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Beverly

„Mach doch was du willst!", schnauzte Addie gereizt. Ich hörte wie sie in ihrem Zimmer auf und ab ging. Die Wände waren nicht besonders dünn, aber ich hatte bereits herausgefunden, dass Addie alles mit doppelter Lautstärke tat, wenn sie sauer war. Türen schließen, reden, gehen, seufzen, mit den Fingern auf die Tischplatte trommeln. Dafür bemerkte ich sonst gar nicht, dass sie überhaupt da war. Sie kannte offenbar nur diese zwei Extreme.

„Ja, dann flieg doch rüber, ich halte dich nicht auf, verdammt!" Es war wieder einen Moment lang still. „Nein, ich bin nicht sauer, aber sag mir das nächste Mal früher Bescheid, wenn du weg musst." Ich nahm stark an, dass sie telefonierte, denn außer mir, ihr und Chase, der sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, war niemand zu Hause. Aidan war vor ein paar Stunden an die Uni gefahren und Trev war Gott weiß wo.

Die Türe zu ihrem Zimmer wurde geöffnet und Addie ging ins Wohnzimmer. Ich konnte hören, wie sie die Türe des Gefrierschrankes aufzog und etwas herausholte.

Der Gefrierschrank, der unter dem Kühlschrank stand, auf dem wiederum das Foto mit Anthony hing. Alleine bei dem Gedanken daran, dass er auf die gleiche Schule wie Aidan gegangen war, krampfte sich irgendetwas in mir zusammen. Ich wusste nicht einmal genau warum, aber sobald von ihm die Rede gewesen war, war mir übel geworden. Dabei hätte es dafür keinen Grund geben sollen. Er gehörte definitiv nicht zu den Personen, die mir jemals etwas angetan hätten. Im Gegenteil. Er war der erste Mensch gewesen, für den ich nach meiner Rückkehr nach Hause sichtbar gewesen war. Der erste, den es tatsächlich interessiert hatte, wie ich mich gefühlt hatte. Die meisten Menschen in meinem Umfeld hatten mich immer nur gefragt: „Wie geht es dir, jetzt da du wieder zurück bist?" Ich hatte lediglich mit einem Wort antworten müssen. Gut. Dann war das Thema gewechselt worden. Anthony hatte sich damit nie zufrieden gegeben. Damit hatte er mich immer ziemlich aus der Bahn geworfen, weil ich auf seine Fragen nie vorbereitet gewesen war.

Er hatte jedoch nie sehr viel von sich gesprochen. Er hatte immer lieber zugehört, daher ging ich auch nicht davon aus, dass er anderen viel über mich erzählt hätte.

„Ich mach keinen auf Drama-Queen!", fauchte Addie eingeschnappt. Aus der Küche drang das Geräusch von klapperndem Geschirr. Bis vor wenigen Stunden hätte ich Addie keiner mir bekannten Person zuordnen können, obwohl ich mich sehr gut an die Party der Nelsons von vor drei Jahren erinnerte und an das, was passiert war. Möglicherweise, weil Addie sich ziemlich verändert hatte. Ihre Haare waren länger, ihre Haut blasser. Ihre Kleidung damals hätte ich schlicht und ergreifend als schlampig bezeichnet, genauso wie ihr Auftreten. Es wunderte mich ehrlich nicht, dass sie zu den beliebten Mädchen an ihrer Schule gehört hatte. Ihr ganzes Auftreten war eingebildet gewesen und vollkommen aufgesetzt. Im Gegensatz dazu, schien sie jetzt wie ein völlig anderer Mensch. Vielleicht konnte ich mich aber auch nur nicht an Addie erinnern, weil ich an dem Abend eine kleine Panikattacke bekommen hatte. Evans Worte an Addie hatten mich einfach zu sehr an die Worte des Mannes erinnert, der mein Leben zerstört hatte. Ich sah die schockierte, verängstigte Addie mindestens so deutlich vor mir, wie die Pistole von Evans Vater, mit der er Addie vor allen Partygästen bedroht hatte. Mir war schon immer bewusst gewesen, dass Evan Nelson ein gestörter Mensch war, aber dieser Moment hatte sogar mich schockiert. Es wunderte mich, dass Addie kein Trauma erlitten hatte. Oder vielleicht hatte sie es und hatte sich deshalb von Grund auf geändert. Um das zu wissen, kannte ich sie nicht gut genug.

Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Selten hatte ich das Gefühl eine Panikattacke zu bekommen, meist nur, wenn ich an eine Zeit von früher erinnert wurde, aber die Methode meiner Therapeutin half selbst nach fünf Jahren noch. Mit jedem Finger der Reihe nach den Daumen berühren, zehn Mal wiederholen, immer beim kleinen Finger beginnen. Vier war meine Glückzahl. Um vier Uhr, hatte er immer das Haus verlassen. Um vier Uhr, war ich immer sicher gewesen. Ich konzentrierte mich einzig und allein aufs Zählen und darauf die vier zu erreichen. Zehn Mal. Das hatte ich schon so oft getan, dass ich automatisch wusste, wann ich den Vorgang zehn Mal wiederholt hatte. Ich atmete ruhig aus und drängte die Erinnerungen zurück. Das musste ich mir nun wirklich nicht antun. „Weißt du was, ich hab keine Lust mehr zu diskutieren, ruf einfach an, wenn du dort bist." Addie's Stimme holte mich aus meinen düsteren Gedanken heraus. Sie klang mit jeder Sekunde gereizter, aber auch erschöpfter. Ich griff nach dem Kugelschreiber, der auf Aidan's Schreibtisch lag und bewegte ihn unruhig zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger hin und her. Seine Unterlagen für die Uni türmten sich wie immer auf dem Tisch und auf dem Boden darunter und daneben. Ich musste nur einen flüchtigen Blick auf ein paar der Zettel werfen um zu wissen, dass mir selbst mein hoher IQ nicht dabei helfen würde, diese Formeln zu verstehen. Ich war ohnehin immer noch der festen Überzeugung, dass ich bei dem IQ- Test damals nur deshalb so gut abgeschnitten hatte, weil ich die Gedanken eines Jungen in dem Raum neben mir hatte hören können, der wirklich überdurchschnittlich intelligent gewesen war. Damals hatte ich meine Gabe noch nicht kontrollieren können und angenommen, es wären einfach Stimmen in meinem Kopf gewesen, die mir potenzielle Antworten zuflüsterten.

Ich ließ den Stift auf einem seiner aufgeschlagenen Bücher fallen und stand unschlüssig von Aidan's Schreibtischsessel auf, um ins Wohnzimmer zu gehen.

„Ja, bis Sonntag." Addie legte ihr Handy geräuschvoll auf dem Küchentisch ab und verzog sich auf die Couch, während ich in der Türe zu Aidan's Zimmer stehen blieb. In ihren Händen hielt sie eine Schüssel mit Eiscreme, auf die sie missmutig mit dem Löffel einstach. Es war bereits dunkel draußen und das Wohnzimmer war, wie es abends offenbar üblich war, in dämmriges Licht getaucht. Addie sah auch nicht so aus, als wollte sie heute noch irgendwo hingehen.

„Wer war das?", fragte ich schließlich, ging zu ihr und ließ mich langsam neben ihr nieder. Sie sah nicht auf, sondern löffelte lediglich das Eis. Ich hätte nie gedacht, dass Eis ramponiert aussehen konnte. Dieses tat es.

„Trev." Ich hatte das Gefühl, dass sie jetzt jemanden zum Reden brauchte, um Dampf abzulassen, also sah ich sie abwartend an, bis sie seufzte, aufhörte das Eis zu traktieren und sich dann doch zu mir drehte. „Er hat gerade gemeint, dass er heute Abend noch nach New York fliegen muss." Jetzt war ich verwirrt. New York lag so ziemlich genau am anderen Ende des Kontinents. Ich kannte niemanden, der spontan so weit weg fliegen würde. Außer meiner Eltern vielleicht, aber auch nur geschäftlich. Ein neuer Geschäftspartner war ihnen stets wichtiger gewesen, als ein sieben Stunden Flug.

„Wieso das denn?"

Addie zuckte mit den Schultern und stach wieder auf das Eis ein, als ob es die Schuld an allem tragen würde. „Keine Ahnung, er hat gemeint er muss jetzt zum Flughafen, seinen spontan gebuchten Flug erwischen und erklärt mir den Rest morgen." Das Geschirr klirrte, als sie den Löffel wütend in die Schüssel fallen ließ und diese dann so fest auf dem Couchtisch abstellte, dass ich überrascht war, keine Scherben im Gesicht kleben zu haben.

Verstohlen blickte ich mich im Wohnzimmer um. Addie bemerkte meinen Blick. „Mein Bruder fährt ihn übrigens zum Flughafen, falls du dich wunderst, wo er ist." Ich fühlte mich ein bisschen ertappt, versuchte aber mir nichts anmerken zu lassen. Also beschloss ich das Thema wieder auf Addie und Trev zu lenken.

„Ihr seid nicht gerade das Pärchen des Jahres, oder?", fragte ich vorsichtig.

„Normalerweise schon", widersprach sie. „Nur in letzter Zeit nicht."

„Er wirkt oft angespannt."

„Das ist es ja. Normalerweise ist er so nett, dass ich mir schon fast wünschte, er würde ausrasten und einfach einmal einen Streit provozieren. Mir einfach ins Gesicht sagen, dass ich zickig bin. Aber momentan vermisse ich diesen unfassbar süßen, netten, respektvollen, liebenden Jungen in den ich mich verliebt habe, aber den vergisst er offenbar regelmäßig, wenn er nach Stanford fährt, um Studentenwohnungen zu besichtigen." Es war für mich schwer vorstellbar, dass Trev irgendeine der von ihr aufgezählten Eigenschaften besitzen sollte. Mir kam er einfach gereizt, schlecht gelaunt und kommandierend vor. Klar, ich hatte nicht viel mit ihm zu tun, aber war der erste Eindruck nicht meist der Richtige?

„Ich weiß, was du denkst", sagte Addie dann und zog die Beine an. Normalerweise war ich diejenige, die das sagte. „Trish sagt mir genau das Gleiche. Dass er versucht mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe." Sie schüttelte den Kopf. „Aber das macht er gar nicht. Das ist einfach seine Art mich zu beschützen und Ich liebe dich zu sagen." Das konnte ich nicht beurteilen. Keiner hatte das Recht sich in deren Beziehung einzumischen. Niemand wusste wie es war, wenn die beiden unter sich waren. Vielleicht war Trev dann tatsächlich anders.

„Beziehungen sind doch ohnehin unnötig", sagte ich dann, wofür ich einen verwunderten Blick von Addie erntete, also beschloss ich meinen Standpunkt zu erläutern. „Liebe braucht doch alleine schon Jahre um sich zu entwickeln. Erst muss man sich verlieben, was sicher nicht von heute auf morgen geschieht, wenn man die Person nicht kennt. Man muss Vertrauen aufbauen und über die andere Person Bescheid wissen. Und eine Beziehung aufzubauen ist noch viel schlimmer", fuhr ich fort. „Da muss man nämlich immer etwas für den anderen opfern. Im Grunde gibt man seine völlige Freiheit auf. Die Liebe wächst, die Beziehung muss aufrecht erhalten werden und wenn irgendwann der Punkt kommt, an dem alles schief läuft, muss man sich fragen, ob man weiter kämpfen oder aufgeben will. Liebe ist ein ständiger, anstrengender, beschissener, Nerv aufreibender, ermüdender Kampf und bevor ich mir sowas antun würde, müsste ich mir schon zu hundert Prozent sicher sein, meinen Seelenverwandten gefunden zu haben."

Addie sah mich einen Moment lang nachdenklich an. Dann bewegte sie ihren Kopf leicht hin und her. „Nein, das stimmt nicht." Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihr aber sofort wieder hervorrutschte. „Es ist anstrengend, ja, aber es wird leichter. Außerdem führt man diesen Kampf nicht alleine, sondern zu zweit. Das macht das Ganze schon wesentlich erträglicher. Und wenn man die richtige Person gefunden hat, dann gleichen die guten Momente die schlechten nicht nur aus, sondern überwiegen sie. Und das ist es definitiv wert." Ich konnte ihr ansehen, dass sie vollkommen überzeugt von dem war, was sie eben gesagt hatte. Meine Tante hatte einmal zu mir gesagt: „Bring dich nie in eine Situation, in der dein Schicksal von jemand anderem abhängt." Es war der Moment gewesen, in dem mir bewusst geworden war, dass das nur möglich war, wenn ich Einzelgänger bleiben würde. Aber Addie liebte Trev wirklich und ich fragte mich, was sie tun würde, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Der Gedanke daran, dass sie irgendwann im Laufe der nächsten Monate ihren Dämon zwangsläufig Trev vorziehen würde, machte mich traurig. Niemand hatte so etwas verdient, schon gar nicht so ein liebenswürdiger Mensch wie Addie.

„Warst du überhaupt schon jemals verliebt?", fragte sie dann und betrachtete mich forschend. Ich senkte den Blick. Um ehrlich zu sein, wusste ich es nicht. Ich wusste nicht einmal, wie sich so etwas anfühlen sollte. Alle sprachen immer von Schmetterlingen im Bauch und einem nie enden wollendem Glücksgefühl. Alles was die meisten Menschen bei mir auslösten, wenn sie mir zu nahe kamen, waren entweder komplette Taubheit oder hochgradige Panik. Meine Ärzte und Psychiater hatten meine gestörte Beziehung zu Nähe auf meine Entführung zurückgeführt und darauf, dass ich drei Jahre ohne Kontakt zu gleichaltrigen und isoliert von der Außenwelt verbracht hatte. Deshalb hatte ich auch an vielen Gruppentherapien teilnehmen müssen. Anfangs mit nur wenigen, recht ruhigen Leuten. Es war für mich die reinste Hölle gewesen. Ich mochte Menschenmassen noch immer nicht. Der Umgang mit meinen Mitmenschen hatte sich in den fünf Jahren zwar um einiges gebessert, aber ich wusste trotzdem, dass ein Teil von mir für immer verkorkst bleiben würde. Die Frage, ob ich ohne meinen Dämon in der Lage wäre zu lieben, stellte ich mir trotzdem viel zu häufig. Ja, ich war beziehungsgestört, aber ich hatte auch noch nie die Chance gehabt herauszufinden, wie es sich anfühlte einen Menschen an oberster Priorität stehen zu haben, keinen Dämon. Einen Menschen zu lieben, anstatt einem Dämon gegenüber loyal zu sein. Aber das würde ich wohl nie erfahren.

Also schüttelte ich den Kopf. Es war mir fast unangenehm es zuzugeben. Welche Achtzehnjährige konnte schon von sich behaupten noch nie verliebt gewesen zu sein? Aber Addie schien es ziemlich gelassen zu nehmen. In ihrem Gesicht spiegelte sich weder der Kein-Wunder Blick, noch der Armes-Ding Blick wieder, sondern sie schien eher ergründen zu wollen, warum das so war.

Eigentlich wollte ich nicht fragen, aber es war als hätte mein Mund sich selbstständig gemacht. „Hattet ihr schon Sex?"

Jetzt sah Addie überrascht, aber nicht schockiert aus. Ein wenig belustigt. „Wir kennen uns seit über zehn Jahren und sind seit zwei Jahren zusammen. Ich denke es wäre mehr als ungewöhnlich, wenn wir noch nicht miteinander geschlafen hätten."

Vielleicht war es ihre unbeschämte, offene Art darüber zu reden, die mich einfach weiter fragen lies. Ich hatte noch nie in meinem Leben mit irgendjemandem über Sex geredet. Zu der Zeit in der der Aufklärungsunterricht in der Schule stattgefunden hatte, war ich nicht in die Schule gegangen, sondern hatte den zähen Privatunterricht genossen und dieser Themenbereich war mit Sicherheit beabsichtigt ausgelassen worden.

„Hat es dir gefallen?" Ich konnte nicht verhindern, dass so etwas wie Ekel in meiner Stimme mitschwang. Fast schon Entsetzen. Nun schien Addie doch verwirrt.

„Ja", sagte sie langsam, als würde sie abwägen, welche Antwort die richtige war. Einen Moment lang konnte ich nicht wirklich reagieren. Dann schüttelte ich angewidert den Kopf.

„Wie?", fragte ich fassungslos. „Wie könnte irgendjemand so eine ekelhafte, abstoßende, widerwärtige Sache toll finden?" Diese Unterhaltung ging in eine völlig falsche Richtung, die ich nicht vorhergesehen hatte, obwohl ich sie selbst dahin gelenkt hatte.

Eins, zwei, drei, vier. Verdammt! Das dritte Mal heute. Vielleicht hatten die Medikamente doch ihren Zweck erfüllt, als ich sie regelmäßig genommen hatte. Gegen die aufkeimenden Panikattacken hatten sie ja offenbar geholfen.

Addie schien nach den richtigen Worten zu suchen. „In dem man es freiwillig tut", sagte sie leise. „Und mit der richtigen Person." In ihren Augen stand Unsicherheit, und ich wich ihrem Blick sofort aus. „Sonst hat es nichts mit Sex zu tun", fügte sie hinzu.

Genau aus dem Grund sprach ich nicht darüber. Leute redeten davon und gaben mir ihre weisen Ratschläge, so als hätten sie auch nur die leiseste Ahnung wovon sie sprachen.

„Ich sehe da keinen Unterschied", sagte ich und fixierte stur einen Punkt auf dem Boden, während ich versuchte bei dem Gespräch im Hier und Jetzt zu bleiben und nicht in Erinnerungen, die ich nicht haben wollte, zu ertrinken. Ich hatte nie ein Wort darüber verloren und diese Gedanken in einem abgeriegelten Bereich meines Kopfes gedrängt, in der Hoffnung, diese Erinnerungen auszulöschen. Wann würde ich endlich vergessen können? „Ich bin fertig damit."

Mir war durchaus bewusste, was ich gerade getan hatte. Dass ich Addie ein Geheimnis verraten hatte, ohne es auszusprechen. Aber sie war nicht dumm. Allein mein Blick hätte mich vermutlich verraten. Soviel zu den Gerüchten, dass Anthony und ich Sex gehabt hätten. Im Leben nicht. Unruhig zupfte ich an einem wegstehenden Faden meiner Jeans herum. Es machte mich plötzlich wahnsinnig, dass er da hing und ich wollte nichts lieber, als ihn abzureißen.

„Beverly..." Ich wusste genau was Addie sagen wollte. Dass ich mit ihr reden konnte. Dass, was auch immer passiert sein mochte, nichts mit Liebe zu tun hatte und ich keine Schuld trug. Aber sie sagte es nicht. Und sie brauchte es auch gar nicht. Ich hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Auf einmal verstand ich, warum Addie so wild auf das Eis eingestochen hatte.

Sie atmete angestrengt aus, griff nach der Schüssel mit dem Eis und stand auf. Während sie zur Küchenzeile ging überlegte ich, ob ich wieder ein wenige zeichnen sollte. Einfach, um zu vergessen, dass dieses Gespräch zwischen Addie und mir jemals stattgefunden hatte. Ich bezweifelte stark, dass Addie jedem von unserem Gespräch brühwarm berichten würde, aber zu wissen, dass wir es überhaupt geführt hatten, verursachte ein unangenehmes Gefühl in meinem ganzen Körper. Ich hatte es nicht ausgesprochen, aber es fühlte sich jetzt viel realer an und dieses Gefühl wollte ich einfach nur loswerden.

Ich drehte mich ruckartig um, als ich etwas zerspringen hörte. Ich sah die Scherben der Schüssel, die Addie eben noch in ihren Händen gehalten hatte und Eisreste, die eine große Fläche des Bodens bedeckten. Addie stand mit dem Rücken zu mir und stützte sich mit einer Hand auf der Küchenplatte ab, mit der anderen hielt sie sich den Kopf. Sie stieß gepresst den Atem hervor.

„Alles okay?" Blöde Frage, Beverly, wirklich blöde Frage.

„Ich weiß nicht", presste sie hervor. Ich stand auf und bewegte mich langsam auf sie zu. „Es fühlt sich an..." Sie sog scharf die Luft ein. „... wie Messer... in meinem Kopf." Sie drückte auch ihre zweite Hand auf ihren Kopf und lies einen unterdrückten Schmerzenslaut heraus. Sobald ich bemerkte, dass sie wankte, machte ich einen Satz und versuchte sie zu stützen, aber schon im nächsten Moment fiel sie zu Boden und ich konnte gerade noch verhindern, dass sie sich den Kopf aufschlug. Ihr ganzer Körper war so angespannt und zitterte, dass ich kaum wagte sie zu berühren. Sie rollte sich auf die Seite und krampfte sich zusammen, während sie mit ihrem Kopf in ihren Händen immer wieder gegen den Boden schlug. Mit einer schnellen Bewegung versuchte ich die Glasscherben aus ihrer Umgebung zu wischen, damit sie sich nicht verletzte. Ich merkte kaum, dass ich mir dabei die Hände aufschnitt, aber das würde spätestens morgen ohnehin wieder verheilt sein. Ich drehte mich wieder zu Addie, legte eine Hand auf ihre Schulter, die andere unter die Hand, die ihren Kopf vor dem ständigen Aufprall auf den Boden, schützte. Sie presste ihre Augen fest zusammen und stieß immer wieder kehlige Laute aus.

„Was zum Teufel machst du da?!" Erschrocken sah ich auf. Falls Chase mir jemals auch nur eine Sekunde lang vertraut haben sollte, dann war dieses Vertrauen in der Sekunde weg gewesen, in der er mich neben der ächzenden, auf dem Boden windenden Addie knien sah. Ich fragte mich, ob er nun das schlechte Timing besaß, oder ich. Automatisch rückte ich etwa zwei Meter von Addie weg.

„Ich schwöre, ich mache gar nichts." Nicht, dass mich das in seinen Augen hätte glaubwürdiger erscheinen lassen. Er beugte sich über Addie und fragte sie immer wieder was los war, doch sie war unfähig zu antworten. Sie lag nun auf dem Rücken, die Hände immer noch gegen ihren Kopf gepresst.

Plötzlich wusste ich, an was mich das erinnerte. Die Messer in ihrem Kopf. Genauso hatte es sich angefühlt, als ich zum ersten Mal die Gedanken anderer Leute gehört hatte. Der Körper ist an eine solch übernatürliche Kraft nicht gewöhnt und reagiert mit Kopfschmerzen, Nasenbluten, Übelkeit oder Ohnmacht. Ich hatte damals so große Kopfschmerzen gehabt, dass ich gedacht hatte, ich würde sterben. Nach etwa drei Minuten hatte ich das Bewusstsein verloren und war nach einer Weile von einem unserem Kindermädchen auf dem Badezimmerfußboden gefunden worden. Die nächsten Male in denen sich diese Gabe eingeschaltet hatte, waren auch nicht unbedingt besser gewesen, aber mit jedem Mal war es schmerzloser geworden, bis ich gar nicht mehr hatte unterscheiden können, ob nun jemand etwas gesagt hatte, oder nicht, und das, obwohl die Stimmen die ich hörte ganz und gar nicht mit dem Klang der Stimme jener Person, dessen Gedanken ich hörte, übereinstimmten.

Also entweder hatte Addie gerade eine Hirnblutung oder ihr Fluch schaltete sich ein. Ich tippte auf Letzteres. Die Frage war nur: Welche Fähigkeit wurde gerade ausgelöst? Rose hatte mir nie erzählt welche Gabe Vaya einem Menschen schenkte. Ich wusste viel über Dämonen, aber die Gaben, die sie verschenkten, waren gänzlich unbekannt.

Komm schon, Beverly, denk logisch. Ich hasste logisches Denken. Was weißt du? Vaya- Todesdämon. Addie- Alpträume.

„Alpträume", rutschte es mir heraus. Chase sah mich mit seinem altbekannten Todesblick an und Addie ließ einen weiteren Schmerzensschrei aus, während sie ihren Kopf zurückwarf. Ich wunderte mich, dass die Nachbarn nicht längst wegen häuslicher Gewalt die Polizei gerufen hatten. „Sie ist eine Vates."

„Wie bitte?" Chase sah mich nicht nur an, als wolle er mich umbringen, sondern auch als wäre ich verrückt, aber ich war an beides schon gewohnt.

„Vates, das lateinische Wort für Seher", erklärte ich drängend. „Weissager, Hellseher, Prophet, wie immer du es nennen magst. Der Todesdämon lässt sie Dinge sehen. Er lässt sie in die Zukunft sehen."

Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich von Addie fernzuhalten, aber je mehr sie sich wand, desto schlechter fühlte ich mich. Ich hatte damals niemanden gehabt, der mir gesagt hatte, was mit mir passiert war. Dass es eigentlich, abgesehen von den Schmerzen, harmlos war und ich ganz sicher nicht daran sterben würde. Sie durchlitt also nicht nur Höllenqualen, sondern hatte vermutlich auch Todesangst. Ich musste ihr irgendwie helfen. Doch sobald ich auch nur Anstalten machte, mich ihr zu nähern, änderte sich Chase Körperhaltung von Besorgt-um-Addie in Bereit-zum-Angriff.

Sofort hob ich beschwichtigend und vielleicht auch schützend, meine Arme. „Ich kann ihr helfen", meinte ich mit so viel Überzeugungskraft in meiner Stimme wie möglich.

„Wer's glaubt", knurrte Chase nur.

„Sie blockiert die Vision, weil sie keine Ahnung hat, was gerade passiert. Wenn ich ihr nicht helfe, kann das noch Stunden so weiter gehen." Ich versuchte so eindringlich wie möglich zu klingen, um Chase zu überzeugen, obwohl er es durchaus verdient hätte, Addie Stunden leiden zu sehen. Nur hatte Addie so etwas ganz und gar nicht verdient. Zwiegespalten sah Chase zwischen mir und Addie hin und her.

„Wehe, ich muss das bereuen", drohte er mit zusammengebissenen Zähnen. Schnell rutschte ich zu Addie hin und diesmal zwang ich sie, mich anzusehen. Ich beugte mich über sie und versuchte ihren Blick aufzufangen, indem ich ihr eine Hand auf die Stirn legte, um sie daran zu hindern ihren Kopf wie einen Ping-Pong-Ball hin und her zu schleudern. Es wäre wahrscheinlich günstig gewesen, Addie zu beruhigen, bevor ich auf sie einredete, aber sie hatte viel zu viel Panik.

„Addie, hör mir zu. Dir passiert nichts, das verspreche ich. Es ist alles gut." Bei dem letzten Satz stieß Chase einen ungläubigen Lacher aus.

„Das nennst du Alles gut?" Darauf ging ich gar nicht erst ein.

„Mein Kopf brennt so", presste sie unter zusammengebissenen Zähnen und schmerzverzerrtem Gesicht hervor.

„Egal was du siehst, egal wie sehr es wehtut, hör auf dagegen anzukämpfen."

„Nein!", weinte sie und drückte ihre Hände noch fester gegen ihren Kopf.

„Doch", entgegnete ich energisch. „Es wird aufhören, ich verspreche es. Aber du musst es zulassen." Ihr zu erklären, dass sie eine Vision aus der Zukunft zulassen sollte, wäre wohl eher kontraproduktiv gewesen, also beschloss ich das auf später zu verschieben. Außerdem war es verdammt noch mal Trish's und Chase' Aufgabe, Addie über Dämonen aufzuklären, nicht meine. Ich hatte meinen Teil doch weitestgehend erfüllt, oder?

Aus Addie's Augen sprachen eine solche Angst und ein so großer Schmerz, dass ich mir tatsächlich wünschte mit ihr zu tauschen. Das hätte ich für niemanden sonst getan, aber sie war einfach zu unschuldig und zart, als dass sie das noch länger hätte aushalten können.

„Ich verspreche, es geht vorbei." Ich sah sie so überzeugend wie nur möglich an. „Lass es zu, es geht vorbei. Hör auf dagegen anzukämpfen." Was ich gerade von ihr verlangte, war mir klar. Als müsste sie ihren gehäuteten Körper in Salz wälzen. Für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt stark genug war, einen unmenschlichen Schmerz, absichtlich noch größer werden zu lassen. Aber dann schloss sie die Augen und ich merkte sofort, dass ihre Schmerzen mit einem Schlag größer wurden. Ich hatte nicht gewusst, dass ein Mensch solche Geräusche von sich geben konnte. Ihre Schreie fuhren mir bis ins Knochenmark. Ich wusste nicht, ob es bei mir auch ganz so schlimm gewesen war, aber ich hatte vor dem ersten Einsetzen meines Fluches schon mit meinen verschärften Sinnen herum experimentiert gehabt. Mein Körper war dem Übernatürlichen also nicht gänzlich abgeneigt gewesen. Es war nichts komplett Neues gewesen. Aber für Addie war es augenscheinlich das aller erste Mal, dass ihr Körper einen Kanal für das Übernatürliche in unsere Welt bildete.

Und für mich war es das erste Mal, dass ich so etwas wie Mitleid für Chase empfand. Ich hatte ihn noch nie leiden sehen. Noch nie etwas außer Hass und Zorn in seinen Augen gesehen. Noch nie. Aber jetzt tat ich es. Als ich sah, wie sehr es ihm zusetzte Addie so zu sehen, ohne ihr helfen zu können, fühlte ich mich schlecht, mir gewünscht zu haben, er würde Stunden dabei zusehen müssen. Plötzlich war ich unfassbar froh, dass weder Aidan noch Trev hier waren. Noch mehr schmerzerfüllte Gesichter hätte ich nicht ausgehalten, dabei war es bloß eine Person, die tatsächlich physische Schmerzen erlitt. Das ganze dauerte eine gefühlte Ewigkeit, obwohl es in Wahrheit wahrscheinlich nur wenige Minuten waren, in denen Chase und ich nichts tun konnten, als Addie durch unsere Berührungen Sicherheit zu geben. Die ganze Zeit erwartete ich die Nachbarn oder die Polizei an der Türe klopfen. Doch niemand kam. Tolle Nachbarschaft. Ich hasste es, neben Addie zu sitzen, ihr über den Kopf zu streichen, aber ihr nicht helfen zu können, und ich wusste, dass es Chase genauso ging. Plötzlich setzte Addie sich so ruckartig auf, dass ich mich vor Schreck ein Stück von ihr entfernte.

„Es stürzt ab!", rief sie hysterisch. Sie sah sich wie verrückt um. Sie hatte gerade keine Ahnung wo sie war. Chase legte seine Hände auf ihre Arme, die sie im ersten Moment panisch wegzuschubsen versuchte, bis sie realisierte, dass sie dieses Gesicht kannte.

„Nein, Addie", sagte Chase sanft. „Alles okay, dir passiert nichts." Diese Seite kannte ich an ihm nicht. Die beruhigende, fürsorgliche.

„Nein!", rief sie panisch. „Es wird abstürzen, ich weiß es!"

„Was stürzt ab, wovon redest du?", fragte ich. Ihre panische Art machte mir Angst. Sie sah mich unter Tränen an.

„Sein Flugzeug, Trev's Flugzeug!" Sie fiel in Chase Arme und begann so heftig zu schluchzen, dass es mir das Herz zusammenzog. Warum schaffte es dieses Mädchen, ein solches Einfühlungsvermögen in mir zu wecken?

Eines war jedenfalls klar. Sie hatte gesehen, dass die Person, die sie auf dieser Welt wahrscheinlich am meisten liebte, in wenigen Stunden sterben würde. Addie sah also nicht nur irgendetwas in ihren Visionen. Sie sah den Tod von Menschen.

~~ ~~

Aidan kam gerade aus dem Gebäude heraus, als Chase auf dem vollen Parkplatz eine Parklücke zu finden versuchte. Dadurch, dass es bereits dunkel war und die gesamte Vorderseite des Flughafengebäudes aus Glaswänden bestand, wirkte es wie ein leuchtender Klotz in der Landschaft, die aus Autobahn und Lande- und Abflugbahn bestand. Es kam mir so vor, als hätte sich das Gebäude vergrößert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war.

Chase Auto war noch nicht einmal zum Stehen gekommen, als Addie bereits heraussprang. Während der Fahrt war ihr ein paar Mal übel geworden und sie hatte so ausgesehen, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. Doch wäre Chase an den Rand gefahren, hätte Addie den Wagen wahrscheinlich kurzgeschlossen und wäre selbst weiter gefahren. Wir waren ohne weitere Komplikationen hier angekommen. Ich hatte erwartet, dass Addie Fragen stellen würde. Viele. Aber sie hatte momentan ganz andere Sorgen. Sie und Chase hatten mehrmals versucht Aidan und Trev übers Handy zu erreichen, aber keiner von beiden war ans Telefon gegangen.

Aidan bemerkte Addie nicht sofort, sondern zog seine Autoschlüssel hervor und steuerte bereits auf sein Auto zu, als er sie entdeckte. Verwundert blieb er stehen.

„Was macht ihr hier?", fragte er und sah erst seine Schwester, dann Chase und mich an.

„Bitte sag mir nicht, dass das Flugzeug schon gestartet ist", sagte Addie hektisch und ihre Stimme bebte. Chase und ich hatten sie mittlerweile eingeholt. Aidan musterte Addie besorgt.

„Nein, aber in ein paar Minuten, warum-" Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Addie stürzte bereits an ihm vorbei, direkt auf den Eingang zu. Ohne nachzudenken lief ich ihr hinterher. Sie durfte Trev auf keinen Fall von der Vision erzählen. Sie durfte niemandem davon erzählen.

Der Flughafen war brechend voll und die Lichter waren so hell, dass sich meine Augen erst daran gewöhnen mussten. Ich drängte mein Unwohlsein und das erdrückende Gefühl dieser Menschenmasse beiseite und versuchte mich zu konzentrieren. Es war viel wärmer, als draußen, was mir nur recht war, denn wir hatten keine Zeit damit verschwendet unsere Jacken anzuziehen. Ich sah mich schnell nach Addie um. Sie zu finden war nicht schwer. Sie bewegte sich schnell und geschickt durch die Menge und ihre braunen Locken hatte auch nicht jeder zweite Mensch. Rasch drängte ich mich durch die Menschen mit ihren Koffern, Taschen, Surfbrettern, Hunden und schreienden Kindern, vorbei an unzähligen Anzeigetafeln und Hinweisschildern. Ab und zu verlor ich Addie aus den Augen, aber sobald ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich sie sofort wieder erkennen. Plötzlich blieb sie unter mehreren Anzeigetafeln stehen, die Abflugzeiten, Zielorte und Gates angaben. Ich schaffte es sie einzuholen. Hektisch wanderten ihren Augen über die Bildschirme. Sie drehte sich im Kreis und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Als sie bemerkte, dass ich neben ihr stand, huschte für einen Moment so etwas wie Erleichterung über ihr Gesicht, aber sehr schnell wurde diese wieder von ihrer Panik verdrängt.

„Ich weiß nicht wo er ist!" Sie war den Tränen nahe und sah sich wieder orientierungslos um.

„Doch, weißt du", sagte ich so beruhigend wie möglich. Sie brauchte keine Anzeigetafeln. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sie sich an jedes Detail ihrer schmerzhaften Vision erinnern konnte, gerade weil es die erste gewesen war, aber sie hatte eine solch große Angst um Trev, dass ich mir sicher war, dass sie einfach ihrem Gefühl folgen konnte. „Du hast es gesehen, du weißt es."

Sie nickte unsicher und sah sich ein wenig gefasster um, dann rannte sie los und ich kam kaum hinterher, aber wenigstens war sie nun recht zielstrebig. Sie lief durch lange Gänge mit Restaurants, Cafés, Souvenir-Shops und Fast-Food Ketten. Sie rannte durch einige größere Hallen, die allesamt aus weißem, glänzenden Material bestand, das wie Marmor aussah, aber ich bezweifelte, dass es das war. Nach etwa fünf Minuten hielt sie vor dem Eingang der Halle in dem der Security- Check stattfand an. Sie atmete schwer und stand verkrampft da, als sie den Raum nach Trev absuchte. Ich hielt ebenfalls nach ihm Ausschau. Würde er bereits durch die Kontrolle gegangen sein, hätten wir keine Möglichkeit mehr gehabt, ihn aufzuhalten. Außer wir hätten den ganzen Flug gestoppt, indem wir den Wachleuten gesagt hätten, das ganze Flugzeug würde abstürzen, und in Kauf nehmen, als potentielle Terroristen verdächtigt zu werden. Plötzlich stieß Addie halb erleichtert, halb ungläubig den Atem aus und lief geradewegs in den Raum. Auch ich atmete auf, als ich Trev entdeckte. Mir war gar nicht bewusst geworden, wie sehr mein Herz gerast hatte und wie angespannt ich die ganze Zeit gewesen war. Es wunderte mich. Hätte es mir nicht eigentlich egal sein sollen, wenn Trev gestorben wäre? Früher wäre es das gewesen. Ich hatte immerhin nichts mit ihm zu tun. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich ihn mochte, oder umgekehrt. Trotzdem breitete sich in mir ein Gefühl der Erleichterung aus.

Trev hatte seinen Blick auf sein Handy gerichtet und wunderte sich vermutlich gerade über die drei Millionen verpassten Anrufe von Addie und Chase und hob seinen Blick gerade noch rechtzeitig, um Addie aufzufangen, anstatt mit ihr umzufallen. Die zwei torkelten ein paar Schritte, bis es ihnen gelang sich einigermaßen zu stabilisieren. Ich entschloss mich dazu, am Eingang stehen zu bleiben und zu beobachten, wie Addie diese Situation alleine lösen würde. Es fiel mir zwar nicht leicht, über das ganze Stimmengewirr hinweg zu lauschen, aber so hatte ich wenigstens mal wieder einen Grund meine übernatürlichen Fähigkeiten spielen zu lassen.

„Was machst du hier?", fragte Trev und drückte Addie fester an sich. Es beunruhigte ihn sichtlich, seine Freundin so aufgelöst zu sehen, besonders da sie sich am Telefon noch gestritten hatten.

„Du darfst nicht fliegen", schluchzte sie und hielt ihn noch fester, als hätte sie vor, ihn nie wieder loszulassen.

„Warum nicht?" Er brachte nur mit Mühe wieder etwas Abstand zwischen sich und Addie. Jetzt bin ich gespannt.

„Das Flugzeug wird abstürzen!", sagte sie mit rauer Stimme. Ich schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn.

Einige Passanten drehten sich verwundert zu Addie um, schenkten ihr dann aber nicht weiter Beachtung- zum Glück. Gott, Addie musste viel vorsichtiger sein, mit dem was sie sagte. Gerade in der Öffentlichkeit! Aber Trev sah sie nicht an, als hätte sie den Verstand verloren, sondern eher besorgt.

„Wovon sprichst du?", fragte er verwirrt und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm, um ihr Gesicht in seine Hand legen zu können.

„Wenn du in dieses Flugzeug steigst, sehe ich dich nie wieder." Erneute Tränen, die ihr übers Gesicht liefen. Sie schlang wieder ihre Arme um ihn. Trev strich ihr verwirrt und ein wenig überfordert über die Haare.

„Mir wird nichts passieren, Addie", sagte er und schüttelte den Kopf. „Warum denkst du, dass das Flugzeug abstürzen wird?"

Oh, nein! Sag's ihm bloß nicht!

Aus dem Augenwinkel sah ich Chase und Aidan auf mich zukommen. Wahrscheinlich hatte Chase Aidan irgendeine Lüge aufgetischt, von wegen Addie hätte eine Panikattacke erlitten, weil Trev sieben Stunden ungefähr zehntausend Meter über dem Boden, in einer Blechbüchse sitzen würde.

„Bitte, glaub mir", flehte Addie. „Du kannst auch morgen noch nach New York fliegen, was kann denn so wichtig sein?"

Aus den Lautsprechern kündigte eine Frauenstimme die nächsten Abflüge an. Unter anderem auch den nach New York, woraufhin Trev sich aus Addie's Umklammerung löste. Er nahm ihre Hände in seine.

„Ich muss wirklich gehen." Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und griff nach seiner Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand. „Es wird nichts passieren. Ich ruf dich an, wenn ich gelandet bin, okay?"

„Nein!", rief Addie angsterfüllt und krallte sich an seinem Unterarm fest.

„Addie, lass das! Das ist nicht lustig." Er zog ihre Hand von seinem Arm und ging in Richtung Kontrolle, an der nur mehr wenige Menschen anstanden. Die meisten waren im ganzen Raum verteilt und unterhielten sich miteinander, verglichen Flugtickets, studierten Landkarten und Reiseführer oder hatten ihren Blick auf dem Handy. Addie stand wie ein Häufchen Elend da und sah Trev nach, gab sich aber noch nicht geschlagen. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, wie sehr sie mit sich selbst rang.

„Trevor Catrell!", schrie sie dann, was wieder einige Passanten dazu brachte, sich verwundert umzudrehen und einander zu bedeuten, dass Addie verrückt war, Gesten, die die Leute früher gemacht hatten, wenn sie mich gesehen hatten. Trev blieb stehen und drehte sich genervt um. Er sah Addie abwartend, schon beinahe gelangweilt, an.

„Wenn du in dieses Flugzeug steigst", begann sie schwer atmend. „Dann siehst du mich nie wieder. Dann bin ich fertig mit dir."

Aidan, der neben mir stand, atmete überrascht aus und auch Chase Körperhaltung veränderte sich. Wahrscheinlich gehörte Addie nicht zu den Mädchen, die ihren Freund wegen jeder Kleinigkeit damit erpressten, sie würden Schluss machen, wenn nicht alles nach ihrer Pfeife tanzte. Trev sah Addie einen Moment lang forschend an.

„Das kannst du nicht ernst meinen", sagte er kopfschüttelnd.

„Und ob. Ich packe meine Sachen und du siehst mich nie, nie wieder, das schwöre ich!" Würde er in dieses Flugzeug steigen, dann würde er Addie so oder so, mit hoher Wahrscheinlichkeit, nie wieder sehen. Ihre Strategie war trotzdem gut; besser als ich erwartet hätte. Wahrscheinlich wusste sie selbst, dass der Versuch ihm die Wahrheit zu sagen, komplett nach hinten losgehen würde. Trev schien Addie wirklich ernst zu nehmen. Er blieb noch einen Moment stehen, wohl um abzuwägen wie ernst Addie es meinte, ließ dann seine Tasche fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ging auf und ab.

„Das ist so lächerlich", murmelte er wütend. Chase ging auf ihn zu und begann auf ihn einzureden, er solle doch hier bleiben und wenn es nur Addie zu liebe war.

„Kannst du mir sagen, was hier los ist?", fragte Aidan.

Während Chase und Trev diskutierten trat Addie langsam ans Fenster und starrte wie hypnotisiert auf ein ganz bestimmtes Flugzeug. Ich schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht", sagte ich leise. Ein paar Minuten standen wir einfach nur da und beobachteten Trev und Chase beim Streiten. Addie sah einem Flugzeug mit schmerzerfüllten Augen nach, das auf die Abflugbahn rollte. Sie wusste, dass in diesem Flugzeug Menschen saßen, die sterben würden. Und so oder so, würde sie sich die Schuld daran geben, falls dieses Flugzeug tatsächlich abstürzen sollte.

Es war immer noch nicht klar, ob überhaupt etwas passieren würde. Vielleicht würde das Flugzeug nun unbeschadet ankommen, weil Addie Trev davon abgehalten hatte zu fliegen.

Das Flugzeug hob ab und Addie legte ihre Hand auf die Scheibe.

„Können wir jetzt bitte nach Hause?", fragte Trev irgendwann genervt. „Wenn ich schon wegen dir hier bleibe, dann will ich die Nacht nicht auf dem Flughafen verbringen."

Sie drehte sich um und sah Trev an, als hätte sie vergessen, dass er überhaupt dastand. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn wieder. Es kostete ihn kurz Überwindung, sie zurück zu umarmen. Er war immer noch sauer auf sie. Trotzdem drückte er sie nach kurzem Zögern an sich.

„Ich liebe dich", sagte Addie leise und warf mir über Trevs Schulter hinweg einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten konnte. Es war eine Mischung aus Schmerz, Trauer und Dankbarkeit, aber auch Misstrauen. Sie würde mit Sicherheit noch Fragen stellen. Und ich war mir nicht sicher, ob ich ihr antworten würde und ob sie für die Wahrheit überhaupt bereit war. Addie konnte sich glücklich schätzen, zumindest eine Person vor dem Tod gerettet zu haben. Eine Person, die ihr mit Sicherheit mehr bedeutete, als alle Seelen an Bord dieses Flugzeugs zusammen.

Trev drückte sie enger an sich. „Ich weiß."

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