39
Aidan
Mein Nacken tat weh. Meine Schultern auch. Von meinem hämmernden Schädel ganz zu schweigen. Noch während meine Augen geschlossen waren, überlegte ich was zum Henker passiert war, und warum ich mich so elend fühlte. Nur schleichend fiel mir ein, was alles passiert war. Ich hatte damit zu kämpfen, meine verrückten Träume, von der nicht weniger verrückten Realität zu trennen.
In all die merkwürdigen Träume, hatte sich seltsamerweise auch eine Erinnerung aus meiner Kindheit eingeschlichen, und ich fragte mich, was sie in diesem Chaos zu suchen gehabt hatte. Es war Weihnachten gewesen. Die einzige Zeit im Jahr, in der meine Eltern mehrere Tage am Stück zu Hause waren, nicht zur Arbeit mussten und Addie und mich nicht vor unsere Schulbücher gedrängt hatten. Ich musste ungefähr sieben gewesen sein. Und weil Addie zu der Zeit prinzipiell immer genau das hatte haben und machen wollen, was ich auch hatte wollen, hatten wir immer recht ähnliche Geschenke bekommen. Unter anderem auch zwei Flugzeuge, lediglich unterschiedliche Modelle, aber das hatte Addie nicht weiter gestört. Ich erinnerte mich noch daran, dass sie es geschafft hatte ihr Flugzeug in weniger als zehn Minuten zu Schrott zu fliegen. Unsere Eltern hatten natürlich mit ihr geschimpft und sie hatte geheult wie ein Schlosshund. Es war so schwer für mich gewesen, mich von meinem Flugzeug zu trennen. Ein Spielzeug, das ich schon ewig hatte haben wollen. Trotzdem hatte ich es Addie überlassen. Sie war wieder glücklich gewesen und hatte mein Flugzeug genauso schnell zerschrottet wie ihres. Offenbar lernt man nicht zwangsläufig aus seinen Fehlern. Klar, ich war sauer auf sie gewesen, aber im Endeffekt war es eigenes Verschulden gewesen. Und als sie im Laufe der darauffolgenden Tage, mitten in der Nacht in meinem Zimmer gestanden und mir ihren überaus kläglichen Versuch, mein Flugzeug wieder zusammenzukleben, präsentiert hatte, war ich nicht mehr wütend auf sie gewesen.
Mühselig öffnete ich meine Augen und hob den Kopf von der Tischplatte. Mein Nacken war verspannt. Draußen war es dunkel. Ich versuchte, die Verspannungen in meinem Schulterbereich loszuwerden, indem ich meinen Kopf hin und her bewegte, aber das klappte nicht. Meine halbleere Kaffeetasse stand immer noch auf meinem Schreibtisch, neben dem immerwährenden Chaos. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. War ich tatsächlich beim Lernen eingeschlafen?
Am liebsten hätte ich mich jetzt einfach in mein Bett verzogen, und bis morgen Früh weiter geschlafen. Aber ich war nicht mehr müde genug. Nur erschöpft. Alles was in den letzten Stunden passiert war, schwirrte immer noch in meinem Kopf herum, aber ich hatte das Gefühl, dass ich wenigstens weitestgehend begriffen hatte, was gerade passierte. Angeblich wurden während des Schlafes Informationen verarbeitet, also etwas, das mir seit einigen Wochen gehörig fehlte.
Unschlüssig, was ich nun mit meiner Zeit anfangen sollte, begann ich ein wenig Ordnung auf meinem Schreibtisch zu schaffen, wenn in meinem Kopf schon keine herrschte. Nach einiger Zeit konnte ich Addie's Stimme aus dem Wohnzimmer vernehmen und horchte auf. Sie redete mit Chase. Eigentlich hatte ich angenommen, dass beide schon (oder in Addie's Fall: noch) schlafen würden. Ich warf einen Blick auf meinen Schreibtisch. Das Aufräumen war offiziell gescheitert. Ich hatte einfach kein Ordnungssystem. Und hatte auch noch nie eines gehabt. Also gab ich es auf, und verließ mein Zimmer.
„Sieh mal einer an", bemerkte Chase, als ich ins Wohnzimmer kam und mich an den Tisch setzte. „Sleeping Beauty ist aus seinem Saufkoma erwacht." Ich ging nicht auf seinen Kommentar ein. Er war doch selber rund um die Uhr blau. Das war jetzt wohl kaum anders. Er lag immer noch auf der Couch, mit einem Bier in der Hand und war immer noch mit Fernsehen beschäftigt, während Addie am Fenster stand und rauchte. Entweder, weil Trev nicht mehr hier war, oder weil wir kein Ben&Jerry's mehr da hatten, und sie runter kommen musste.
„Beverly ist nicht da", bemerkte ich.
„Ist doch toll", entgegnete Chase. „Darauf habe ich sowieso schon zu lange gewartet."
Addie und ich tauschten einen raschen Blick. „Du willst sie hier haben, aber nicht hier haben?", fragte Addie müde. Ihre Stimmlage hatte sich verändert. Mir war nicht sofort klar, was anders war, aber dann erkannte ich, dass sie mit derselben Unsicherheit und Distanzierung mit Chase sprach, wie mit einem völlig Fremden. Außerdem sah sie genauso verkatert aus wie ich. Möglicherweise war auch das der Grund, warum sie rauchte. Die Ausrede, dass Rauchen ausnüchterte, hatte sie schon früher oft verwendet.
Chase schaltete den Fernseher aus und setzte sich auf. „Nein. Wenn es nach mir ginge, hätte sie schon vor Wochen aus meinen Angelegenheiten verschwinden können. Aber seit sie aus Modoc geflüchtet ist, ist es meine Aufgabe sie im Auge zu behalten." Er stemmte sich hoch. „Allerdings würde ich das auch schaffen, wenn sie nicht hier wäre. Sie ist nicht besonders schwer zu finden. Einfach immer dem Chaos nach." Er ging zum Kühlschrank, öffnete ihn, sah studierend hinein, und schloss ihn missmutig wieder, ohne etwas heraus zu nehmen. „Wir haben kein Bier mehr."
„Du könntest ja auch Wasser trinken", schlug Addie leicht genervt vor, und gab es auf, den Rauch aus dem Fenster pusten zu wollen.
„Und du könntest nikotinfrei rauchen", schoss Chase zurück, öffnete einen der Küchenschränke und holte eine Flasche Jägermeister heraus. „Wer's kauft, darf's auch trinken." Er prostete Addie mit falscher Freundlichkeit zu. Normalerweise war Jägermeister nicht Chase' Fall. Aber er war der Einzige von uns, der legal Alkohol kaufen durfte. Die Gesetze in Kalifornien, was Alkohol unter einundzwanzig anging, waren leider ziemlich streng. Nun ja, außer wenn man Jacob hieß, und eine Bar führte, in der man Achtzehnjährige Barkeeper spielen ließ. Meine Eltern hatten mich und Addie schon mit fünfzehn Wein und Bier trinken lassen, solange wir es nicht übertrieben hatten. Das war wahrscheinlich die einzige Sache gewesen, die sie recht locker genommen hatten.
„Aber um auf deine Frage zurück zu kommen." Chase füllte ein Shotglas. „Als Beverly dann hier war -wobei meine Stimme bei der Abstimmung, ob das für alle Beteiligten okay ist, irgendwo im Nirvana verschwunden ist-" Er sah mich vielsagend an und kippte dann den Jägermeister runter, woraufhin ich mit den Augen rollte. „kam auf einmal die ganze Sache mit Vaya ins Spiel. Und Trish ist der festen Überzeugung, dass Beverly dir irgendwie helfen kann. Das ist der Grund, warum Little Miss Red Eye noch hier ist. Ich will sie nicht hier haben und das wollte ich auch nie." Sein Blick verspottete mich beinahe. „Im Gegensatz zu anderen Personen."
„Und wo ist sie jetzt?", fragte ich schnell, bevor er noch deutlicher werden konnte. Chase goss erneut Jägermeister in das Glas.
„Ich zitiere: Irgendwo, wo man mich auch wirklich haben will. Eine endlose Suche, wenn du mich fragst, weshalb wir sie hoffentlich nie wieder sehen." Ich hatte ihn noch nie so über irgendjemanden reden hören. Er sah nicht wütend aus, aber in seinen Worten steckte zweifellos tiefer Hass.
„Warum bist du so...", begann Addie, und klang beinahe angeekelt.
„So was?"
„Aggressiv..."
„Aggressiv?" Chase zog beinahe belustigt die Augenbrauen hoch. „Ich bin doch nicht aggressiv. Ich bin die Ruhe in Person." Addie stieß verhöhnend den Atem aus, wobei eine Rauchwolke vor ihrem Gesicht entstand.
„Nein, nicht aggressiv, aber..." Normalerweise war meine Schwester nicht sonderlich wortkarg. Sie brachte die Dinge ziemlich genau auf den Punkt. „Ich meine, wenn sie jetzt hier wäre und Modoc und Vaya keine Rolle spielen würden. Was würdest du tun?" Ich fragte mich was ich getan hätte. Wenn es nicht auch um meine Schwester gegangen wäre, hätte es für Beverly keinen Grund gegeben, hier zu bleiben. Und für mich keinen, sie hier haben zu wollen. Und genau aus diesem Grund war ich froh, dass Addie von einem Dämon verfolgt wurde.
Chase sah sie nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Stell keine Fragen, deren Antworten du gar nicht hören möchtest." Er kippte den nächsten Shot hinunter.
„Sag du mir nicht was ich hören will und was nicht!" Sie ließ die Zigarette aus dem Fenster fallen. „Das erledigt Trev schon", fügte Addie leise hinzu. Ich war mir nicht sicher, was sie damit meinte, aber ich fragte auch nicht nach. Sie war auch so schon wütend genug auf Trev, ich musste das Feuer nicht auch noch schüren.
„Du willst es wirklich wissen?" Er zog die Augenbrauen hoch. „Okay. Wenn es nur um Beverly und ihren Dämon gehen würde, dann würde ich sie umbringen." Ich war überrascht, dass Addie nicht alle Gesichtszüge entglitten (so wie mir) und sie nicht wieder vollkommen ausrastete, sondern lediglich den Wahrheitsgehalt dieser Aussage abzuwägen schien. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.
„Nein."
Er nickte. „Doch. Und ich würde es keine Sekunde bereuen." Ich konnte meine eigenen Gefühle nicht greifen. Sie schwirrten irgendwo in meinem Körper herum, ohne ihren Platz zu finden. Ich fühlte mich taub und war in höchster Bereitschaft, zu leugnen, dass Chase das wirklich ernst gemeint hatte. Die ganze Zeit hatte ich Beverly für verrückt gehalten, aber wenn ich mir Chase anhörte, war er der Wahnsinnige.
„Hast du den Verstand verloren?", fragte Addie schließlich. „Du-... Du kannst doch nicht einfach herumlaufen und irgendwelche Menschen umbringen. Was hat sie dir getan?"
Chase lachte amüsiert auf. „Witzig, dass du Beverly in Schutz nimmst, wenn man bedenkt, dass sie Menschen getötet hat. Rote Augen, schon vergessen?"
„Du redest davon, sie umzubringen. Einem Menschen das Leben zu nehmen. Dieser Mensch hört auf zu atmen, zu existieren, lebt nicht weiter, hat keine Zukunft. Ist tot."
„Ja, das ist die Definition von umbringen", meinte er gelassen und nickte. Er schien tatsächlich nicht zu verstehen, was Addie an dieser Vorstellung so schockierend fand. Sie versuchte ein paar Mal etwas zu erwidern, aber sie war zu perplex, also sprach ich aus, was ihr im Kopf herumspukte.
„Du bist so krank."
„Wieso? Weil ich eine Mörderin davon abhalten will, noch mehr Menschen umzubringen? Im schlimmsten Fall euch." Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen. Er war überzeugt, von allem was er sagte.
„Beverly würde uns doch nicht töten", sagte Addie entrüstet.
„Und wie sie das würde." Chase goss sich einen weiteren Shot ein.
„Du kennst sie nicht!"
„Und du schon?" Er warf Addie einen amüsierten Blick zu. „Ihr seid ja auch seit Jahren befreundet und erzählt euch alles. Sie hat keine Geheimnisse vor dir. Du kennst sie in und auswendig, stimmt's?" Addie war klar, dass er nicht länger von Beverly sprach.
„Chase." Ich versuchte ihm zu verstehen zu geben, dass er in dieser Situation nicht Trish zur Sprache bringen musste, aber er ignorierte mich.
„Ihr seid seit über zehn Jahren die besten Freundinnen und sie hat dich angelogen. Die ganze Zeit. Hättest du etwas geahnt? Oder hättest du vermutet, dass ich Dämonen getötet habe? Und Menschen." Addie schlug den Blick nieder. Sie wirkte traurig und verletzt. „Wenn du nicht einmal deine besten Freunde kennst, wie willst du Beverly einschätzen können?"
Innerlich seufzte ich. Chase bewegte sich auf verdammt dünnem Eis und merkte es noch nicht einmal. Addie war verletzt und traurig. Das wandelte sich so gut wie immer in Wut um.
„Hör auf dich so zu benehmen", zischte ich, sah Chase eindringlich an und ging dann zu Addie. Sie sah blass aus und zitterte ein wenig. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und schob sie sanft in Richtung Couch. Nachdem sie sich gesetzt hatte und abwesend auf den Boden starrte, wandte ich mich wieder an Chase.
„Warum weißt du so viel über Beverly, wenn du sie nicht magst?", fragte ich daher und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Er hatte seinen Blick trotzdem weiterhin an Addie geheftet und kippte den nächsten Shot hinunter.
„Modoc ist gut über seine Patienten informiert. Und Beverlys Lebenslauf ist nicht gerade unauffällig. Den merkt man sich. Es gibt zwar ein paar Lücken, aber die machen es erst so richtig spannend." Ich begann mich zu fragen, ob das der echte Chase war. Denn der Chase, den ich seit Jahren kannte, hatte nie eine Meinung vertreten, die mir so fern gewesen war, dass ich hätte kotzen können.
„Was ist mit mir?", fragte Addie. Ich drehte mich zu ihr. Sie sah Chase nicht an.
„Du bist so unauffällig wie ein Rechtschreibfehler beim Abspann eines Kinofilms. Es sieht ohnehin keiner mehr zu." Chase stellte das Shotglas beiseite und ging dazu über direkt aus der Flasche zu trinken.
„Nein, ich meine würdest du mich auch töten?" Niemals. Jetzt sah sie ihn mit ihrem Rehblick an. Ich warf Addie einen stutzigen Blick zu, weil mir nie in den Sinn gekommen wäre, das zu fragen. Aber allein die Tatsache, dass Chase nicht augenblicklich verneinte, versetzte mich in Alarmbereitschaft und Schockstarre gleichzeitig. Tolle Kombination.
„Ich-" Er schien mit einem Schlag unfassbar verunsichert und nervös. „Ich weiß es nicht", gab er zu, und nahm einen Schluck aus der Flasche. „Vielleicht."
„Vielleicht?!", rief Addie nun sauer und sprang auf. Da haben wir die Wut. Ich hatte doch gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war. Jetzt würde sie all ihren Frust in Form von Zorn entladen. „Vielleicht?! Du denkst allen Ernstes darüber nach mich umzubringen?"
„Nein, natürlich nicht. Das habe ich nicht gesagt." Die Tatsache, dass es alles andere als überzeugt klang, machte Addie lediglich wütender.
„Und ob du das gesagt hast! Ich kann nicht glauben was für ein Psychopath du bist. Ich kann nicht glauben, dass ich dir überhaupt jemals vertraut habe!"
„Ads." Ich griff sie am Arm, um zu verhindern, dass sie auf ihn losstürmte. Ich wollte sie nicht in seiner Nähe wissen. Aber sie riss sich los und stampfte auf ihn zu.
„Es ist dir also tatsächlich lieber mich umzubringen, als mich mit einem Dämon zu akzeptieren?"
„Es kommt darauf an ob-"
Sie schlug ihm die Flasche aus der Hand, woraufhin diese auf dem Boden zerbrach und eine recht große Fläche des Wohnzimmer- und Küchenbodens mit der braunen Flüssigkeit und den Scherben der Flasche eindeckte. „Wunderbar! Wie schön, dass dir deine Prioritäten bewusst sind!" Ich wusste nicht, ob es Tränen der Wut, oder Trauer waren, die ihr nun übers Gesicht rollten. „Und ich dachte Trev kann man nicht mehr übertreffen, aber du hast es geschafft, herzlichen Glückwunsch!"
Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was ich nun tun sollte. Addie drehte wieder durch, Trev saß im Flieger, auf dem Weg nach New York, Beverly war Irgendwo, wo man sie auch wirklich haben wollte, Trish war zu Hause mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und Chase war sich nicht sicher, ob er meine kleine Schwester umbringen wollte oder nicht. Und ich war mitten drin in diesem verworrenen Chaos, das weder Ende noch Anfang, noch Oben oder Unten hatte. Ich fühlte mich wie im falschen Film. Ich hatte nicht vorgehabt, zwischen irgendwem den Vermittler zu spielen, aber es schien, als würde gerade jeder jeden hassen. Trish kam dabei noch am besten davon. Ich wollte mich auch auf niemandes Seite schlagen, denn dann wäre alles wohl endgültig aus dem Ruder gelaufen.
Ich rieb mir übers Gesicht. „Okay, wir sind alle müde, betrunken und gereizt." Ich stellte mich zwischen die beiden und drückte sie energisch voneinander. „Wir wollen hier keine Toten."
„Ich glaube das sieht Chase anders!", rief Addie und deutete anklagend auf ihn. Wenn ich ihn mir so ansah, wirkte er tatsächlich so, als wolle er jemanden umbringen. Aber aus Frust, nicht Hass. Ich wünschte Trev hätte mich mit diesem Affenzirkus nicht alleine gelassen.
„Einer von euch geht jetzt, mir ist egal wer, aber es reicht!"
„Ich gehe", sagte Addie sofort und sah Chase abwertend an. „Zu meiner besten Freundin, die mich zwar seit Jahren angelogen hat, aber niemanden umbringen will!" Gute Idee, Trish würde sich bestimmt freuen, zum zweiten Mal an einem Tag an den Pranger gestellt zu werden, aber sie hatte bestimmt noch ein wenig Tequila übrig. Eigentlich hatte ich gehofft, Chase würde gehen. Aber ich konnte Addie nicht nachtragen, dass sie einfach nur weg wollte. Vielleicht würde sie die Sache mit Trish klären, dann wäre zumindest ein Problem vom Tisch.
Ich brachte Addie zur Türe, drückte sie und sagte ihr, sie solle auf dem Weg bloß vorsichtig sein. Nicht um sonst hatte ich Addie jahrelang von Trish abgeholt. Das Gebäude in dem ihre Wohnung lag, war in einem ziemlich unheimlichen und dunklen Viertel der Stadt und ich fühlte mich nicht gerade wohl dabei, Addie um kurz nach zwölf durch diese Gassen gehen zu lassen, aber sie hätte mich sie ohnehin nicht begleiten lassen, also fragte ich erst gar nicht. Nachdem ich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, drehte ich mich geladen zu Chase um.
„Ich sollte dir eine reinhauen." Der große Bruder, wollte das tatsächlich tun, Chase' bester Freund, hielt mich davon ab. Mittlerweile hatte er eine Flasche Tequila aus dem Schrank geholt und schraubte den Verschluss herunter.
„Merkst du's? Mein Leben ist scheiße. Und dann fragen mich Leute, wieso ich die ganze Zeit trinke. Wie soll man sowas denn überstehen, ohne zu saufen?"
„Dein Leben ist scheiße, weil du es scheiße lebst."
Chase zuckte mit den Schultern. „Kann schon sein." Ich versuchte meine Wut zu unterdrücken. Ich hatte ihn noch nie so ignorant, überheblich und dreist erlebt, wie in den letzten Tagen. Eigentlich war ich ein eher zurückhaltender Typ. In der Schule war ich so gut wie nie in irgendwelche Schlägereien verwickelt gewesen und auch sonst wurde ich nicht schnell wütend, und wenn, dann konnte ich mich ziemlich gut zusammenreißen. Aber Chase hielt das Feuerzeug am Ende der Zündschnur fest und kam konsequent mit der Flamme näher. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich explodieren würde.
„Dir ist schon klar, auch wenn ich dich jetzt nicht verprügle, dass das spätestens Trev macht, sobald er wieder hier ist und Addie ihm davon erzählt, oder?"
„Wenn du mir keine verpasst, macht Trev das auch nicht", gab Chase unbeeindruckt zurück. Wenn er das wirklich dachte, kannte er Trev aber schlecht. Vielleicht hatte Chase es durch deren Streitereien vergessen, aber Addie war Trev's Ein und Alles. Und wenn Addie ihm aufgelöst davon erzählen würde, dass Chase sie möglicherweise umbringen würde (was für ein wahrhaft kranker, absurder Gedanke), dann wäre hier höchstwahrscheinlich die Hölle los. Trev hatte bereits einen Menschen, den er über alles geliebt hatte, sterben sehen. Damals war er allerdings noch zu klein gewesen, um etwas dagegen zu unternehmen. Mittlerweile war er fast einundzwanzig. Noch einmal würde er das nicht zulassen. Erst recht nicht bei Addie.
Die Frage die sich mir stellte war nur, warum ich nicht so reagierte. Doch darauf hatte ich keine Antwort. Vielleicht hatte ich geahnt, dass alles darauf hinauslaufen würde. Oder ich konnte mir tief im Inneren einfach nicht vorstellen, dass Chase Addie tatsächlich verletzen oder gar umbringen würde. Oder, dass er überhaupt irgendjemanden umbringen würde.
War wirklich alles nur ein Spiel? War das der wahre Chase? Hatte er all die Jahre nur eine Maske getragen, die er in dem Moment fallen gelassen hatte, in dem Addie von einem Dämon verfolgt worden war? Offenbar jagte er Dämonen ja schon sein ganzes Leben.
„Ich will Addie nichts tun", sagte er unvermittelt und diesmal völlig ernst. „Aber das Beschissene an dem Job ist, dass du dir nicht aussuchen kannst, wer an einen Dämon gebunden ist und wer nicht." Er trank einen Schluck Tequila und ich beobachtete ihn nachdenklich. Er sah mich nicht an, aber ich konnte spüren, dass ihm nicht nur leid tat, was er zu Addie gesagt hatte, sondern auch, dass er sich schämte. Also war irgendwo doch noch ein bisschen Menschlichkeit in ihm?
„Warum lässt du es dann nicht einfach sein?", fragte ich und näherte mich ihm.
„Das ist nicht so einfach", meinte er. „Ich kann nicht einfach zu jagen aufhören. Meine Familie besteht seit Generationen aus Jägern. Der Familie kann man nicht kündigen. Ich hab's versucht, glaub mir."
Ich war ein wenig überrascht. Chase hatte nie ein sonderlich gutes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt, obwohl sie ihn im Grunde immer hatten machen lassen, was er wollte. Basketball, Alkohol, Mädchen. Sie hatten sich nie eingemischt und sich nie über seine gerade-noch Versetzungen aufgeregt. Er hatte sich trotzdem oft bei mir, Trev oder seinen „Freundinnen" untergemogelt, um nicht zu Hause sein zu müssen. Das hatte sich sogar noch verschlimmert, als seine Schwester gestorben war. Er war praktisch gar nicht mehr zu Hause gewesen. Und jetzt stellte er seine Familie über Addie. Die vermutlich einzige Frau in seinem Leben, mit der er nicht verwandt war, mit der er nie geschlafen hatte und die er respektierte.
„Du jagst nicht nur, weil deine Familie das auch tut." Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, und Chase schüttelte den Kopf.
„Du hast recht. Ich habe noch einen anderen Grund."
„Und der wäre?"
Er warf mir einen stummen Blick zu, der so eindringlich war, dass ich wusste, dass ich nicht weiter nachfragen sollte.
„Jagen ist allemal interessanter, als Modoc", sagte er dann. Ich legte die Stirn in Falten.
„Ist das nicht dasselbe?" Nach allem was ich so mitbekommen hatte, war Modoc doch praktisch das Zentrum für gefangene Dämonen, oder?
„Nicht einmal ansatzweise." Er setzte sich mühsam an den Tisch, und trank einen weiteren Schluck Tequila. „In Modoc geht es nur um Experimente. Modoc gehört einer Organisation an, die weitaus größer ist, als nur ein Gebäude. Sie erstreckt sich über den ganzen Globus." Mit gemächlichen Schritten näherte ich mich dem Tisch, doch ich setzte mich nicht. „Weißt du, das Problem mit Dämonen ist, dass man sie nicht so einfach töten kann, weil die meisten Dämonen nicht materiell sind. Man tötet sie in dem Moment, in dem eine direkte Verbindung zwischen Mensch und Dämon besteht. Wann ist das soweit? Nummer eins, die einfache Variante. Der Mensch ist freiwillig besessen, hat den Dämon also in seinen Körper gezwungen."
Ich hätte nicht behaupten können, dass er mich nicht schon wieder überforderte. Ich war immerhin erst vor kurzem aus meinem Saufkoma erwacht. „Wenn die Augen leuchten?", hakte ich nach. Er nickte.
„Oder, Nummer zwei, die schwierigere Variante, wenn der Mensch ungewollt besessen ist, sprich, wenn der Dämon den Körper in Besitz nimmt. Keine leuchtenden Augen, kaum eine Chance zu erkennen, ob es gerade so ist." Sollte das heißen, dass Beverly theoretisch jeder Zeit von einem Dämon hätte besessen sein können, ohne dass es irgendjemand merkte? Der Gedanke wurde noch zehn Mal schlimmer, als ich daran dachte, dass dasselbe vielleicht mit Addie passieren würde. Chase musste mir die Sorge angesehen haben, was mich überraschte, weil ich normalerweise recht gut darin war, meine Gefühle zu verstecken.
„Keine Sorge, ich denke wenn Vaya von Addie Besitz ergreift, merken wir es."
„Woran?"
„An der Blutspur, die sie hinterlassen würde." Das war alles andere als beruhigend.
„Jedenfalls hat man anfangs versucht, die Dämonen in den Körpern der Menschen gefangen zu halten und dann zu töten. Das hat manchmal funktioniert, manchmal nicht. Dämonen haben schließlich ihren eigenen Kopf. Aber es wurde irgendwann verboten, denn diese Methode ist laut den Obersten nicht menschenfreundlich. Mittlerweile versucht man einen Weg zu finden, Dämonen auf andere Weise zu töten. Möglichst so, dass der Mensch dabei nicht zu Schaden kommt." Seine Körperhaltung spannte sich an. „Aber das ist kompletter Schwachsinn, weil viele Dämonen bereits entkommen sind. Beverly ist nicht die Erste. In Modoc schon, aber auf die ganze Organisation projiziert ist sie vermutlich im Millionenbereich." Ich riss die Augen auf. Wie viele Menschen waren den um Gottes Willen von Dämonen besessen? Oder von ihnen verfolgt, oder was auch immer...
„Das passiert in Modoc?", fragte ich ungläubig. Ich hatte angenommen, Modoc sei ein schrecklicher Ort der Folter und Misshandlungen gewesen.
„Diese Vollidioten versauen es ständig", schimpfte Chase. „Weißt du, wie Beverly entkommen konnte?"
„Eine Explosion. Oder ein Feuer." Ich gab lediglich wieder, was Beverly mir erzählt hatte.
„Connor Hiliard, die kleine Pestbeule, ist passiert. Sie haben versucht, ihn von seinem Dämon zu trennen, was lediglich dazu geführt hat, dass er alle Labore in die Luft gejagt hat. Jahrelange Arbeit, einfach so weg, wegen eines einzigen, bedeutungslosen Jungen. Und Felicity, dieses kleine Püppchen, war auch dabei. Die haben sich abgesprochen und Beverly aus Modoc geholfen." Er drehte die Tequilaflasche auf dem Tisch herum. Langsam merkte ich, dass er betrunken wurde. Er gestikulierte mehr als sonst. „Aber kein Wunder. Ich habe sie alle gewarnt, dass dieser Junge viel mehr kann, als einfache kleine Dämonentricks, aber sie wollten ja nicht hören."
Nun, da Chase sich genug aufgeregt hatte, war es wieder still im Wohnzimmer.
„Es gibt keinen Weg, oder?", fragte ich recht leise. „Dämonen von Menschen zu trennen." In mir hatte sich nämlich der kleine Hoffnungsfunke aufgetan, dass Addie geholfen werden konnte.
„Wenn, dann haben wir ihn noch nicht gefunden. Der einzige Weg momentan ist die freiwillige Trennung, vom Menschen ausgehend."
„Warum kann Addie das nicht tun?"
„Sie kann. Sie wird nur nicht", erklärte er angestrengt.
Es war genug. Für einen Tag war es nun wirklich genug. Ich hatte akzeptiert, dass Dämonen existierten, das musste reichen. Also stand ich auf und wollte mich auf den Weg in mein Zimmer machen, aber auf halbem Weg blieb ich stehen und drehte mich noch einmal um. Ich konnte es mir nicht verkneifen.
„So sehr kannst du Dämonen aber nicht hassen, wenn du zu Trish Scotch trinken gehst." Erst sah er mich an, als wüsste er nicht, wovon ich sprach, aber als ihm klar wurde, dass Leugnung keinen Sinn hatte, breitete sich ein selbstzufriedener Ausdruck auf seinem Gesicht aus. Das war der Chase, den ich kannte. Er lehnte sich grinsend zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Wenn schöne Frauen mich nachts um halb zwei zum Scotchtrinken und Kuscheln zu sich bitten, sage ich nicht nein."
„Wie gütig von dir." Ich war nicht mehr überrascht. Seit ich wusste, dass irgendetwas zwischen den beiden lief, war es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis ich eine Bestätigung bekommen hätte. Und da war sie.
„Außerdem ist ihr Dämon so zahm wie ein Schoßhündchen, was man von Trish nicht behaupten kann."
Ich hob abwehrend die Hände. „Ich flehe dich an, erspar mir eure Sex-Eskapaden." Ich drängte die Gedanken an Chase und Trish beiseite, was wegen Chase' schelmischer Blicke alles andere als einfach war.
„Sicher?", grinste er amüsiert. „Du könntest nur profitieren."
„Ganz sicher. Ich will diesem Mädchen noch in die Augen sehen können."
„Dann lass ich es lieber. Sonst sind es nicht mehr ihre Augen, auf die du achtest."
„Okay, das reicht." Ich konnte nicht verhindern, dass mich diese Situation amüsierte.
„Sie hat tolle Augen", meinte er und betrachtete die Tequilaflasche mit einem schwärmerischen Ausdruck. „Zwei wunderschöne Augen."
„Ich hör nicht mehr zu." Es war absolut nicht ungewöhnlich, dass Chase, wenn er getrunken hatte, anfing über wilde Nächte mit seinen „Freundinnen" zu schwärmen und in Nostalgie zu baden. Trev und ich hatten uns das schon öfter anhören dürfen und normalerweise störte mich das nicht sonderlich, besonders wenn ich selbst ebenfalls angetrunken war, aber es ging hier um Trish. Ich kannte sie fast so gut wie Addie und Chase auf diese Weise über sie reden zu hören, war mindestens so abartig, wie wenn Trev über Addie reden würde, was er mir Gott sei Dank bis jetzt erspart hatte.
„Ich hab eine Frage", meinte ich und wurde wieder ernst. Wenn wir schon bei Trish waren, konnte ich auch den Rest zur Sprache bringen. Die Grenze hatten wir ohnehin schon überschritten, es konnte nicht mehr schlimmer werden.
„Falls du dich fragst, ob es gut war: Ja", antwortete Chase zufrieden und nickte bekräftigend. „Die Frau wird zum Tier, wenn du's richtig machst."
„Das war nicht meine Frage, aber danke für die Alpträume." Chase lachte und setzte sich wieder aufrecht hin.
„Warst du das?", fragte ich.
„Was?" Er nahm noch einen Schluck Tequila. Ich hatte mich schon oft gefragt warum er so locker trinken konnte, aber vermutlich, weil er es oft genug tat. Oder vielleicht waren seine Geschmacksknospen von dem vielen Jägermeister und Tequila schon so taub, dass für ihn alles nach Wasser schmeckte.
„Ihre grünen Augen."
Er sah mich genervt an. „Alter, ich bin betrunken. Drück dich konkret aus."
„Bist du der Grund dafür, dass Trish grüne Augen hat?", fragte ich konkret. Chase zog die Augenbrauen zusammen.
„Wie kommst du darauf?"
„Sie weiß, dass du jagst", erklärte ich. „Sie hat doch bestimmt noch nie jemanden umgebracht. Aber verändert sich die Farbe nicht auch, wenn man von einem Mord weiß?"
Er schüttelte den Kopf.
„Ich habe ihr noch nie eindeutig gesagt wann und wen. Aus genau diesem Grund. Seelenfarben werden nur grün, wenn du jemanden umbringst, oder von einem geplanten oder voraussichtlichen Mord wusstest, diesen hättest verhindern können, es aber nicht getan hast." Ich hätte ihm gerne einen Moment der Anerkennung für diesen grammatikalisch korrekten Satz geschenkt, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, dass Trish gelogen hatte. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, woher die grünen Augen kommen, aber ich habe ihr nie von den Jagden erzählt. Das hätte ich ihr nie angetan. Mit grünen Augen bist du mehr Zielscheibe für Jäger, als mit blauen." Für Chase war das Thema damit beendet, denn er wandte sich wieder der Tequilaflasche zu. Mein Blick fiel auf die Alkoholpfütze neben dem Tisch.
„Wisch noch den Jägermeister auf, bevor du in deinen Samstagsrausch fällst", bemerkte ich, während ich immer noch versuchte zu begreifen, dass es nicht Chase war, von dem Trish die grünen Augen hatte. „Das geht sonst durch den Boden."
Chase hob die Arme. „Und? Wen würde das stören?"
„Die Leute, die unter uns wohnen."
„Also, ich würde mich nicht beschweren, wenn Jägermeister von meiner Zimmerdecke tropft", grinste er. Darauf erwiderte ich nichts mehr. Einen Moment lang blieb ich noch stehen, drehte mich dann aber um und ging auf mein Zimmer. Ich schloss die Türe und lehnte mich dagegen.
Wenn Trish bei unserer Unterhaltung nicht versucht hatte Chase zu decken, wen denn dann?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top