4
Beverly
Am nächsten Morgen war ich ganz schön fertig. Ich hatte nur etwa vier Stunden geschlafen. Das lange Zeichnen verlangte seinen Preis. Trotzdem war ich an diesem Tag so glücklich wie schon lange nicht mehr. Heute würde ich endlich entlassen werden. Ich war volljährig. Solange sie keinen guten Grund hatten, mich weiter hier zu behalten, konnte ich gehen. Und sie hatten keinen Grund. Keinen einzigen. Und ich konnte es kaum erwarten, endlich hier raus zu kommen. Ein normales Leben zu beginnen. Nachdem ich mir frische Sachen angezogen und meine Haare zu einem wirren Knoten zusammengebunden hatte, machte ich mich auf den Weg in den Speisesaal. Irgendetwas war anders als sonst, das konnte ich spüren. Ich sah mich um. Eigentlich war alles wie immer. Die farblosen Tische und Stühle, der beinahe glänzend saubere Boden, die Küchenhilfe, die missmutig das Essen verteilte. Die Patienten saßen an ihren gewohnten Plätzen und unterhielten sich. Und doch war irgendetwas anders. Ich ging zur Essensausgabe um mir mein Frühstück zu holen. Bei dem Anblick dieses ekelhaften Breis, wurde mir übel. Aber ich verzog keine Miene, als der dickflüssige, zähe Klumpen Etwas in eine Schale klatschte und die Frau die Schüssel auf mein Tablett stellte. Aber ich sagte mir immer wieder, dass es das letzte Mal war, dass ich so etwas essen müsste. Die Küchenhilfe war eine ältere Frau, mit einem Haarnetz und rotem Lippenstift. Sie starrte mich an, als ich mich umdrehen wollte. Ich hielt in der Bewegung inne und starrte stur zurück. Etwas an ihrem Blick gefiel mir nicht. War es Misstrauen? Hinter der Frau tauchte er plötzlich wieder auf. Er sprang um sie herum. Was wollte er mir sagen? Er legte einen Arm um ihren Hals und deutete an, ihr das Genick zu brechen.
„Nein!", sagte ich laut und erschrocken. Er wich zurück. Ich war erleichtert, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Die Frau sah mich an, als sei ich gestört. Sie folgte meinem Blick, der ihrer Meinung nach zu den Herdplatte führte. In Wahrheit versuchte ich ihn zu kontrollieren. Die Frau drehte sich wieder zu mir um und schüttelte genervt den Kopf. Sie murmelte etwas, das sich anhörte wie: „Gestörtes Kind."
Ich warf ihm noch einen letzten Blick zu und wandte mich dann ab. Ich sah mich im Speisesaal um. Rosemary saß wie gewöhnlich auf ihrem Platz neben dem Fenster. Ich steuerte auf sie zu, während er auf mich einredete.
„Sei still!", zischte ich. Ich wollte seinetwegen keinen Ärger bekommen. Er kroch über den Boden und kletterte von dort über das Fenster, bis er in der hintersten Ecke des Raumes verharrte. Von meiner Position aus glich er ein bisschen einer großen Spinne. Ich riss meinen Blick von ihm und setzte mich auf den Stuhl gegenüber von Rosemary.
„Guten Morgen", lächelte sie und führte den Löffel, mit dem ekligen Brei, mit zitternder Hand an ihren Mund.
„Morgen." Ich warf einen flüchtigen Blick an die Decke, aber er hatte sich nicht vom Fleck bewegt, was mich ein klein wenig beruhigte. Ich sah mich ein weiteres Mal um. Etwas stimmte nicht.
„Was ist heute los?", fragte ich Rosemary und rührte mit meinem Löffel in dem Brei herum.
„Hast du es nicht gehört?", fragte sie überrascht. Jetzt war ich neugierig geworden. Was sollte ich denn nicht gehört haben? Auf einmal wusste ich, was anders war. Normalerweise wurden wir beim Frühstück strenger bewacht, als im Gefängnis. Besonders die Patienten, die ihre Medikamente verweigerten. Aber heute waren nur drei Pfleger im Raum. Und sie schienen sich kaum für uns zu interessieren.
„Wo sind die ganzen Pfleger?" Ich war verwirrt. Was war denn heute anders als sonst?
„Gestern Nacht", begann Rosemary und beugte sich ein Stück zu mir. Sie sah sich kurz um, aber keiner nahm Notiz von uns. „Hat sich einer der Pfleger in seinem Zimmer erhängt." Ich fuhr zurück, als hätte ich mich an ihren Worten verbrannt. Ich hätte eher damit gerechnet, dass es einem der Patienten hier gelingen würde, sich umzubringen. Aber ein Pfleger?
„Wer?", fragte ich mit weit aufgerissenen Augen. Rosemary zuckte mit den Schultern und aß weiter. Offenbar war dieses Thema für sie erledigt. Mehr wusste sie nicht, und sie wollte auch nicht darüber reden. Mir war der Appetit noch mehr vergangen als vorhin. Ich sah wieder zu ihm hoch. Er saß noch immer in der Ecke. Plötzlich wurde mir bewusst, dass er nicht die Küchenhilfe hatte töten wollen. Sondern dass er bereits jemanden getötet hatte. Das hatte er noch nie getan. Nicht, ohne dass ich davon gewusst hätte. Aus welchem Grund hätte er einen Pfleger töten sollen?
~~ ~~
„Möchte noch jemand etwas dazu sagen?", fragte Drew, unser Gruppentherapeut. Ein Mann um die vierzig, mit Brille und weißem Kittel. Ich hasste Gruppentherapien. Ich war ohnehin die ganze Zeit mit gestörten Leuten zusammen. Ich verspürte nicht gerade den Drang, auch noch mit ihnen zu sprechen. Und jetzt erst recht nicht.
Vor ein paar Minuten hatte ich erfahren, dass er Harson umgebracht hatte. Harson. Der einzige Pfleger, mit dem ich halbwegs zurechtkam. Wieder sagte ich mir, dass nichts von alledem eine Rolle spielte. Ich sagte mir, dass ich bald alles würde hinter mir lassen können.
Ein Junge, etwa in meinem Alter, hob zitternd die Hand. Er saß zusammengekauert und nervös in seinem Stuhl. Er wippte mit dem rechten Fuß auf und ab und zupfte an seinem Oberteil herum.
„Daniel", forderte Drew den Jungen auf. „Du möchtest etwas sagen. Bitte."
Daniel sah auf den Boden. Seine Augen wanderten nervös auf dem Boden hin und her.
„Ich möchte...etwas...ü-über den Schatten...sagen." Ich konnte mir ein Augenrollen gerade noch verkneifen. Im Gegensatz zu diesem Typen war ich die Ausgeburt der Normalität. Aber die Tatsache, dass er einen Schatten erwähnt hatte, offenbar im Zusammenhang mit Harson, ließ mich aufhorchen.
„Ich habe ihn... ge-gesehen", stammelte er, blinzelte ein paar Mal und zuckte mit dem Kopf.
„Was hast du gesehen?" Drew rückte seine Brille zurecht und beugte sich ein Stück nach vorne.
„D-Der Schatten... er hat... er hat... Harson verfolgt... b-bei seinem Rundgang." Ich sah zu Drew hinüber. Ich erkannte an seinem Blick, dass er dieses Thema nicht vertiefen wollte. Wahrscheinlich, weil die Hälfte der hier Anwesenden diese Geschichte glaubten. Mich eingeschlossen.
„Daniel", begann er. „Ich bin mir sicher, dass hast du dir nur eingebildet." Daniel wiegte sich auf seinem Stuhl und schüttelte in zuckenden Bewegungen den Kopf. Wenn er nicht so daneben gewesen wäre, wäre er wahrscheinlich ganz niedlich gewesen. Braune Locken, dunkle Augen, süße Nase. Aber so, wie er jetzt drauf war, war er einfach nur richtig seltsam.
„Ich habe den Schatten aber auch gesehen", mischte sich Maddison ein. Ihre schulterlangen schwarzen Locken wippten auf und ab, als sie nickte. Sie war wahrscheinlich Mitte dreißig. Drew nahm seine Brille von der Nase.
„Es hatte lange Arme. Und lange Beine", fuhr sie fort und sah zu Daniel. Er schüttelte den Kopf.
„Wovon redest du?" Er wirkte wütend. „Das Monster war nicht mehr als ein verschwommener Schatten."
Das Monster. Ich hätte beinahe lachen können. Aber was mich beunruhigte, war, dass die beiden ihn gestern hatten sehen können, jetzt aber nicht. Er schlich um die anderen herum und zog nun wieder meine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte sich noch nie von anderen sehen lassen. Ich fragte mich, was um alles in der Welt er vor hatte.
Früher, hatte er mich zum Lachen gebracht. Er hatte lustige Dinge getan. Jetzt machte er mir nur noch Sorgen. Ich musste ständig aufpassen. Und jetzt noch mehr. Ich durfte nicht nachgeben. Ich musste ihn um jeden Preis unter Kontrolle halten.
„Schluss jetzt! Es gibt keine Monster. Und auch keine Schatten, die Harson umgebracht haben."
Die Türe wurde geöffnet und ich drehte mich um. Zwei Pfleger standen in der Türe. Die Frau kam auf Mitch zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte und sah mich an.
„Beverly." Etwas in mir zog sich zusammen. Aber ich bewegte mich nicht. Die Pflegerin kam mit einem Lächeln zu mir.
„Komm mit uns", sagte sie. Mir war nicht wohl. Und ihm auch nicht. Sofort fühlte ich wieder die Kälte, als er sich an mich heftete. Einerseits, war ich froh, dass er mich nicht alleine ließ, andererseits, wollte ich nicht, dass er bei mir war, wenn ich Angst hatte. Und gerade hatte ich das. Aber trotzdem stand ich auf und folgte der Pflegerin nach draußen. Sie schloss die Türe hinter uns und postierte sich rechts von mir. Der Pfleger ging an meiner linken Seite. Ich fühlte mich wie ein Sträfling. Und je nervöser ich wurde, desto unkontrollierbarer wurde er. Aber ich musste ihn unter Kontrolle behalten. Wer wusste schon, was sonst alles hätte geschehen können?
Wir gingen zum Aufzug und fuhren in den letzten Stock. Die beiden brachten mich in einen Raum, der sehr nach Büro aussah.
„Setz dich", lächelte die Pflegerin und deutete auf den leeren Stuhl vor dem Schreibtisch. Ich zögerte kurz, tat aber was sie sagte. Und dann wartete ich. Die Pfleger standen in der Türe.
Ich sah mich im Raum um. Es war dunkel, denn die Jalousien waren heruntergezogen worden. Rechts von mir stand ein Bücherregal mit vielen Mappen und Ordnern. An der Wand hinter mir, standen eine Couch und eine Lampe. Auf dem Holztisch waren ein Telefon, Stifte und eine sprießende Pflanze. Nach wenigen Minuten wurde die Türe geöffnet und ein Herr mit weißen Haaren betrat den Raum. Er zog die Jalousien hoch und setzte sich dann ohne ein Wort an seinen Schreibtisch, setzte sich seine Brille auf und zog eine Akte aus seiner Schublade. Ich hatte den Mann hin und wieder auf den Gängen des Gebäudes gesehen. Bevor er die Mappe öffnete, sah er zu den Pflegern.
„Danke, Sie können gehen." Ich drehte mich nicht um, sondern fixierte den Herren mit meinem Blick. Als ich hörte, wie sich die Türe schloss, nahm ich an, dass die Pfleger nach draußen verschwunden waren. Auf einem Schild, an seinem weißen Kittel stand Dr. Kennedy. Er räusperte sich und öffnete die hellgelbe Akte. War ich hier, weil ich gleich entlassen werden sollte?
„Beverly Kathrin Anderson. Gestern achtzehn geworden. Vollwaise. Keine Verwandten. Schizophrenie, generalisierte Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen. Verweigerung der Medikamente." Ja, ich bin durch und durch gestört. Danke, für die Auflistung. Ich sah den Arzt mit ausdrucksloser Miene an. Er legte die Akte beiseite, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte die Finger ineinander.
„Wie geht es dir, Beverly?", fragte er und musterte mich. Sollte das jetzt Smalltalk werden? Ich wusste nicht, welche Antwort er sich erhoffte. Oder welche Antwort mich am wenigsten in Schwierigkeiten brachte. Welche Antworten mich am ehesten hier raus brachten.
„Gut", sagte ich schließlich. Ich hoffte, den misstrauischen Unterton verbergen zu können.
„Warum nimmst du deine Medikamente nicht?" Das Thema schon wieder?
„Weil ich sie nicht brauche. Ich bin nicht verrückt." Langsam wurde ich immer angespannter.
„Nein, Beverly. Du bist nicht verrückt. Du bist krank."
„Ich bin nicht krank." Ich wollte gehen. Selbst wenn ich krank gewesen wäre -hier drinnen hätte ich nie gesund werden können.
Dr. Kennedy lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Beverly, ich habe eine Frage." Aha. Jetzt kamen wir der ganzen Sache offenbar näher. „Worüber hast du gestern mit Harson gesprochen?"
„Was?", entfuhr es mir, viel wütender, als ich vorgehabt hatte.
„Er hat als letztes mit dir gesprochen, und ich möchte wissen worüber." Jetzt war er derjenige, der mich mit Blicken fixierte.
„Wollen Sie mir die Schuld an seinem Tod geben?"
Dr. Kennedy antwortete nicht, sondern griff wieder nach der Akte.
„Stimmt es, dass du an deinem ersten Tag hier, mit einem der Patienten gesprochen hast und dieser kurz darauf versucht hat, sich umzubringen?" Widerwillig nickte ich. „Und stimmt es, dass dein erster Therapeut nach einigen Therapiestunden gekündigt hat?" Wieder nickte ich. Aber nichts davon war meine Schuld gewesen.
„Beverly", begann er und seufzte. „Ich denke, dass du durch deine Schizophrenie" Die ich nicht habe. „Dein Handeln nicht so gut kontrollieren kannst, wie andere."
Was sollte das heißen? Wollte er mich etwa hier drinnen eingesperrt halten? Panik kroch in mir hoch. Ich versuchte ihn zu kontrollieren. Er versuchte mich zu übernehmen. Aber das durfte ich nicht zulassen.
„Alles okay?", fragte Dr. Kennedy. Ich sah ihn nicht an. Ich starrte weiterhin auf meine Finger, die ich in die Armlehnen des Stuhls gegraben hatte. Ich durfte die Kontrolle nicht verlieren. Aber je mehr ich daran dachte, dass ich vielleicht nie wieder hier herauskommen würde, desto panischer wurde ich und desto leichter konnte er die Kontrolle übernehmen.
„Beverly." Er grub sich in mich. Verschlang mich. Ich hob meinen Blick und sah Dr. Kennedy in die Augen.
„Ich will, dass du ab morgen nicht mehr zur Gruppentherapie gehst. Das tut dir nicht gut." Ab morgen? Morgen war ich frei. Ich durfte morgen nicht mehr hier sein! „Du wirst weiterhin Sitzungen mit Drew haben. Aber alleine." Ich sah ihn immer noch an. Nur waren es nicht meine Augen, von denen Dr. Kennedy angestarrt wurde. Ich spürte wie sich mein Mund zu einem Lächeln verzog.
„Was ist so komisch?", fragte er. Ich beugte mich zu ihm und bedeutete ihm, näher zu kommen. Auch er beugte sich nach vorne und ich brachte meine Lippen dicht an sein Ohr. Ich wusste was ich gleich sagen würde, ohne dass ich es sagen würde.
„Sie werden alle sterben", flüsterte ich. Der Doktor zog seinen Kopf zurück und ich setzte mich wieder. Er musterte mich, so als ob er sich nicht sicher war, wie er jetzt reagieren sollte.
Warum tat er mir das an? Ich würde niemals hier herauskommen, wenn er solche Dinge sagte.
„Beverly? Bist du da?" Das war doch wohl nicht sein Ernst. Ich war nicht schizophren! Ich fühlte, dass ich meinen Kopf schüttelte.
„Wie heißt du?", fragte er. Ich versuchte mit aller Kraft, wieder die Kontrolle zu übernehmen, aber ich war nicht stark genug.
„Maeve."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top