38
Beverly
Chai Latte war eigentlich eine gute Methode, um anstrengende Tage schon um elf Uhr morgens ausklingen zu lassen. Und heute war einer dieser Tage, die ich am liebsten gar nicht erst zu Ende erleben wollte. Lieber im Bett verkriechen, und auf einen neuen Tag warten. Nur hatte ich momentan kein eigenes Bett, in dem ich mich hätte verkriechen können. Und auch wenn Aidan's Bett verdammt bequem war, hätte er es bestimmt nicht mit mir geteilt. Jetzt erst recht nicht. Wahrscheinlich klang es erbärmlich, aber mir hätte eine Umarmung im Augenblick ganz gut getan. Eine beschützende Umarmung, und jemand der mir sagte, dass ich nicht das Ende der Welt verursacht hatte. Vielleicht jemand anderes als mein Dämon. Seine Berührungen waren zwar auch beschützend, aber eher aggressiv beschützend und kalt.
In meinem Leben war schon lange nicht mehr so viel innerhalb so kurzer Zeit passiert. Irgendwie gefiel mir das. Da ich in den letzten Jahren nur langweilige Routine erlebt hatte, fühlte es sich ungewohnt, aber nicht unbedingt schlecht an, dass mein Leben endlich wieder Fahrt aufnahm. Fühlte es sich so an, wenn man tun konnte was man wollte? So unfassbar gut, aber gleichzeitig beängstigend. Natürlich war es schlimm was gerade passierte, das stand völlig außer Frage. Seit ich in Aidan's Leben getreten war (oder war ich vielleicht eher auf sein Leben getreten?), schien ich es systematisch zu zerstören. So wie eigentlich alles, was ich so anstellte.
Obwohl es im Starbucks, verglichen zu der Kälte die draußen herrschte, so warm wie in einer Sauna schien, war mir immer noch kalt. Als ich meine Hände um den Becher legte, um sie zu wärmen, bemerkte ich, dass die Schnittwunden auf meinen Händen bereits verschwunden waren. Das Einzige, das einfach nicht heilen wollte, war mein Bein. Und das begann langsam aber sicher lästig zu werden. Der Schmerz war gerade genügend abgeschwächt, dass ich ihn zwar permanent spürte, aber kaum noch wahrnahm. Trotzdem war ich mir sicher, dass die Wunde immer noch nicht annähernd so gut verheilt war, wie ich es gerne gehabt hätte.
Während ich meinen Becher mit Tee auf dem Holztisch nach links und rechts schob überlegte ich, ob Chase mich vielleicht nicht wegen meines Dämons hasste, sondern weil ich einfach ein schrecklicher Mensch war. Ich machte das Leben seiner Freunde kaputt, da wäre ich an seiner Stelle auch sauer.
Er verteidigt sein Revier aber auch wie ein Bullterrier, schoss es mir durch den Kopf, und bei dem Gedanken musste ich mir ein Grinsen verbeißen. Aus irgendeinem Grund sah ich der ganzen Situation trotzdem mit Euphorie entgegen. Ja, ich war eindeutig ein schrecklicher Mensch...
Ich saß an einem kleinen Einzeltisch in der Ecke, von wo aus man ziemlich unentdeckt blieb, aber selbst alles im Blickfeld hatte, (von dem Bestelltresen, an dem gerade eine junge blonde Frau die Bestellung eines älteren Mannes entgegennahm, neben dem ein kleiner Junge auf und ab hüpfte, und aufgeregt auf die Schokomuffins deutete, bis hin zu den Glastüren, durch die permanent kühle Luft herein strömte, sobald jemand das Café betrat oder verließ) und schlürfte meinen dritten Chai Latte mit extra viel Zimt. Ich war am Grübeln, ob ein Schokomuffin meine Laune vielleicht genauso beeinflussen würde, wie die des kleinen Jungen, der gerade freudestrahlend in eines dieser schokoladigen Exemplare hineinbiss, bezweifelte es aber.
Nachdem Chase die Bombe hatte platzen lassen und Addie und Trev erzählt hatte, dass ich einen Mord begangen hatte, hatte Addie lediglich gemeint, dass es ihr nun endgültig zu viel wurde. Sie und Trev hatten sich auf ihr Zimmer verzogen, vermutlich um ihren Rausch auszuschlafen, da in ein paar Stunden Trevs Flug nach New York gehen würde. Ich vermutete, dass gerade ihm ein bisschen Abstand von all diesen Dingen gut tun würde. Die Frage war nur, ob er nach allem was passiert war, auch wieder zurückkommen würde. Bevor ich aus der Wohnung gegangen war, hatte Chase sie verlassen, mit der Begründung, er müsse etwas erledigen, würde vermutlich nicht vor morgen wiederkommen, und hatte mich ausdrücklich davor gewarnt Nicht noch mehr Schaden anzurichten, als ohnehin schon vorhanden.
Am meisten Sorgen machte ich mir tatsächlich um Aidan. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung wo er sich aufhielt. War er zu Rose gefahren? Oder war er auf dem Weg an die Grenze nach Arizona, weil er mich einfach nie wieder sehen wollte? Der Blick den er mir zugeworfen hatte, bevor die Türe hinter ihm ins Schloss gefallen war, ließ jedenfalls darauf schließen, dass ich aus seinem Leben verschwinden sollte, und tatsächlich wäre mir das auch lieber gewesen. Doch bevor ich das tun würde, wollte ich unbedingt noch einmal mit ihm reden. Ich musste wissen, dass er damit klar kam. Zu erfahren, dass Dämonen existieren, die Schwester von einem solchen Wesen verfolgt wird und der beste Freund ein Dämonenjäger ist, ist sicherlich nichts alltägliches, was man einfach so wegstecken kann.
Es waren kaum Menschen hier, was mich wunderte. Normalerweise war Starbucks voll mit Menschen, überwiegend junge Leute, aber es war Samstagvormittag, und da dieser Teil von Fresno nicht für seine touristischen Attraktionen bekannt war, waren die meisten Tische unbesetzt, obwohl die Leute im Schritttempo das Café zu betreten schienen. Ich blieb noch lange Zeit an diesem Tisch sitzen. Ich wusste nicht wie lange, aber als ich das nächste Mal einen Schluck von meinem Chai Latte nehmen wollte, war er bereits kalt. Mein Blick schweifte aus dem Fenster. Draußen war es immer noch bewölkt. Als ich auf die gegenüberliegende Straßenseite sah, blieb mein Blick an einer Person hängen, die unmöglich hier sein konnte. Mein Herz setzte kurz aus und Adrenalin schoss durch meinen Körper. Vielleicht wurde ich jetzt tatsächlich verrückt. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. Reckte den Hals in die Luft. Tatsächlich! Doch, ganz sicher! Auf der anderen Seite der Straße stand Felicity! Oder zumindest ein Mädchen, das ihr verdammt ähnlich sah. Sie stand da und sah zum Starbucks. Sie sah zu mir, und obwohl sie mich durch die leicht verspiegelte Scheibe gar nicht sehen konnte, umspielte ein spielerisches Lächeln ihre Lippen.
Es war Felicity!
Ich sprang auf, und eilte aus dem Café, hinaus auf die Straße, sah nach links und rechts, um von keinem Auto überfahren zu werden, und kam innerhalb von Sekunden an der Stelle an, an der das Mädchen noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte. Blitzschnell sah ich mich um, drehte mich im Kreis und versuchte die Präsenz des Dämons, den ich eindeutig spüren konnte, zu orten. Außer fremder Gesichter, konnte ich jedoch nichts sehen.
~~ ~~
Zurück in der Wohnung, die ich gerne meine Wohnung genannt hätte, war ich ein wenig überrascht und auch erleichtert, Aidan in der Küche stehen zu sehen. Ich hielt für einen Augenblick sogar den Atem an. So unsicher wie ich mich in diesem Moment fühlte, hatte ich mich in seiner Gegenwart noch nie gefühlt. Eher im Gegenteil. Seine Anwesenheit hatte mich bisher immer beruhigt, weil ich das Gefühl gehabt hatte, dass er mich mochte und ich ihm nicht völlig egal war.
Unbewusst wurden meine Bewegungen vorsichtiger, langsamer, behutsamer. Obwohl eigentlich er derjenige hätte sein müssen, der Angst hatte, war ich diejenige, die am liebsten davon gelaufen wäre. Ich musste mir selbst eingestehen, dass ich gar nicht wissen wollte, wie Aidan jetzt über mich dachte. Ich schloss die Wohnungstüre recht leise hinter mir, teils weil ich Aidan schon genug verstört hatte, teils weil ich Addie und Trev nicht wecken wollte, was bei ihrem Saufkoma vermutlich nicht einmal möglich war. Ich wusste nicht wie lange er schon hier war, geschweige denn wie lange ich noch in der Gegend herumgestreift war, in der Hoffnung Felicity zu finden. Aber was hätte Aidan auch anderes tun sollen, als vor der Kaffeemaschine zu stehen, und darauf zu warten, dass sein Cappuccino fertig wurde? Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Ich ging davon aus, dass auch er nicht mehr ganz nüchtern war, denn er stützte sich an einer Stuhllehne ab. Wo war er bloß gewesen?
Er hatte seine Blicke an mich geheftet, seit der Sekunde, in der ich die Wohnung betreten hatte. War das nun gut oder schlecht? Und warum um alles in der Welt musste mir genau jetzt auffallen, dass er, trotz der verstrubbelten Haare und der Ich-habe-die-ganze-Nacht-gelernt Augenringe, verdammt gut aussah? Konnten diese Gedanken bitte zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder kommen? Gar nicht, am besten? Ich war schon lange nicht mehr so nervös gewesen, wie jetzt, und diese absurden, unpassenden Gedanken trugen nicht gerade dazu bei, dass es mir leichter fiel zu atmen.
Ich konnte davon ausgehen, dass ihm diese Situation genauso unangenehm war wie mir, mit dem einzigen Unterschied, dass er immer noch wesentlich entspannter wirkte (vielleicht wegen übermäßigem Alkoholkonsum?). Zumindest sah er nicht einmal halb so zittrig aus, wie ich mich fühlte, aber er ließ sich ohnehin nie in die Karten schauen, also waren Spekulationen weitestgehend überflüssig. Ich schlüpfte langsam aus meiner Jacke heraus, und bemerkte dabei, dass ich wirklich ein wenig zitterte. Er drehte sich zur Kaffeemaschine um, und holte eine Tasse aus dem Schrank, um sich dann einen Kaffee einzugießen. Bei angespannter Stimmung kam mir dieses Wohnzimmer immer tausend Mal stiller vor. Nur das Geräusch des eingeschenkten Kaffees, und der immer noch brodelnden Kaffeemaschine erfüllte den Raum. Mehr als einmal war ich kurz davor etwas zu sagen, überlegte es mir aber jedes Mal anders, bis mir klar wurde, dass ich etwas sagen musste, wenn ich meine vielleicht einzige Chance nicht verspielen wollte, die Dinge zwischen Aidan und mir zu klären. Falls so etwas überhaupt geklärt werden konnte.
„Hasst du mich?", fragte ich, wahrscheinlich viel zu leise, aber er hatte es trotzdem gehört, das erkannte ich an seiner Körperhaltung, an seinen Schultern, die sich nun doch ein wenig versteiften. Er drehte sich nicht um. Wahrscheinlich war es die dümmste Frage, die ich in diesem Moment hätte stellen können, aber ich rief mir meinen Mathelehrer in den Sinn, der stets gemeint hatte Es gibt keine dummen Fragen. Aber hey, immerhin gibt es auch keine Dämonen, richtig?
„Müsstest du das nicht wissen?" Normalerweise konnte ich aus dem Unterton von Leuten heraushören, was sie mir sagen wollten. Aidan's Worte besaßen im Moment keinen Unterton. Trotzdem wusste ich, was er meinte, und viel wichtiger: Mir war klar wie er es meinte.
„Ich lese nie die Gedanken von Menschen", sagte ich, ein klein wenig lauter als vorhin, aber immer noch viel zu unsicher, für meinen Geschmack. Jetzt drehte er sich um. „Nie", wiederholte ich, in der Hoffnung, dem Ganzen ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit zu schenken, was höchstwahrscheinlich hochgradig danebengegangen war. Ich war nicht besonders gut darin, Menschen von mir zu überzeugen. Je mehr ich es versuchte, desto weniger gelang es.
Aidan sah mich kurz forschend an, bevor er sich wieder abwandte. „Schade, dass ich nicht Trish bin." Er glaubte mir nicht? Oder wusste er nicht, ob er mir glauben sollte? Ich war verwirrt. War er sauer? War er enttäuscht? Wusste er überhaupt selbst, was er gerade dachte? Er zeigte so unfassbar selten Gefühlsregungen, dass in mir die Frage aufkam, ob er überhaupt welche hatte.
Er stellte seine Tasse auf die Küchenplatte und stützte sich links und rechts von ihr ab, während er angestrengt auf einen Punkt vor sich starrte. „Trish meint, du kannst meiner Schwester helfen." Es klang recht widerwillig.
Er war bei Trish... Warum zur Hölle war er bei Trish?! Ja, diese Art von Ärger hatte ich auch schon im Myway verspürt, als die beiden ständig über bloße Blicke kommuniziert hatten. Allerdings wusste ich nicht so richtig, in welche Kategorie ich dieses Gefühl einordnen sollte. Es hatte sich zuvor noch nie blicken lassen.
Und wieso dachte Trish überhaupt, dass ich Addie helfen konnte? Sie wusste doch gar nichts über mich. Und das Bisschen, das Chase ihr vermutlich über mich erzählt hatte, reichte bestimmt nicht aus, um einschätzen zu können, wie gut ich mich als Dämon-und-Frauchen Therapeutin, Schrägstrich Trainerin, machen würde.
„Kannst du Addie helfen?", fragte Aidan und drehte seinen Kopf in meine Richtung. Noch nie hatten mich seine dunklen Augen so unruhig gemacht. Er hatte mich aber auch noch nie so angesehen. So forschend. So bestimmt. Als würde meine Antwort, die ich ihm jetzt geben würde, alles entscheidend sein.
Wahrscheinlich hätte ich ihm einfach ins Gesicht lügen und behaupten sollen, dass ich genau wusste, was nun zu tun sei, und dass alles gut werden würde. Möglicherweise hätte er mich dann ein klein bisschen weniger gehasst. Andererseits hätte meine Lüge keinem geholfen, Addie am allerwenigsten, und nur um sie ging es im Endeffekt.
„Ich weiß es nicht", sagte ich schließlich. „Vielleicht." Ich hätte Aidan gerne gesagt, dass ich mich nicht verändert hatte. Dass ich immer noch die Gleiche wie gestern gewesen war, oder vor einer Woche.
Baue Wahrheiten nie auf einer Lüge auf. Wie konnte ich es mir erlauben, Chase für die Lügen, die er erzählte, belehren zu wollen, während ich in der Gegend herum rannte und genau dasselbe tat? Ich war nun eine andere Person. Zumindest für Aidan. Vielleicht war sogar genau das die Sache, die mich so störte. Dass Aidan nicht an dem Mädchen festhalten konnte, das er zu kennen geglaubt hatte. Obwohl ich mir mehr als alles andere wünschte, dass er mich noch immer als dieses eine Mädchen sehen würde. Das Mädchen, für das er gottverdammte sieben Stunden in einer Blechbüchse gesessen hatte. Mehrmals. Das Mädchen, das er zu sich nach Hause eingeladen hatte, obwohl sie vollkommen verwahrlost ausgesehen hatte. Zusammengefasst: Das Mädchen ohne Dämon.
Möglicherweise war genau das der Grund gewesen, warum ich die ganze Zeit hatte hier bleiben, aber gleichzeitig auch hatte weglaufen wollen. Weil ich genau gewusst hatte, dass früher oder später alles herauskommen würde. Ich hätte gehen sollen, als Aidan mich noch mit anderen Augen gesehen hatte.
Als er nicht aufhörte mich mit diesem das-ist-alles-deine-Schuld Blick anzusehen, seufzte ich. „Es tut mir leid", sagte ich. „Wenn es das ist, was du hören willst. Es. Tut. Mir. Leid. Es tut mir leid, dass Addie von einem Dämon verfolgt wird. Es tut mir leid, dass du dumm genug warst, mich hier wohnen zu lassen. Es tut mir leid, dass dich zwei deiner besten Freunde so lange angelogen haben. Aber wenn du einen Grund dafür haben willst, warum weder ich, noch Trish, noch Chase jemals darüber gesprochen haben, dann brauchst du dich nur für eine Sekunde in unsere Lage hineinversetzen." Meine Stimme nahm einen aufgebrachten Tonfall an, ohne dass ich das beabsichtigt hatte. „Ich war lange genug eingesperrt, willst du mir wirklich vorwerfen, dass ich verhindern wollte, meine Freiheit endgültig aufs Spiel zu setzen, indem ich dir von meinem Dämon erzählt hätte?" Die Türe ging auf und ich fuhr schlagartig herum. Chase kam herein und warf mir einen flüchtigen Blick zu, bevor er Aidan bemerkte. Keiner von beiden sagte etwas, was vermutlich auch besser so war.
„Wolltest du nicht was erledigen?", fragte ich daher, ein bisschen eingeschnappt darüber, dass er Aidan und mich unterbrochen hatte. Oder eigentlich nur mich. Ich hatte geredet. Er hatte zugehört. Oder mich einfach nur angestarrt. Wer wusste schon, was in einem Menschen vorging, ohne seine Gedanken zu lesen?
„Wollte ich", stimmte Chase mir zu. „Ich wollte nach Modoc. Auf halbem Weg ist mir dann eingefallen: Hey, Chase, weißt du was? Bei dir zu Hause sitzt ein unberechenbares, dämonisches Miststück mit zahlreichen psychischen Störungen. Willst du sie wirklich alleine mit deinen Freunden lassen?" Er kam ein paar Schritte auf mich zu, hielt aber Abstand, und zog sich die Jacke aus, während er weiterredete. „In Modoc wartet doch ohnehin nur Bürokratie auf dich. Wie wär's? Fahr doch lieber zurück und schärfe deine Messer –nur für den Fall der Fälle."
„Warum spitzt du nicht auch gleich noch deine Hörner dazu?", schoss ich grimmig zurück. „Dann kannst du mich leichter aufspießen. Nur für den Fall der Fälle." Er legte seine Jacke über eine Sessellehne, wobei er mir absichtlich näher kam, als er hätte müssen. Er war fast einen ganzen Kopf größer als ich. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, nicht auszuweichen, während ich mein Unwohlsein zurückdrängte. Diese Machtspielchen konnte er auch mit sich selber spielen. „Außerdem habe ich keine psychischen Störungen", fügte ich eingeschnappt hinzu.
„Willst du mich oder dich überzeugen?" Er hob unbeeindruckt die Augenbrauen und es frustrierte mich irgendwie, dass er mich durchschaut hatte. Schon wieder. Ich wusste nicht, was ich darauf hätte antworten können, also hielt ich den Mund und versuchte Chase rachsüchtig anzusehen, was leider nicht so gut klappte, wie sonst. Wenigstens brachte er wieder etwas mehr Abstand zwischen uns, ich wusste nämlich nicht, wie lange ich die Geruchskombination von hinterhältigem, oberflächlichem Jägermistkerl und, nach Zedernholz riechendem, Aftershave noch ausgehalten hätte. Der Zedernholzgeruch erinnerte mich viel zu sehr an Evan Nelson, Anthonys jüngeren Bruder, und rief Erinnerungen wach, die ich noch mehr von mir wegschieben wollte, als Chase.
Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Keine Schwäche vor dem Feind zeigen.
„Woher kennt ihr euch wirklich?", fragte Aidan und Chase und ich drehten unsere Köpfe fast gleichzeitig. Ich hatte beinahe vergessen, dass Aidan immer noch glaubte, dass wir uns seit Jahren kannten. Den Wir-sind-alte-Freunde Part, kaufte er uns wahrscheinlich schon lange nicht mehr ab. Aber wenigstens war nun wieder Chase derjenige, der auf dem Pranger stand. Zumindest hatte ich das gedacht. Das Problem war nur, dass Chase offenbar von Natur aus eine sehr präsente und selbstbewusste Ausstrahlung hatte, sodass alles, was er sagte, prinzipiell schon ehrlich, plausibel und nachvollziehbar klang, noch bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte.
„Modoc", antwortete er, als wäre es selbstverständlich. „Viele Jäger arbeiten gleichzeitig für Modoc. Und meine Familie arbeitet schon seit Jahrzehnten dort." Er ließ sich lässig auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. „Aber nicht nur für Modoc, sondern generell für die Absichten von Project Salvation. Aber die ganze Bürokratie macht mich fertig. Da ist Jagen eine schöne Abwechslung." Ich zog die Augenbrauen zusammen und sperrte die Ohren auf, sobald die Worte „Project Salvation" gefallen waren, und das merkte Chase natürlich, und es machte ihm sichtlich Spaß, kein weiteres Wort darüber zu verlieren.
„Wie dem auch sei. Du bleibst hier", meinte er entschieden und deutete auf mich. Ich spürte förmlich, wie mir die Wut in den Kopf stieg.
„Willst du mich hier festhalten?", fauchte ich. Es war nicht so, dass ich vorgehabt hätte, freiwillig von hier wegzugehen, aber Chase sollte bloß nicht glauben, ich wäre seine Gefangene oder hätte keine anderen Optionen (die ich tatsächlich nicht hatte). Genaugenommen hatte ich zwar eine andere Möglichkeit, aber die wäre mein Haus gewesen. Und in diesem riesigen, leeren, einsamen Gebäude hätte ich mich paranoider nicht fühlen können. Es war zu still, zu groß, zu einsam. Und ich war mir immer noch nicht sicher, ob mich nicht doch Leute aus Modoc suchten, und dann dort finden würden. Ich hätte kein Auge an diesem Ort zugetan.
„Wenn ich muss", gab er, unbeeindruckt von meinem aggressiven Tonfall, zurück. „Es gibt ungefähr achtzig Personen, die ich lieber hier haben würde als dich", fügte er hinzu, um mich auch ja nicht vergessen zu lassen, was für eine höllengleiche Gestalt ich doch war. „Aber du hast dieses... wie nenne wir es? Missgeschick" Ich rollte mit den Augen. „überhaupt erst verursacht. Also wirst du es auch irgendwie wieder gerade biegen."
Klar, es war natürlich meine Schuld, dass Addie von einem Dämon verfolgt wurde. Das machte absolut Sinn, ich konnte Chase nur zustimmen. Aber noch bevor ich ihn darauf hatte hinweisen können, was für ein selbstfixiertes, narzisstisches Ekelpaket er war, kam Trev ins Wohnzimmer, mit einem Rucksack und einer großen Sporttasche, die er nahe an der Wohnungstüre abstellte. Ich fragte mich mehr und mehr, wann er vorhatte, wieder zurück zu kommen. Ich wusste zwar nicht, was er in New York vorhatte, aber es sah nicht nach einer Eintagesreise aus.
„Was macht sie noch hier?", fragte er, ignorierte mich dabei aber gekonnt.
Ja, okay, ich hab's verstanden. Keiner will mich hier haben. Der schwarze Schatten neben mir knurrte, woraufhin ich meinem Dämon einen zustimmenden Blick zuwarf. So schlimm war ich nun auch wieder nicht.
„Sie bleibt hier." Chase nahm seine Augen nicht vom Fernseher. Offenbar war das Basketballmatch interessanter. Ich hatte den Reiz, anderen Leuten dabei zuzusehen, wie sie versuchten einen Ball in einen Korb zu werfen, oder in ein Tor zu schießen, noch nie verstanden. Trev sah erst Chase mit zusammengezogenen Augenbrauen an und als dieser nicht reagierte, warf er Aidan einen ungläubigen Blick zu, aber dieser zuckte nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Ich hätte mich besser gefühlt, wenn er so etwas wie: „Ja, Beverly bleibt auf jeden Fall hier, denn sie hat nichts Falsches getan, und wir sollten alle nicht böse auf sie sein, denn sie trägt keine Schuld an dem ganzen Schlamassel", gesagt hätte. Aber ich war schließlich an einen Dämon gebunden und demzufolge konnte ich keine Gefühle haben, die hätten verletzt werden können, richtig?
Falsch!
„Haben wir kein Mitbestimmungsrecht?", fragte Trev missbilligend.
„Nein", gab Chase schlicht zurück. „Außer du willst, dass deine Freundin in ein paar Wochen im Blut anderer Menschen badet. Dann dürft ihr gerne mitbestimmen, aber die Toten gehen dann auf deine Kappe, mein Freund."
„Rede nicht mit mir, als wäre ich zehn."
„Was Dämonen angeht, bist du gerade mal im Embryonalstadium." So sehr ich Chase auch abstoßend fand, musste ich zugeben, dass ich diese kontrollierte, gelassene Art bewunderte. Ich wusste nicht, was in seinem Kopf vorging, aber wenn er insgeheim ein zerbrechlicher kleiner Junge war, dann wusste er das verdammt gut zu verstecken.
„Beverly bleibt hier, Ende der Diskussion." Ich konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn mir jemand sagte, was ich zu tun und zu lassen hatte. Und dass Chase mich hier praktisch gefangen hielt, setzte in mir augenblicklich das Bedürfnis frei, von hier abzuhauen. Aidan ging wortlos auf sein Zimmer und nur wenige Minuten später verließ auch Trev das Haus. Sein Flug ging zwar erst in ein paar Stunden, aber offenbar hatte er keinen Nerv mehr dafür hier zu bleiben. Und um ehrlich zu sein, wäre ich jetzt auch gerne gegangen. In dieser Wohnung fühlte ich mich nämlich seit heute Morgen hochgradig unwillkommen und unwohl. Ich konnte nicht wirklich zu Aidan, weil er mit Sicherheit allein sein wollte. Addie schlief und mein Gesicht war wahrscheinlich auch eher das letzte, das sie nach dem Aufwachen sehen wollen würde. Und Chase lag bestimmt mit voller Absicht im Wohnzimmer auf der Couch, sodass ich keine Möglichkeit hatte, auszuweichen. Je länger ich im Wohnzimmer herumstand, desto nervöser wurde ich. Es war erschreckend, wie schnell ich mich fehl am Platz fühlte. Plötzlich schien mein großes, leeres Haus, ohne Gesellschaft, das kleinere Übel. Wie bekam ich es bloß jedes Mal aufs Neue hin, dass Menschen, die ich eigentlich mochte (mit Chase als Ausnahme), von der einen auf die andere Sekunde, nichts mehr mit mir zu tun haben wollten? Ich hatte keine bösen Absichten und versuchte auch nicht, die Leute von mir weg zu ekeln, also was zur Hölle machte ich falsch?
„Willst du jetzt den ganzen Tag da herumstehen?", fragte Chase und riss mich aus meinen Gedanken. „Salzsäulen sind ein zu leichtes Ziel für mich." Ich meinte fast so etwas wie Vergnügen in seiner Stimme mitschwingen zu hören.
„Tu doch nicht so, als würde es dich nicht zutiefst zufriedenstellen, dass deine Freunde mich jetzt hassen", brummte ich. Ich war nicht nur wütend, sondern auch ein klein wenig verletzt. Vielleicht wäre ich verletzter gewesen, wenn ich mir selbst eingestanden hätte, wie verletzt ich tatsächlich war.
„Doch, doch, ich bin wunschlos glücklich, was das angeht", meinte er und nickte zustimmend. „Nur macht es die Situation, in der wir uns befinden, nicht besser, wenn dich, außer mir, auch noch alle anderen aus ihrem Leben haben wollen." Ich verdrehte ein weiteres Mal die Augen. Ich bekam Kopfschmerzen von der Menge an Missgunst, die mir entgegengebracht wurde. Also beschloss ich, dass es überall besser war, als hier. Da ich meine Schuhe gar nicht erst ausgezogen hatte, musste ich mir nur meine Jacke überziehen.
„Wo willst du hin?", fragte Chase, aber es klang nicht so, als wäre er ernsthaft besorgt, ich könne davon laufen.
„Irgendwohin, wo man mich auch wirklich haben will", sagte ich nur. Zugegeben, vielleicht hatte ich Chase darauf aufmerksam machen wollen, dass ich gekränkt war. Das Problem bestand nur darin, dass Chase das kein Stück interessierte. Er lachte darüber, als hätte ich ihm einen Witz erzählt.
„Diesen Ort kannst du lange suchen." Da es ihn auch kalt gelassen hätte, wenn ich vor ihm in Tränen ausgebrochen wäre, verließ ich die Wohnung, bevor es dazu kommen konnte.
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