36
Beverly
Ich fühlte mich ein bisschen wie in der Schule. Dieser eine unerträgliche Moment der Stille, kurz nachdem man dem Lehrer eine falsche Antwort auf seine Frage gegeben hat, während man genau weiß, dass alle anderen in der Klasse es besser wissen, und man von schätzungsweise fünfundzwanzig Augenpaaren ungläubig angestarrt wird. Das war mir tatsächlich viel zu oft passiert, weil ich im Unterricht fast nie aufgepasst und zu Hause auch nicht wirklich gelernt hatte. Das war leider vor der Zeit gewesen, in der ich alles auf mein Trauma hatte schieben, oder Gedanken hatte lesen können, sodass ich regelmäßig von meinen Eltern und unseren Kindermädchen regelrecht zum Lernen gezwungen worden war. Die Privatschule, die ich besucht hatte, war für hochbegabte Kinder gewesen, und ich hatte definitiv nicht an diesen Ort gepasst. Anders als meine Schwester, die zwar eine hinterhältige Schlange ohne Gewissen gewesen war, dafür aber eine Lernkapazität von drei Einsteins gehabt hatte. Dass ich nicht so wie alle anderen dort war, hatte ich schon am ersten Tag gemerkt, an dem sich alle begeistert in zig andere freiwillige Kurse eingetragen hatten, während ich bereits daran verzweifelt war, mich für einen „freiwilligen" Kurs entscheiden zu müssen. Während meine Schwester schon mit acht an fünf weiteren Kursen teilgenommen hatte (Musik, Kunst, Biologie, Geografie und natürlich Astrophysik), hatte ich mich widerwillig für den Musikunterricht eingetragen, weil meine Liebe zu Geschichte und zur Kunst zu der Zeit irgendwo tief in mir vergraben gewesen war. Das Konzept des Notenlesens war mir bis heute schleierhaft. Ich konnte kein Instrument spielen, aber ich wusste immer noch wie der Bassschlüssel aussah. Oft hatte ich von neun Uhr morgens bis sechs am Abend Unterricht gehabt. Stunden, in denen ich eigentlich nur verträumt aus dem Fenster oder auf die Tafel oder Tasten des Klaviers gestarrt hatte. Im Übrigen hatte ich bis heute noch kein einziges Mal das Wort „introvertiert" auf französisch gebraucht. Und ein Mensch mit Latein als Muttersprache, mit dem ich mich über Wirtschaftspolitik auf Latein hätte unterhalten können, war mir auch noch nicht begegnet. Meiner Meinung nach war die ganze Schule ein einziger Witz gewesen. Kein normaler Mensch würde seine Kinder im Alter von sechs Jahren dermaßen unter Druck setzen. Abgesehen davon war ich mir immer noch sicher, dass diese Schule nicht nur für Kinder, sondern auch deren Eltern ein Statussymbol darstellte. Denn mit dem nötigen Kleingeld, wurde so ziemlich jeder an diese überteuerte Privatschule aufgenommen. Und klar, wenn die tolle Victoria Caitlynn Anderson hochbegabt war, dann musste die weniger tolle Beverly Kathrin Anderson auch gut genug sein. So zumindest war die ganze Angelegenheit wohl in den Köpfen meiner Eltern und in denen der Schulleitung gewesen, denn meine Eltern hatten mich, soweit ich wusste, nicht an die Schule schmuggeln müssen.
Jedenfalls hatte sich diese ganze Falsche-Antwort-und-angestarrt-werden Sache genauso angefühlt wie jetzt. Denn noch in der Sekunde in der ich Addie gesagt hatte, dass sie von einem Dämon verfolgt wurde, hatte ich gewusst was für einen riesen Fehler ich begangen hatte. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass ich nicht wirklich eine andere Wahl gehabt hatte. Addie hätte keine Lügen geglaubt, dafür war sie zu klug, das hatte sogar ich mittlerweile gerafft. Trotzdem entzündete sich in meinem Kopf ein Feuerwerk von Fragen. Und die hellste Rakete feuerte die Frage ab, was zum Teufel als nächstes passieren würde. Ich hatte gerade eine Lawine losgetreten, und hatte keine Chance das wieder rückgängig zu machen. Ich wünschte ich hätte einfach sagen können, dass es bloß ein Scherz gewesen war, aber dafür war es erstens bereits zu spät, und zweitens fand ein Teil von mir, dass Addie es wissen sollte. Aber der andere Teil wünschte sich, dass die letzten zwanzig Sekunden nie passiert wären. Selbst mein Dämon rührte keinen Muskel- sofern er überhaupt welche hatte- sondern betrachtete angespannt die Szene.
Warum hast du das gesagt, Beverly? Wieso musstest du dich überhaupt in ihr Leben einmischen? Es ist nicht deine Aufgabe diesem Mädchen die Wahrheit zu sagen.
Aber ich hatte an Trish's Worte denken müssen. Sie hatte nicht vorgehabt Addie davon zu erzählen. Noch nicht. Und je länger sie es hinausgezögert hätte, desto mehr hätte die Situation zu eskalieren gedroht. Außerdem erkannte ich mich ein klein wenig in Addie wieder. Ich wusste wie sie sich fühlte. Sie hatte jemanden, der ihr helfen könnte. Der ihr die Wahrheit sagen könnte, aber beide dieser Menschen entschieden sich konsequent dagegen. Ihre Absichten, Addie beschützen zu wollen, mochten ja vielleicht sehr ehrenwert sein, halfen ihr jedoch kein Stück. Und am Ende würde dieses Mädchen noch in einer Nervenheilanstalt landen, so wie ich, weil ihr niemand sagte, dass sie nicht verrückt war. Würde sie der falschen Person erzählen was gestern Abend passiert war, oder dass ein angebliches „Monster" sie im Badezimmer angegriffen haben soll, würde sie mit Sicherheit dort landen. Und zu den falschen Personen zählte ich unter anderem auch Trev dazu. Mir konnte keiner erzählen, dass er jemals an Dämonen glauben würde. Da war es ja noch wahrscheinlicher, dass ich Addie überzeugen konnte.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Innerhalb weniger Sekunden fielen mir ungefähr zwanzig Dinge ein, die ich anders hätte machen können, um nicht in diesem Schlamassel zu stecken. Und... nun ja. Einer davon war gerade eben passiert.
„Ein Dämon", sagte Addie langsam. „Da bin ich ja beruhig, dass es nur ein Dämon ist, der mich verfolgt und nicht etwa der rachsüchtige Geist meiner verstorbenen Urgroßmutter." So einen Spruch konnte auch nur sie bringen, oder? Obwohl herauszuhören war, wie geschockt sie über die ganze Situation war, fand ich es bemerkenswert, dass sie selbst in einer solchen Situation ihren, zugegebenermaßen ziemlich makaberen Humor, nicht verlor. Alle anderen schienen keine Ahnung zu haben, was sie jetzt sagen oder wie sie reagieren sollten, was ich auch verstehen konnte.
„Du glaubst mir nicht?", seufzte ich, obwohl es mich wahrscheinlich mehr beunruhigt hätte, wenn sie mir geglaubt hätte.
„Du meinst das ernst?", fragte sie erschüttert zurück. Es war mir egal, ob mir Trev oder sogar Aidan glaubten. Mir war nur wichtig, dass Addie mir glaubte. Denn sie war diejenige, die damit leben musste.
„Meine Witze sind jedenfalls besser." Bist du dir da sicher? Ist nicht dein ganzes Leben ein einziger Witz? Und das ist nicht wirklich besser, oder Beverly?
Addie lachte ungläubig und mit Unbehagen in der Stimme auf. „Du glaubst an Dämonen."
„Ich glaube auch, dass die Erde rund ist." Ich war mir so, so, so sicher, dass ich mich einfach immer tiefer in die Scheiße reinritt. Nur konnte ich jetzt nicht mehr zurück. Ich hatte wohl nur allzu deutlich gemacht, dass ich felsenfest davon überzeugt war, dass Dämonen existierten.
Eine Sache jedoch verstand ich noch immer nicht. Warum sie? Warum würde sich ein Todesdämon an ein sanftmütiges Mädchen wie Addie binden wollen? Ich meine, nicht dass ich je erfahren hätte, warum mein Dämon sich an mich hatte binden wollen, aber er hatte mir immer versichert, er würde mir den Grund nennen, würde ich herausfinden wer er war. Außerdem hatte er gemeint, würde ich wissen wer er war, bräuchte ich gar nicht mehr fragen, was seine Gründe waren, was mich um ehrlich zu sein nicht gerade beruhigte. Aber was hatte Addie? Warum hatte Vaya Addie schon haben wollen, als sie noch ein Kind, und er an Rose gebunden gewesen war?
Für einen ganz kurzen Moment flackerte etwas in Addie's Augen auf. Sie dachte für den Bruchteil einer Sekunde wirklich darüber nach, ob sie mir glauben sollte. Doch auf Trev war Verlass.
„Du bist verrückt", sagte er, und Addie's Vielleicht-sollte-ich-ihr-zumindest-zuhören Blick verschwand. Herzlichen Dank auch!
„Ja, das hab ich schon gehört", gab ich ruhig zurück, auch wenn ich innerlich zu kochen begann. Ich warf Chase einen auffordernden Blick zu, aber er verschränkte lediglich die Arme vor der Brust und schien einfach nur beobachten zu wollen, wie ich aus dieser Situation unbeschadet wieder herauskommen würde. Und es war nicht zu übersehen, dass er mich am liebsten dafür umgebracht hätte (ganz was Neues), dass ich Addie von dem Dämon erzählt hatte. Er würde mir bestimmt keine große Hilfe sein, aber um ehrlich zu sein, hatte ich das auch nicht erwartet.
„Beverly, ich sage das jetzt wirklich nur, weil ich dich mag", begann Addie. Na toll, Déjà-vu. „Geh in irgendeine Nervenheilanstalt zurück und lass dir helfen." Ich atmete angestrengt ein und ließ meinen Blick zum Fenster gleiten. Die gegenüberliegenden Häuser waren genauso trostlos und grau wie immer, aber der Himmel strahlte in einem hellen Blau, wie schon lange nicht mehr. Auf dem Fensterbrett entdeckte ich neben ein paar verkümmerten Pflänzchen einen kleinen, pummeligen Engel aus Porzellan. Ich fand ihn sofort unfassbar kitschig, aber ich fragte mich gleichzeitig, wer von den hier Anwesenden tatsächlich gläubig war. Wer an das eine glaubte, musste doch auch an das andere glauben, oder nicht? Chase war mit Sicherheit in irgendeiner Weise gläubig, auch wenn es paradox erschien, zu Gott zu beten, dann aber herum zu rennen und Leute umzubringen. Im Schnelldurchlauf ging ich alle Gespräche zwischen mir und Aidan durch, aber wir hatten nicht ein einziges Mal über irgendetwas Übernatürliches und schon gar nicht über Religionen geredet. Vielleicht auch deshalb, weil ich um diese Themen unbewusst einen Bogen gemacht hatte. Jetzt hasste ich mich dafür.
„Glaubst du an Gott?", fragte ich geradeheraus. Was hatte ich schließlich noch zu verlieren? Ich wurde sowieso schon für verrückt gehalten.
„Kein Stück." Perfekt. Um ehrlich zu sein, wäre ich am liebsten aufgestanden und gegangen. Es wäre leichter gewesen, als hier sitzen zu bleiben, und von drei Menschen für verrückt gehalten und von einem am liebsten umgebracht zu werden.
„Du kannst ja mal deine rothaarige Freundin fragen, was sie über das alles denkt", meinte ich, und verschränkte protestierend meine Arme.
„Beverly", warnte Chase sofort, was mich überrascht aufschauen ließ.
„Jetzt greifst du ein?" Ich war fast schon amüsiert. Sobald ich Trish zur Sprache brachte, überschritt ich also eine Grenze? Ich warf Chase einen studierenden Blick zu. „Interessant."
„Was hat Trish mit der Sache zu tun?", fragte Addie dazwischen.
„Gar nichts", knurrte Chase und sah mich drohend an. „Beverly ist einfach verrückt." Warum um alles in der Welt wollte er Trish aus der Sache raus halten? Früher oder später würde es sowieso ans Licht kommen.
„Baue Wahrheiten nie auf einer Lüge auf", zitierte ich Rose. „Wenn die Lüge zerbricht, brechen alle Wahrheiten mit ihr ein." Damals hatte ich es nicht verstanden. Jetzt tat ich es dafür umso mehr. Chase sah mich entnervt an.
„Okay, stopp", sagte Addie entschieden. „Hört sofort auf mit diesen seltsamen Unterhaltungen, die nur ihr zwei versteht, und sagt mir verdammt nochmal was hier abgeht!"
„Das habe ich doch gerade versucht", entgegnete ich so ruhig wie möglich.
„Du hast gesagt, dass Addie von einem Dämon verfolgt wird", warf Trev kopfschüttelnd ein. Langsam wurde mir bewusst, warum Addie so schnell auf 180 war, wenn die beiden stritten. Seine Art zu reden konnte verdammt herablassend und provozierend sein. Noch provozierender, als wenn Chase etwas sagte.
„Ihr wollt die Wahrheit?", knurrte ich, und ballte meine Hände unwillkürlich zu Fäusten.
„Beverly", versuchte Chase mich zurückzuhalten, aber ich hatte wirklich die Nase voll davon. Abgesehen davon hatte ich auch Angst davor was passieren würde, würden sie mir nicht glauben.
„Okay, also, hier die ganze verdammte Wahrheit", sagte ich und sah Addie eindringlich an.
„Beverly", warnte Chase noch einmal.
„Du wirst von einem Dämon verfolgt. Einem Todesdämon, um genau zu sein. Soweit, so schlecht. Sein Name ist Vaya. Er war schon an deine Großmutter gebunden und hat dich entdeckt, als du noch ein Kind gewesen bist. Er wollte sich an dich binden, aber Rose hat es verhindert, wofür sie als verrückt abgestempelt, und ins Irrenhaus abgeschoben wurde."
„Beverly!"
„Ich und Trish sind an Dämonen gebunden. Jeder Dämon schenkt seinem Menschen eine übernatürliche Gabe. Ich kann Gedankenlesen, Trish kann sagen, ob ein Mensch lügt, oder die Wahrheit sagt und du hast Visionen von Menschen, die bald sterben werden, so wie gestern Abend, als du gesehen hast, dass das Flugzeug abstürzen wird. Ach ja, und bevor ich es vergesse: Dein, ach so liebreizender, bester Freund, Chase, jagt Dämonen."
„Verdammt, Beverly, hör auf!"
Addie sah mich einfach nur mit großen Augen und Verunsicherung an, vollkommen überfordert, weshalb ich schließlich auch tatsächlich aufhörte. Für einen Tag hatte ich sie wohl schon genug traumatisiert. Wieder waren wir in dieses zeitlose Loch gefallen, in dem niemand etwas sagte, keiner einen Muskel rührte, und man das Trippeln einer Ameise hätte hören können.
„Das reicht", meinte Trev entschieden und zog sein Telefon aus der Hosentasche heraus. „Ich rufe jemanden an, der dieses verrückte Mädchen mitnimmt." Adios, Freiheit. Ich sah mich bereits die nächsten zehn Jahre in demselben Zimmer sitzen. Weiße Wände, Pillen ohne Ende schlucken, zum tausendsten Mal dieselben nutzlosen Therapiegespräche. Kein Aidan mehr, der mich vergessen ließ wie kaputt ich eigentlich war. Keine Addie, der ich helfen konnte. Kein Chase, vor dem ich weglaufen wollte. Kein Trev, der... na gut, ihn würde ich vielleicht noch am wenigsten vermissen.
„Warte", sagte Addie, nahm den Blick aber nicht von mir. Ein Hoffnungsfunke?
„Du glaubst doch nicht etwa ein Wort von dem was diese Verrückte hier von sich gibt, oder?!" Der gerade erloschen ist...
„Nein...", entgegnete Addie vage und es klang nicht sehr überzeugend. Aber genau die Tatsache, dass sie eben so unsicher klang, ließ mich den Atem anhalten. Glaubte sie mir etwa? „Aber..."
„Aber was?", fragte Trev schroff.
„Ich wusste, dass das Flugzeug abstürzen wird!", jetzt wurde auch Addie laut und drehte sich so schnell zu Trev, dass ihre Locken ebenfalls herumwirbelten.
„Das war ein Zufall, nichts weiter. Ein Zufall!", beharrte Trev. „Du willst mir doch nicht erzählen, dass du an Dämonen glaubst!"
Addie wusste sichtlich nicht was sie glauben sollte, und was nicht. Auf der einen Seite wusste sie, wie verrückt all das war, andererseits wusste sie, was sie selbst erlebt hatte. Alle möglichen Zweifel und Zwiespältigkeiten zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. Dann drehte sie sich wieder zu mir.
„Kannst du es beweisen?", fragte Addie.
„Das ist doch ein Witz." Trev warf ungläubig die Arme in die Luft. Wenn ich die Existenz von Dämonen mit meiner Gabe bewiesen hätte, wäre Trev wohl der Erste gewesen dessen Kopf ich ohne schlechtes Gewissen durchstöbert hätte. Gleich nach Chase' versteht sich. Aber wenn ich es nicht schaffen würde ihn, Addie und Aidan, der anscheinend alles wie ein stummer Zuschauer an sich vorbei ziehen ließ, davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sagte, ohne ihr Vertrauen komplett zu verlieren, dann würde ich am Ende tatsächlich wieder eingesperrt werden. Und das durfte nicht passieren. Es gab so vieles, das ich noch klären musste. Unter anderem die Connor-Felicity-Modoc Frage. Außerdem musste ich mir eingestehen, dass ich hier nicht weg wollte. Einer der Gründe dafür war, dass ich mich hier (mal abgesehen von der ständigen Todesgefahr, die von Chase ausging) verdammt wohl fühlte. Und ich mochte Addie und Aidan wirklich gerne. Aber ich würde nie in die Gedanken von einem der hier anwesenden eindringen. Nicht einmal in Chase' oder Trev's.
Ich seufzte als ich eine Entscheidung gefällt hatte. „Okay, aber ihr dürft nicht ausrasten." Mein Dämon sträubte sich wie wild dagegen, als ich meine Augen schloss und ihn in meinen Körper ziehen wollte, aber ich schaffte es trotzdem. Als ich meine Augen öffnete, sah ich die altbekannte schwarz-weiße Umgebung. Ich brauchte trotzdem noch ein paar Sekunden bevor ich mich traute, Addie anzusehen, und ihr Leben für immer zu verändern.
~~ ~~
Addie griff nach dem dritten Glas Scotch und kippte es in einem Zug hinunter. Sie hatte ihren Blick starr auf einen Punkt auf dem Boden gerichtet, während sie versuchte zu begreifen, dass Dämonen existierten.
Noch in der Sekunde, in der sich meine Augenfarbe verändert hatte, hatte Chase seinen Dämonenglasdolch herausgezogen, woraufhin mein Dämon sich in Windeseile von mir losgerissen hatte. Diese wenigen Sekunden, in denen meine Augen rot gewesen waren, hatten trotzdem ausgereicht, dass alle Anwesenden es gesehen hatten. Ihre ersten Reaktionen hatte ich nicht so ganz mitbekommen, weil es durchaus nicht ganz angenehm gewesen war, dass mein Dämon sich buchstäblich von mir losgerissen hatte, aber wenigstens hatte Chase dieses verdammte Messer wieder weggesteckt. Mittlerweile fragte ich mich tatsächlich, wo zum Teufel er diese Dinger immer so schnell her zauberte. Und dann war die Hölle los gewesen. Addie war am meisten durchgedreht. Wahrscheinlich hätte sie Chase sogar geschlagen, als er sie am Verlassen der Wohnung hatte hindern wollen, wenn er nicht so verdammt gute Reflexe gehabt hätte. Ich hatte eigentlich eher damit gerechnet, dass Trev ausrasten würde, aber er hatte erst einmal apathisch die halbe Flasche Scotch geleert, die Chase auf dem Küchentisch abgestellt hatte und Addie ebenfalls ein Glas eingegossen, weil es ihr schwer gefallen war, sich zu beruhigen, obwohl Chase ihr mehrere Male versichert hatte, dass ich ihr nichts tun würde, zumindest nicht, solange er hier war. Und Aidan... nun ja. Ich hatte mich nicht wirklich getraut ihn anzusehen, aber aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass er an der Küchenzeile lehnte und in meine Richtung sah. Ich hätte wirklich zu gerne gewusst, was er dachte. Ob er es bereute, mich jemals in Modoc besucht zu haben. Ob er es bereute, mir angeboten zu haben, hier zu bleiben. Ob er Angst vor mir hatte.
Ich hatte noch nie jemandem von meinem Dämon erzählt, der nicht schon davon gewusst hatte. Deshalb konnte ich nicht beurteilen, inwiefern die Reaktionen von Trev, Addie und Aidan auf diese Neuigkeit normal waren. Trev hatte offenbar vor, sich komplett volllaufen zu lassen und konsequent abzustreiten, was er gerade mit eigenen Augen gesehen hatte, obwohl er mir für gewöhnlich nicht wie ein Trinker vorkam. Addie war einfach nur hysterisch geworden und wäre am liebsten aus der Wohnung gelaufen, wobei sie von allen wahrscheinlich am ehesten darauf hätte gefasst sein müssen, dass ich die Existenz von Dämonen hatte beweisen können. Und der Mensch, vor dessen Reaktion ich tief in mir am meisten Angst gehabt hatte, tat gar nichts. Und ich konnte absolut nicht sagen, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Schon als die Sache mit dem Flugzeugabsturz bekannt geworden war, hatte Aidan keinen Ton mehr gesagt. Langsam machte ich mir Sorgen. Ich hoffte so sehr, dass ich die Gelegenheit haben würde, ihm zu zeigen, dass ich alles andere als gefährlich war, egal was Chase sagte. Meine größte Furcht war, dass heute, in wenigen Minuten, alles auf die eine oder andere Art ein Ende finden würde. Entweder würde Chase mich endgültig töten, oder sie würden mich aus der Wohnung werfen und nie wieder sehen wollen.
Ich linste zu Trev. Er saß mittlerweile ziemlich angetrunken auf der Couch, den Flaschenhals mit einer Hand umklammert, mit der anderen massierte er sich die Schläfen, und überlegte sich wahrscheinlich gerade ein paar rationale Erklärungen, für die plötzliche Veränderung meiner Augenfarbe. Eine, die ein bisschen weniger satanistisch angehaucht war. Vielleicht ein spezieller Einfallswinkel des Lichts. Oder farbverändernde Kontaktlinsen. Ich hatte mir einen Stuhl geholt und mich gegenüber von der Couch niedergelassen, da ich es aus Sicherheitsgründen vorzog, Addie und Trev auf der Couch zu wissen, während sie sich betranken.
„Das passiert wirklich, oder?", fragte Addie irgendwann. Schuld überkam mich. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte Addie ihr normales Leben zurückzugeben, hätte ich es getan. Die Liste jener Menschen, denen ich Schlechtes wünschte, war lang, aber Addie stand ganz sicher nicht drauf und obwohl mich die Schicksale der meisten Menschen normalerweise wenig interessierten, weil ich selbst bestimmt Schlimmeres durchgemacht hatte, fühlte und litt ich mit Addie irgendwie mit. Das gefiel mir nicht. Warum konnte ich nicht wieder die gefühlskalte Beverly sein, die ich mit vierzehn zum ersten Mal in mir entdeckt hatte?
„Mach das nochmal", sagte Addie mit rauer Stimme und sah mich an. „Das mit den Augen. Sonst glaube ich, ich träume."
Eigentlich fühlte ich mich alles andere als wohl dabei, diesen Alptraum für sie endgültig Realität werden zu lassen, aber ich tat es trotzdem. Während Chase wieder nach dem Dämonenglas griff, rutschte Addie an die Kante des Sofas, um meine Augen näher betrachten zu können und schüttelte ungläubig den Kopf. Trev stöhnte angestrengt und trank einen weiteren Schluck direkt aus der Flasche.
„Wie machst du das?", fragte Addie beinahe fasziniert. Ich musste kurz auflachen. Ihre plötzliche Neugierde schien ihr Unwohlsein beiseite zu kehren.
„Ich weiß nicht genau", sagte ich langsam. „Ich zwinge den Dämon in meinen Körper, schätze ich. Und dann passiert das." Ich zeigte auf meine Augen, ließ meinen Dämon aber recht schnell wieder gehen, damit Chase sich nicht aufregen musste.
„Warum sind sie rot?" Zum Glück wusste Addie nicht, was meine roten Augen bedeuteten. Aber, hey, auf Chase war immerhin auch Verlass. Kein Wunder, dass er und Trev beste Freunde waren. Würde mich nicht überraschen, wenn sie den Machen-wir-Beverly-fertig-Club gründen würden. Ich hätte sie mit etlichen begeisterten, potentiellen Anhängern bekannt machen können.
„Ja, Bevy", warf er vom Kühlschrank her ein. Bevy?! Tatsächlich war es nicht das erste Mal, dass mich jemand so nannte, aber ich hatte vergessen wie provokant es war. „Warum sind sie rot? Hat das eine Bedeutung?", fragte er übertrieben unwissend. „Warum rot und nicht blau?"
„Ich frage mich, was deine Augenfarbe wäre", schoss ich bissig zurück. „Vielleicht grün? Oder auch rot?" Der Blick den Chase mir nun zuwarf, machte deutlich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Wut und Schuld standen in seinem Blick, wobei die Wut wesentlich stärker herausstach. Ich wusste nur nicht, ob er wütend auf mich oder sich war.
„Es gibt mehrere Farben? Was bedeuten sie?", fragte Addie dazwischen. Ich merkte an ihrem viel zu ruhigen Verhalten, dass sie ziemlich benebelt war. Trotzdem schien sie alles, was ich sagte, in ihrem Gehirn zu speichern. Mal schauen, was morgen davon noch übrig sein würde.
„Es sind Seelenfarben", begann ich, ohne Addie anzusehen. „Es gibt fünf. Blau, Grün, Rot, Gold und Schwarz. Blau steht für Unschuld. Nicht in biblischer, sexueller Hinsicht, sondern vielmehr..."
„Mord", beendete Chase meinen Satz, weil ich nicht wusste, wie ich es erklären sollte. „Weißt du, das ganze Dämonenbusiness baut auf Mord auf. Tötest du einen Menschen, kommst du in die Hölle und verwandelst dich früher oder später in einen Dämon." Offenbar hatte Addie noch nicht wirklich realisiert, dass Chase ein Jäger war, denn sie sah ihn genauso aufmerksam und vertraut an, wie sonst auch. Aber wahrscheinlich hatte sie in den letzten Minuten einfach viel zu viel auf einmal erfahren, sodass sie erst einmal sortieren musste. Trotzdem war ich mir sicher, dass die Freundschaft der beiden noch auf die Probe gestellt werden, wenn nicht sogar zerbrechen würde.
„Mord", wiederholte Addie und begann wieder an ihrem Ärmel herum zu zupfen. „Dann sollte doch die Mehrheit blaue Augen haben, oder nicht?" Sie war so ein süßes, unschuldiges und ziemlich naives Kind.
„Du wärst überrascht", bemerkte Chase und warf mir dabei einen bedeutungsschwangeren Blick zu, den ich nicht kontern konnte, also wich ich ihm aus.
„Dämonen differenzieren nicht", fuhr ich dann fort. „Selbst, wenn du nur von einem geplanten Mord wusstest und ihn nicht verhindert hast, ist es Mord." Trev nahm einen weiteren Schluck. Es war kaum noch etwas in der Flasche und er schien nicht mehr besonders aufnahmefähig. Da bewegte sich Aidan. Ziemlich plötzlich, und ohne besonderen Grund. Er nahm seine Jacke und zog sich in Windeseile seine Schuhe an.
„Wo willst du hin?", fragte Chase, sah aber nicht einmal halb so besorgt aus wie ich. Er hinderte ihn nicht daran zu gehen, denn er würde Aidan bestimmt wieder sehen. Ich vielleicht nicht. Aidan antwortete nicht, sondern warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, bevor er aus der Wohnung ging. Doch dieser Blick hatte gereicht. Dieser Blick hatte mir nur eines sagen sollen. Und zwar, dass er hoffte, mich nie wieder sehen zu müssen. Ich hatte wahrscheinlich nicht nur Addie's Leben zerstört, sondern auch seines und Trev's. Es hatte mich selten so sehr gestört, dass ein Mensch von mir so abgrundtief enttäuscht war.
„Was bedeuten die anderen Farben?" Addie riss mich aus meinen melancholischen Gedanken und ich versuchte, mich zusammen zu reißen. Sie nahm Trev die Flasche aus der Hand, und stürzte den letzten Rest hinunter, bevor sie die leere Flasche auf den Boden stellte.
„Danke, dass ihr meinen Scotch ausgetrunken habt", grummelte Chase missmutig. Addie ignorierte ihn und sah mich abwartend an.
„Grün bedeutet Mord an einer x-beliebigen Person. Gold, wenn die Seele eines Menschen gebrochen ist. Und schwarz, wenn der Dämon vollständig mit einem Menschen verbunden ist. Eins mit der menschlichen Seele wird. Das kann allerdings nur passieren, wenn die Seele eines Menschen bereits gebrochen ist."
„Wann bricht denn eine Seele?", fragte Addie verwirrt. Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte mir nicht die Mühe geben, ins Detail zu gehen, weil Addie unter Garantie noch einmal fragen würde, wenn sie wieder nüchtern war.
„Das ist individuell. Nicht einmal Dämonen wissen, wann es passiert. Die eine Seele bricht, wenn der Notendurchschnitt unter 1.0 liegt, die andere, wenn eine geliebte Person stirbt." Ich verschwieg Addie lieber, dass das oberste Ziel der meisten Dämonen eine vollständige Bindung an einen bestimmten Menschen war. Denn nach allem was Vaya getan hatte, konnte ich mir gut vorstellen, dass Addie die Person war, für die er sich entschieden hatte. Er hatte sie schon vor langer Zeit entdeckt und würde sich an sie binden wollen, sprich, sie so lange durch sein persönliches Folterkabinett laufen lassen, bis ihre Seele gebrochen sein würde. Und Dämonen haben viel Fantasie. Manche Dinge lassen sie geschehen, andere verhindern sie schlicht und ergreifend nicht. Und da sie nie wissen können, wann eine Seele bricht, versuchen sie oft alles Mögliche. Ich wollte nicht daran zurück denken, was mein Dämon alles getan hatte. Aber da ich offenbar nicht zu brechen war, hatte er es tatsächlich irgendwann sein lassen. Manchmal wünschte ich, ich wäre an seinen Grausamkeiten zerbrochen. Dann hätte ich zumindest rechtfertigen können, was ich getan hatte.
„Und rot?", fragte Addie und holte mich erneut aus meinen Gedanken. Ich hatte gehofft, sie hätte es vergessen.
„Ach ja", bemerkte Chase schadenfroh. „Die gute, alte Farbe Rot. Die Farbe, die ein paar wunderbare Geheimnisse über unsere zuckersüße Beverly preisgibt."
Ich sah Chase lange an. „Wie bist du nur so geworden?", fragte ich kopfschüttelnd. „Haben dir deine Eltern zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?" Es war unfair. Das wusste ich. Ich zielte punktgenau auf das, was Chase vermutlich am meisten wehtat. Ich wusste, wie Jäger großgezogen wurden. Es war unter Dämonen kein Geheimnis, welche Erziehung diese herzlosen Killermaschinen genossen, was jedoch bei den wenigsten Mitleid hervorrief. Meine Vermutung bestätigte sich, als Chase Gesichtsausdruck wieder in unterdrückte Wut überging. Aber er hatte es nun wirklich nicht anders verdient, oder?
„Waren deine Eltern denn für dich da?", fragte er zurück und traf damit mindestens so sehr ins Schwarze wie ich bei ihm. Ich schob den widerwärtigen Gedanken daran, dass Chase und ich tatsächlich etwas gemeinsam zu haben schienen, schnell beiseite.
„Was zum Teufel bedeutet Rot?!" Mir wurde mehr und mehr bewusst, dass Addie es sich ab jetzt nicht nehmen lassen würde, alles zu erfahren. Sie hatte ja auch ein Recht darauf. Sie musste alles über Dämonen wissen, wenn sie dieses Leben richtig führen wollte. Aber sie musste bei Gott nicht alles über mich wissen. Und weil ich es nicht schaffte ihr zu antworten, übernahm das natürlich mein Dolmetscher Chase.
„Mord innerhalb der Blutlinie."
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