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Aidan

Als Addie sechs Jahre alt gewesen war, hatte sie angefangen mich an Halloween erschrecken zu wollen. Eigentlich hatte sie jeden erschrecken wollen, was nicht wirklich geklappt hatte. Sie hatte beim Anschleichen zu sehr getrampelt, und beim Erschrecken zu viel gekichert. Am Anfang hatte ich über die kläglichen Versuche meiner Schwester gelacht, aber irgendwann hatte ich damit begonnen so zu tun, als würde ich erschrecken, weil ich begriffen hatte, dass es sie begeisterte, wenn sie mich erschrecken konnte. Das war die Zeit gewesen, in der ich angefangen hatte ihr großer Bruder zu sein. Als sie elf war hatte sie sich mit Chase an Halloween, und auch gerne mal an normalen Tagen, verbündet. Mit ihm zusammen war es schon leichter gewesen mich und andere tatsächlich zu erschrecken, trotzdem hatte ich den Schock noch viel zu oft vortäuschen müssen. Aber irgendwann hatte sie den Dreh rausgehabt, und ich hatte nicht mehr so tun müssen, als ob ich einen Herzinfarkt bekommen hätte. Ich war sehr vorsichtig und voller Unbehagen durch unser Haus gegangen, weil ich teilweise wirklich Angst vor ihren Streichen gehabt hatte. Man hatte nie wissen können wann und wo sie einen Streich vorbereitet hatte. Aber ihre ganzen Masken, Blutorgien, Plastikspinnen und Hinter-der-Ecke-hervorspringen oder Von-hinten-an-meinen-Bruder-anschleichen Streiche, hatten mich nie auch nur ansatzweise so sehr erschreckt, wie wenn es ihr wirklich schlecht gegangen war. Als sie mit sieben Jahren von unserem Apfelbaum gefallen war, und sich den Arm gebrochen hatte, zum Beispiel. Oder als sie mit vierzehn fast gestorben wäre, weil alle Ärzte, sogar unsere Mutter, beinahe ihre Blinddarminfektion übersehen hatten.

Nicht viel anders hatte ich mich heute gefühlt, als ich keine zehn Schritte aus dem Flughafengebäude gemacht hatte, und plötzlich Addie vollkommen aufgelöst auf mich zugelaufen kam. Im ersten Moment hatte ich gedacht jemand sei gestorben. Aber nein. Sie hatte nur wie eine Wahnsinnige davon gesprochen, dass Trev auf keinen Fall nach New York fliegen durfte, weil das Flugzeug abstürzen würde. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn tatsächlich jemand gestorben wäre, denn Addie machte mir mehr und mehr Angst mit ihrem fragwürdigen Verhalten.

Ich würde wohl nie aufhören ihr großer Bruder zu sein, selbst wenn Addie achtzig sein würde.

Während Chase Addie und Trev nach Hause fuhr, gingen Beverly und ich noch etwas Essen. Am Flughafen hatten alle Läden vierundzwanzig Stunden geöffnet, was ziemlich praktisch war, denn so mussten wir nicht extra in die Stadt hineinfahren, sondern würden direkt nach Hause können. Ziemlich in der Nähe der Eingangshalle waren noch ein paar Tische im Hard Rock Café frei. Als ich die Speisekarte studierte wurde mir bewusst, wie (Achtung: Ironie) unfassbar gesund ich mich in letzter Zeit ernährt hatte. Aber zu meiner Verteidigung: Meine Eltern zahlten lediglich für mein Studium, und gaben mir monatlich gerade genug Geld, um meinen Teil der Miete bezahlen zu können und nicht zu verhungern. Das war ihre Art mich zur Selbstständigkeit zu drängen, aber das war okay. Abgesehen davon hatte ich nicht einmal die Zeit mich anderthalb Stunden in die Küche zu stellen, und planlos auf einen verbrannten Auflauf zu starren. Wenn Trev einen guten Tag hatte, was in letzter Zeit nicht allzu häufig der Fall war, dann kochte er, jedoch meistens nur für sich und Addie, dieser Verräter. Sein Onkel, bei dem Trev praktisch aufgewachsen war, war Chefkoch und besaß mehrere Restaurants in Tulare, Sacramento und Los Angeles.

Ich fand, dass es in Anbetracht der letzten Tage nun auch schon egal war, ob ich zwei Burger und Pommes aß, oder nicht. Das schien Beverly ähnlich zu sehen, und ich sah ihr deutlich an, wie schwer es ihr fiel zu entscheiden, was sie Essen wollte. Ich hatte das Gefühl, dass Essen tatsächlich das war, das sie an ihrer neu gewonnenen Freiheit am meisten genoss. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn mir wäre es mit Sicherheit nicht anders gegangen.

Während wir auf unsere Bestellungen warteten fiel mir auf, dass sie viele kleine, fast verheilte Schnittwunden auf ihren Händen hatte. Als ich sie fragte, woher sie die hatte, winkte sie jedoch nur ab, versteckte ihre Hände unter dem Tisch, und lenkte das Thema zurück auf meine Prüfung, die ich am Montag schreiben würde. Gott bewahre, dass sie mir die Wahrheit sagen würde. Aber ihre Strategie ging auf, denn ich wusste schon jetzt genau, dass ich wahrscheinlich die nächsten Nächte durchlernen würde. Mir fehlte einfach noch zu viel Stoff.

Während der Fahrt nach Hause versuchte ich herauszufinden, was eigentlich am Flughafen passiert war, denn die Geschehnisse von vor wenigen Stunden lagen wie das ungelöste Puzzle eines blauen Himmels mit zweitausend Teilchen vor mir. Und vielleicht konnte Beverly mir zumindest einen kleinen Teil zusammensetzen. Ich hatte das Gefühl, dass sogar sie mittlerweile wusste was mit Addie los war. Chase hatte lediglich gesagt, dass sie zu Hause komplett ausgerastet war, und plötzlich auf keinen Fall wollte, dass Trev nach New York flog, doch aus Beverly wurde ich auch nicht schlauer, denn sie erzählte Ähnliches. Aber die Angst die ich in jenem Moment in Addie's Augen gesehen hatte, als sie am Flughafenparkplatz auf mich zugelaufen kam, hatte ich noch nie gesehen. Sie schien der festen Überzeugung gewesen zu sein, dass Trev tatsächlich gestorben wäre, wäre er in dieses Flugzeug gestiegen. Ich bekam mehr und mehr die Angst, dass Addie von unserer Großmutter vielleicht nicht nur die grünen Augen, sondern auch die Schizophrenie geerbt hatte.

Draußen begann es wieder zu schneien. Langsam hatte ich das Gefühl, der Frühling würde uns nie erreichen. Als ich kleiner gewesen war, war Schnee in Kalifornien, besonders in Tulare, eine Seltenheit gewesen, sodass keine Gelegenheit ungenützt geblieben war. In den Bergregionen schneite es häufig im Winter, aber in den südlichen Gebieten, wozu ich bis vor ein paar Jahren auch Fresno dazu gezählt hatte, schneite es gewöhnlich eher selten, und regnete dafür mehr. Wir hatten selten so viel Schnee, wie dieses Jahr.

Beverly und ich kamen gegen Mitternacht wieder zu Hause an, und in der ganzen Wohnung war es still und dunkel. Wir gingen in mein Zimmer, wo ich mich an meinen Schreibtisch setzte um zu lernen, während sie sich sofort müde auf mein Bett legte. Sie war im Auto schon halb eingeschlafen, und es dauerte auch jetzt keine zehn Minuten bis ihr die Augen zufielen. Es war schon fast lächerlich, dass eine schlafende Beverly noch viel ablenkender war, als eine wache. Vor ein paar Wochen hatte ich mich über jedes Wort gefreut, das sie mit mir gewechselt hatte, und jetzt lag sie in meinem Bett und schlief. Bestimmt war es sehr klischeehaft und wohl auch unheimlich von mir, ihr beim Schlafen zuzusehen, aber sie hatte etwas Beruhigendes an sich. Ich konnte mich an ihr einfach nicht sattsehen, obwohl sie eigentlich nichts Außergewöhnliches an sich hatte.

Irgendwann schaffte ich es dann doch meinen Blick von ihr zu lösen, grub meinen Laptop unter den vielen Zetteln aus, und klappte ihn auf. Nachdem er hochgefahren war, öffnete ich Google und gab Schizophrenie Symptome ein. Ich wusste zwar, dass es nie gut war Krankheiten jeglicher Art im Internet zu suchen, weil man dabei immer zu dem Schluss kommt bald sterben zu müssen, aber es ließ mir einfach keine Ruhe. Dass Schizophrenie vererbbar war, wusste ich. Und die Angst, Addie könne es geerbt haben, war definitiv da, und ignorieren konnte ich sie nicht. Ich überflog mehrere Seiten und kam auf Symptome wie Schlafstörungen, Wahnvorstellungen, Halluzinationen, sozialer Rückzug, Stimmungsschwankungen, Nervosität. Betroffene zogen sich laut den Webseiten von Freunden und Familie zurück, und waren empfindsamer und verletzlicher. Das traf alles ohne Ausnahme auf meine Schwester zu.

Als mir bewusste wurde, dass ich gerade eine Diagnose über die Psyche meiner Schwester über das Internet zu erstellen versuchte, klappte ich meinen Laptop sofort zu, und legte meine Arme darauf. Aber es würde alles Sinn ergeben. Sogar die Verletzung auf ihrer Schulter. Vielleicht hatte sie sich die seltsame Gestalt nur eingebildet, versucht sich zu wehren und sich die Wunde dabei selbst zugefügt.

Sehr wahrscheinlich hat sie sich eine bissähnliche Wunde selbst zugefügt, ohne sich daran zu erinnern. Ganz bestimmt, Aidan. Ich wusste wie lächerlich meine Gedanken waren. Aber ich brauchte einfach eine rationale Erklärung für alles, was in letzter Zeit los war. Natürlich hoffte ich nicht im Geringsten, dass ich mit meiner waghalsigen Theorie richtig lag, aber Addie verhielt sich seltsam, das ließ sich nicht abstreiten. Mein einziger Hoffnungsfunke war, dass sich auch durch Schlafmangel schizophrene Symptome entwickeln konnten, die aber nichts mit echter Schizophrenie zu tun hatten. Trotzdem wäre immer noch die Frage offen geblieben, warum sie nicht schlafen konnte. Oder viel eher wollte.

Kopfschüttelnd schob ich meinen Laptop, so gut das bei dem herrschenden Schlachtfeld auf meinem Schreibtisch eben ging, weg, schlug meine Neurowissenschaftsbücher auf, und begab mich in meine persönliche Lernsphäre, in der nur Platz für mich, den Lernstoff und den Druck fertig werden zu müssen war.

Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es nach drei. Während des Lernens hatte ich mich dutzende Male gefragt, was mein Vergangenes-Ich meinem Gegenwärtigen-Ich mit diesen unzusammenhängenden, stichwortartigen Notizen hatte sagen wollen. Vor ein paar Wochen noch, hatten meine Mitschriften Sinn ergeben. Mein Blick huschte zu Beverly. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie sich umgedreht hatte, sodass sie nun mit dem Rücken zu mir lag. Bei dem Geräusch ihres gleichmäßigen Atems, hätte ich glatt selbst einschlafen können, aber ich war noch lange nicht fertig, also schwang ich mich aus meinem Sessel und streckte mich ein wenig, wobei meine Knochen unangenehm, aber gleichzeitig wohltuend knackten. So leise wie möglich verließ ich mein Zimmer und ging in die Küche. Ich schaltete das kleine Licht über der Küchenzeile ein, und machte mich daran mir einen Tasse Kaffee zu kochen, oder besser, zwei Liter. Als ich darauf wartete, dass meine Ladung Wachmacher fertig wurde, ging plötzlich unsere Haustüre auf, und mein Herz blieb für einen Moment stehen. Addie kam herein, und bemerkte mich, in Schockstarre dastehend erst, als sie die Türe wieder hinter sich geschlossen hatte.

„Alles okay?", fragte sie, und ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten.

„Wo zum Teufel warst du?" Ich warf einen Blick auf die Uhr. Ich hatte angenommen, dass alle hier gewesen wären, als Beverly und ich nach Hause gekommen waren. Addie zog sich ihren Mantel und die Schuhe aus, und sah mich dabei grübelnd an.

„Inwiefern hilft dir eine Antwort auf diese Frage weiter?"

„Kannst du diese Spielchen mal lassen?", fragte ich genervt.

„Das ist ja schon wieder eine Frage." Sie schüttelte den Kopf und kam auf mich zu. Ein amüsiertes Lächeln tanzte um ihre Lippen. „Bist du jetzt Aufdecker-Journalist?" Sie ließ mich einen Moment in meiner Suche nach einer schlagfertigen Antwort schmoren, und holte zwei Tassen aus dem obersten Schrank.

„Du bist so nervig", sagte ich schließlich, weil mir absolut nichts Besseres einfallen wollte, außer der schlichten Wahrheit.

„Beschwer dich bei Mom", entgegnete Addie, während sie Kaffee in beide Tassen goss. „Sie hat mich so erzogen." Dann drückte sie mir eine Tasse in die Hand, verstrubbelte meine Haare, und ging an mir vorbei in ihr Zimmer, als wäre heute nichts Seltsames passiert, und als würde sie mir keine Antworten schulden. Aber ich hätte nur einen Blick auf ihre Klamottenwahl werfen müssen, um zu wissen, wo sie gewesen war. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Addie trotz allem noch ins Myway gehen würde. Ich wollte mir gar nicht ausmalen wie sehr Trev hochgegangen sein musste, als Addie zu ihrer Schicht gegangen war. Schließlich war er extra wegen ihr nicht nach New York geflogen.

Seufzend begab ich mich wieder auf mein Zimmer zu meinem Lernstoff und versuchte mir selbst einzureden, dass ich mich absolut nicht am liebsten neben Beverly gelegt hätte.

~~ ~~

Die angespannte Stimmung war beinahe zum Greifen gewesen, als ich gegen sieben ins Wohnzimmer schlurfte. Beverly schlief noch, denn ich hatte sie nicht wecken wollen. Jede Sekunde in der sie sich auf meinem Laken wälzte, und ihren Duft darauf verbreitete war eine gute Sekunde. Aber dafür waren die anderen schon wach.

Ich goss mir einen Kaffee ein und setzte mich an den Tisch, gegenüber von Trev, neben Chase. Addie saß auf der Couch und zappte durch die Kanäle. Sie sah wieder wesentlich unruhiger aus, als gestern Nacht... oder heute Morgen? Sie biss auf ihrer Unterlippe herum, und zupfte von dem Ärmel ihres Pullovers imaginäre Fusseln herunter.

„Wo ist Beverly?", fragte Chase, und sah sich misstrauisch im Wohnzimmer um. Unwillkürlich fragte ich mich, warum ihn das plötzlich zu interessieren schien.

„Sie schläft noch."

Jetzt sah auch Trev, der vor seinem aufgeklappten Laptop saß, verwundert auf, während Chase mir einen ungläubigen Blick zuwarf. „In deinem Bett?", fragten beide gleichzeitig. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, sie ist über Nacht unsichtbar geworden. Sie liegt neben Addie auf der Couch", gab ich leicht verärgert zurück.

„Das ging schnell", bemerkte Chase, zuckte aber dann mit den Schultern. Irgendwie lag etwas Feindseliges in seinem Blick. „Aber du wirst schon wissen was du tust." Dachten die beiden ernsthaft, dass Beverly und ich gestern miteinander geschlafen hätten?

„Wann fliegst du nach New York?", fragte ich Trev, um das Thema zu wechseln. Ich wusste nicht, ob er Addie erzählt hatte, warum er unbedingt nach New York fliegen wollte. Er hatte mir gestern auch nicht viel mehr erzählt, als dass es seinem Großvater nicht gut ging, und er vermutlich bald sterben würde. Ich wusste, dass Trev kaum Kontakt zu seinen Großeltern hatte, aber zu den Eltern seiner Mutter hatte er als Kind eine starke Beziehung gehabt, bevor er von New York nach Kalifornien ziehen musste. Ich konnte nachvollziehen, warum er seinen Großvater noch einmal sehen wollte. Trev's Familiengeschichte und Kindheit waren in etwa so wie der Welthunger. Jeder wusste Bescheid, aber keiner sprach darüber.

Er selbst sprach immerhin fast nie über seine Familie, weshalb es mich nicht wunderte, dass wahrscheinlich keiner von uns, einschließlich Addie, gewusst hatte wie schlecht es um seinen Großvater stand. Auch Chase und mir hatte er genau einmal erzählt was in seiner Kindheit passiert war, und auch nur damit wir nicht mehr fragten. Wie oft er mit Addie darüber sprach, wusste ich nicht. Als Trev damals an unsere Schule gekommen, und mit mir in eine Klasse gesteckt worden war, war ich vielleicht neun, oder zehn gewesen. Chase hatte zu der Zeit bereits in Colorado gewohnt. Alles an das ich mich noch erinnern konnte war, dass Trev kaum ein Wort gesagt hatte, und immer alleine gesessen war. Als Tony und ich bei mir zu Hause einmal darüber gesprochen hatten wie verrückt und gestört der Neue doch war, war Addie daneben gesessen und hatte gemeint, ich solle nicht so gemein sein, sondern mich mit ihm anfreunden, weil ich es auch nicht toll finden würde, neu an einer Schule zu sein, und niemanden zu kennen. Grausam wie Kinder nun einmal sein konnten, hatte ich nicht sofort auf meine Schwester gehört, sondern weiter über den Neuen gelästert und geredet, so wie alle anderen auch. Keiner hatte etwas von ihm gewusst, und das hatte natürlich wieder eine Menge Spielraum für Gerüchte geschafft. Ich hatte mir eingeredet, er würde früher oder später schon Freunde finden, aber nachdem sich auch nach einem Monat nichts getan hatte, und er kaum mit jemandem gesprochen hatte, hatten das Mitleid und das schlechte Gewissen in mir die Oberhand gewonnen, und ich hatte mich neben ihn gesetzt. Nicht, dass er besonders viel mit mir gesprochen hatte. Ich war bald zu dem Schluss gekommen, dass er lieber alleine gelassen werden wollte, aber irgendetwas hatte meine Neugierde geweckt, sodass ich immer wieder versucht hatte ein Gespräch aufzubauen, über Autos, Pokémonkarten, oder Harry Potter. Irgendwann hatte er es aufgegeben mich abschütteln zu wollen, und war auf meine Gespräche eingegangen. Es hatte einige Monate gedauert, bis wir auch außerhalb der Schule etwas miteinander unternommen hatten, aber langsam waren wir Freunde geworden, und je mehr ich mit ihm unternommen hatte, desto mehr hatte auch er angefangen mit anderen aus unserer Klasse zu sprechen, und mehr aus sich herauszukommen. Trev und Addie hatten sich von Anfang an gut verstanden, trotz Altersunterschied.

„Darf ich vorstellen?", hatte ich damals entnervt geseufzt, als Addie solange gegen meine Zimmertüre gehämmert hatte, bis ich ihr Trev offiziell vorgestellt hatte. „Meine kleine, unfassbar nervige Schwester, Addie." Sie hatte die Arme verschränkt und mich böse angeschaut.

„Du hast wohl schon lange dein eigenes Geschwafel nicht mehr gehört", hatte sie zurückgeschossen, und sich dann an Trev gewandt. „Wenn du schon denkst, dass ich nervig bin, dann stell dir mal vor, du müsstest mit meinem Bruder unter einem Dach leben. Da gibst du nach vierundzwanzig Stunden freiwillig den Löffel ab."

Daraufhin war ich es gewesen, der ihr einen bösen Blick zugeworfen hatte. „Ich habe vergessen zu erwähnen, dass Addie eine verdammt große Klappe hat, und auf alles was du sagst eine neunmal kluge Antwort parat hat." Das waren so ziemlich die ersten Worte gewesen, die Trev, von der damals achtjährigen Addie, zu hören bekommen hatte. Sie war schon damals eine freche, kleine Besserwisserin gewesen, und es wunderte mich bis heute, dass Trev sie nicht sofort als mega nervig empfunden hatte, gerade weil er selbst so ruhig gewesen war. Chase hatte, als er aus Colorado wieder nach Kalifornien gezogen war, Trev anfangs nicht besonders gemocht, vielleicht weil er gedacht hatte, er hätte seinen Platz eingenommen. Trotzdem waren wir beste Freunde geworden. Für mich fühlte es sich an wie gestern, dass all diese Dinge passiert waren, obwohl sie nun schon über zehn Jahre zurücklagen.

Im Alter von fünfzehn hatte Trev uns mehr über sich und seine Vergangenheit erzählt. Addie hatte damals noch nichts davon gewusst, und ich hatte keine Ahnung seit wann sie es tat, aber ich nahm an, dass er ihr spätestens als sie zusammen gekommen waren davon erzählt hatte.

„Der nächste Flug geht in ein paar Stunden", antwortete Trev. „Und diesmal fliege ich!", fügte er extra laut und deutlich hinzu. Addie warf ihm nur einen genervten Seitenblick zu, den Trev ohnehin nicht bemerkte, da er ihr den Rücken zugedreht hatte. Nach wenigen Minuten des Schweigens kam Beverly ins Wohnzimmer. Ihr erster Blick galt Addie. Sie ging auf sie zu und setzte sich neben sie.

„Geht es dir gut?", fragte sie vorsichtig.

„Das sage ich dir, wenn ich sicher weiß, dass das Flugzeug nicht abgestürzt ist", murmelte Addie, und ging die Kanäle wieder von vorne durch.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein", stöhnte Trev ungläubig, und drehte sich um. „Hör auf damit, Addie, das ist nicht lustig!"

„Da stimme ich dir voll und ganz zu", entgegnete Addie spitz, während sie unaufhörlich auf den Knopf der Fernbedienung drückte. Trev drehte sich wieder zu mir.

„Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber deine Schwester hat nicht mehr alle Birnen im Kronleuchter."

„Rede nicht so über meinen Kopf hinweg, du Arschloch!", rief Addie und sprang auf. Im selben Moment stand auch Trev so plötzlich auf, dass der Stuhl beinahe umgekippt wäre.

„Was soll ich denn zu dir sagen, Addie?!", fragte er geladen. „Was willst du hören? Dass du verrückt bist? Dass du mir Angst machst? Ja, verdammt! Also hör auf damit!"

„Leute!", unterbrach Beverly den Machtkampf der beiden, und heftete ihren Blick auf den Bildschirm des Fernsehers. Addie drehte sich um, und schaltete die Lautstärke höher. In diesem Moment wurde eine verwackelte, unscharfe Aufnahme eines Flugzeuges gezeigt, das besorgniserregend nahe über dem Boden den Sinkflug startete. Addie ließ sich langsam wieder auf die Couch sinken, rutschte auf die äußerste Kante, und stützte ihre Ellenbogen auf den Knien ab, während sie entgeistert auf den Bildschirm starrte. Sie schien wie paralysiert. Chase stand auf, trat hinter sie und stützte sich mit den Händen an der Couchlehne ab.

„Das ist doch ein Scherz", sagte Trev mit zusammengezogenen Augenbrauen, und näherte sich ebenfalls dem Fernseher. Da mir nun irgendwie alle die Sicht versperrten, stand auch ich auf, und ging zu ihnen. Es wurde ins Nachrichtenstudio geschaltet.

„Kurz vor Pittsburgh, Pennsylvania ist ein Flugzeug des Typs B777 abgestürzt. Die Maschine sei auf dem Weg von Fresno nach New York gewesen. Der Absturz ereignete sich offenbar in der Nähe von Pittsburgh."

„Das...", begann Trev, und sah ungläubig zwischen Addie und dem Fernseher hin und her. „Das ist doch gar nicht möglich."

„468", murmelte Addie, eher zu sich selbst, als zu uns, und ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Ich fragte mich was diese Zahl zu bedeuten hatte, und ich war sichtlich nicht der Einzige.

„Einem Medienbericht zufolge, befanden sich mehr als 460 Menschen an Bord. Über die Unfallursache kann im Moment noch gar nichts gesagt werden." Es wurde zu einer Reporterin in Pittsburgh geschaltet, die Informationen darüber gab, wann das Flugzeug hätte landen sollen. Als der Nachrichtensprecher aus dem Studio fragte, ob die Opferzahl bekannt war, begann Addie zu weinen.

„243", schluchzte sie, zog die Beine an, schlang ihre Arme darum und legte die Stirn auf die Knie. Beverly rückte näher zu ihr, und legte ihr einen Arm um die Schultern.

„Bei den Zahlen der Opfer haben wir noch große Ungenauigkeiten", berichtete die Frau. „Erst hieß es 237, eine andere Agentur schrieb von 241. Im Moment ist alles noch sehr vage, aber wir müssen mit bis zu 240 Toten rechnen."

„Das kann nicht sein", sagte Trev leugnend, und schüttelte den Kopf. „Niemals."

Ich fixierte immer noch wie eingefroren den Fernseher, obwohl schon längst ein anderer Beitrag lief. Addie hatte in ihrem Leben schon unzählige seltsame Prognosen abgeliefert, aber diesmal hatte sie wirklich den Vogel abgeschossen. Woher zur Hölle hatte sie gewusst, dass dieses gottverdammte Flugzeug abstürzen würde? Und noch viel wichtiger: Wäre Trev wirklich gestorben, wenn Addie ihn nicht aufgehalten hätte?

„Warum wusstest du, dass dieses Flugzeug abstürzen würde?", fragte Trev aufgebracht, und deutete auf den Bildschirm. Ich wusste, dass er nur deshalb so wütend reagierte, weil ihm Addie's seltsame Prophezeiung eine Heiden Angst einjagte, so wie mir auch. Trotzdem hätte er ein bisschen einfühlsamer vorgehen sollen. „Addie!"

„Ich weiß es nicht!", schrie sie, und sprang von der Couch auf. Innerhalb weniger Schritte stand sie vor ihm. „Ich weiß nicht, warum ich wusste, dass dieses Flugzeug abstürzen wird! Ich weiß nicht, was gestern Abend passiert ist! Ich weiß auch nicht, was zum Teufel mit mir nicht stimmt, dass ich Dinge weiß und Dinge sehe, bevor sie überhaupt passiert sind!" Trev schien durch Addie's plötzlichen Wutausbruch verunsichert, und sagte nichts mehr darauf.

„Scheiße, was war das?" Addie drehte sich schwungvoll um, und sah aufgebracht zwischen Beverly und Chase hin und her. Ihr Gesicht war ganz nass von den Tränen. Sie ging ein paar Schritte zurück und richtete ihren Blick auf Beverly. „Woher wusstest du das?" Beverly tauschte einen flüchtigen Blick mit Chase.

„Ich glaube die Frage ist, woher du das wusstest?", antwortete Beverly. Für diese ganze Situation schien sie mir viel zu ruhig und gelassen. Genauso wie Chase. Was zum Teufel ging hier gerade vor?

„Lass die Scheiße!", fauchte Addie. „Du weißt wovon ich rede! Und du auch!" Jetzt sah sie Chase an. Mir wurde das alles zu viel, und am liebsten hätte ich einfach auf stopp gedrückt, wäre für ein paar Tage auf die Karibischen Inseln geflogen, wieder zurückgekommen, und mir diese ganze Szene erst dann gegeben.

Abermals sahen Chase und Beverly einander an, aber diesmal länger. Wenn ich hätte raten müssen, dann hätte ich gesagt, dass die beiden im Stillen abwogen, ob sie die Wahrheit sagen sollten, oder nicht, denn sie wussten mit Sicherheit etwas. Ich begriff nur nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, und vor allem wie Beverly da hinein passte. Sie war erst seit kurzem hier, schien aber besser informiert zu sein, als ich.

„Du willst die Wahrheit wissen?", fragte Beverly an Addie gewandt, sah dabei aber immer noch Chase in die Augen. Er schüttelte kaum merklich den Kopf, und sein Kiefer spannte sich an. Dann drehte Beverly sich zu Addie. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ihr Blick zu mir. Ich wusste nur nicht, was er zu bedeuten hatte. War es Reue gewesen? Addie sah Beverly abwartend an.

„Du wirst von einem Dämon verfolgt." Es war der Moment, in dem mir klar wurde, dass dieses Mädchen nicht einmal halb so normal war, wie ich die ganze Zeit gehofft hatte.

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