicht, dass das etwas an der jetzigen Situation geändert hätte... Was würde Aidan denken, wenn er mich jetzt sehen würde?

Vermutlich gar nichts, er hasst dich, schon vergessen? Also warum denkst du an ihn?

„Kennst du mich auch gut genug, um zu wissen, ob ich es tun werde?", lächelte er. Nein. Aber ich wusste mit Sicherheit, dass ich es tun würde, wenn er sich nicht bald dazu entschließen würde. Er ließ meine Hände los, legte seine auf meinen Rücken und zog mich näher zu sich. Er sollte mich küssen. Ich wollte in diesem unfassbar tollen Gefühl versinken, in dem ich an nichts außer ihn denken konnte. In dem sich ein unbeschreiblich warmes Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete. Das Atmen fiel mir mit jeder Sekunde schwerer, weil ich das Gefühl hatte zu ersticken. Er musste mich küssen, sonst würde ich heute nicht mehr richtig Luft holen können. Meine Hände glitten seine Arme hinauf, zu seinen Schultern, in seinen Nacken. Meine Finger vergruben sich in seinem Haaransatz. Ich spürte die leichte Gänsehaut, die ich verursachte.

Er liebte es. Dieses Spiel zwischen uns. Wer würde wohl zuerst nachgeben und den anderen küssen? Vermutlich ich, denn seit er mich das erste Mal geküsst hatte, wusste ich, dass ich für Menschen auch andere Gefühle entwickeln konnte. Allerdings war es keine Verliebtheit. Oder? Nein, vermutlich nicht. Es war lediglich das befriedigende Gefühl purer Sicherheit. Aber ich mochte Anthony wirklich verdammt gerne. Ich war immer schwach geworden, wenn er mich so nahe an sich herandrückte. Und die Tatsache, dass er mich nun so schamlos hinhielt, machte mich wahnsinnig. Jede Berührung von ihm, war warm und weich und beruhigend. Er nahm eine Hand von meinem Rücken und streifte eine Haarsträhne beiseite, streichelte meine Wange, meinen Hals. Ich konnte ein wohliges Seufzen kaum unterdrücken.

„Küss mich endlich", hauchte ich angestrengt. Ihm entfuhr ein leises Lachen, aber ich spürte, dass er näher kam. Erst streiften sich unsere Lippen nur, aber es dauerte nicht lange, bis wir uns wirklich küssten. Nach zwei viel zu langen Jahren, lagen seine Lippen endlich wieder auf meinen. Wir küssten einander so vorsichtig, als hätten wir Angst, der andere könnte zerbrechen. Aber es war perfekt. Seine rechte Hand wanderte meinen Rücken entlang und hielt mich fester an sich gedrückt, während seine linke auf meiner Wange ruhte. Ich hatte seine Küsse immer genossen. Sie waren so beschützend und zart gewesen und hatten mir Sicherheit gegeben. Sie waren nie fordernd oder drängend gewesen. Die meisten Teile meines Gehirns schienen zu arbeiten aufzuhören, als er mich sanft auf den Rücken legte und sich über mich beugte. Ich öffnete meine Augen und erkannte, dass das tiefe Wohlbefinden nicht nur in meinem Gesicht wiederzuerkennen sein musste. Sein Blick streifte meine Lippen erneut, was mir eindeutig genügt, um ihn wieder sanft zu mir herunter zu ziehen und ein weiteres Mal mit ihm zu verschmelzen. Ich spürte in meinem Bauch dieselbe Aufregung, die ich heute Nachmittag verspürt hatte, aber das hier war tausend Mal schöner. Ich zog meine Beine aus dem Wasser, um mich noch näher an Anthony schmiegen zu können.

„Hol mich der Teufel." Ich riss die Augen auf, drückte Anthony erschrocken von mir und sprang auf, wobei ich das Weinglas umstieß. „Es gibt zu viele Dinge, die ich jetzt sagen könnte", grinste Chase und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wie? Wo? Was?

Ich war noch zu Kuss-Trunken, als dass ich irgendetwas von dem was gerade passierte verstanden hätte. Ich sah das offene Gartentor. Chase. Amüsiert. Trish. Verwirrt. Addie. Schockiert.

Aidan. Verletzt.

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