33

Aidan 

In all den Jahren, in denen Chase mein bester Freund gewesen war, hatte ich eigentlich immer gedacht, ihn zu kennen. Zu wissen was in ihm vorging. Und wir waren wirklich schon sehr lange beste Freunde. Wir waren zusammen im Kindergarten gewesen, obwohl er fast ein Jahr älter war als ich. Wir waren zusammen eingeschult worden. Als er acht Jahre alt war, hatte sein Vater einen Job in Denver angenommen, sie waren alle nach Colorado gezogen und erst nach drei Jahren wieder zurückgekommen. Wir waren wieder in dieselbe Klasse gesteckt worden und es war fast so gewesen, als hätte sich nichts geändert, mit dem einzigen Unterschied, dass er sich zu der Zeit eine Karriere als Basketballer in den Kopf gesetzt hatte. Vor sechs Jahren war seine kleine Schwester gestorben. Aber selbst damals hatte ich immer gewusst, was in ihm vorgegangen war, oder warum er dieses und jenes getan hatte.

Heute konnte ich nicht einmal sagen, ob er gerade gut drauf war, oder nicht. Alles was ich mit Sicherheit hatte sagen können, war dass er mir eine Sache verheimlichte. Und zwar, in was für einem Verhältnis er zu Beverly stand. Denn so viel stand fest: Es bestand keine Chance, dass die beiden alte Freunde waren. Chase hasste Beverly. Beverly hasste Chase. Das wiederum brachte mich zu der Frage, warum er ständig versuchte in ihrer Nähe zu sein? Vor etwa dreißig Minuten hatte Beverly gemeint, sie müsse in die Stadt etwas besorgen, und noch bevor ich hatte fragen können, um was es sich handelte, hatte Chase sich bereit erklärt sie zu begleiten. Daraufhin hatte Beverly gemeint, dass es nicht nötig sei, aber Chase hatte erwidert, dass er ohnehin selbst in die Stadt müsse. Und obwohl ich wusste, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass sich die beiden in eine Seitengasse verirren würden, hatte sich plötzlich eine solche Wut in mir aufgestaut, dass ich, kurz nachdem die beiden aus dem Haus verschwunden waren, meine Sportsachen angezogen hatte, aus dem Haus gegangen und losgelaufen war.

Das Wetter passte auf jeden Fall zu meiner Stimmung. Mein Atem bildete Wölkchen, die Straßen glänzten von dem leichten Nieselregen und die Autos hatten ihre Scheibenwischer angeschaltet. Ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, hielt ich kurz nach Chase' Mercedes Ausschau und musste feststellen, dass er nicht in der Umgebung geparkt war. Beverly und Chase im selben Auto. Diese Vorstellung ließ mich noch einen Zahn zulegen. Hoffentlich hatte er sein Auto einfach aus Platzgründen wo anders geparkt.

Es war mir eigentlich egal wohin ich lief, aber ich wollte diese Wut auf meinen besten Freund loswerden. Wenn es eine Sache gab, die ich mir immer geschworen hatte, dann war es, niemals wegen eines Mädchens sauer auf meine Freunde zu werden. Und genau das war, seit ich Beverly kannte, schon mehr als einmal passiert.

Während ich die Straßen entlanglief und die Kälte verabscheute, musste ich an den gestrigen Abend denken. Beverly hatte sich die ganze Zeit sehr ruhig verhalten und so gut wie gar nicht geredet. Je voller das Myway geworden war, desto mehr hatte ich das Gefühl gehabt, dass Beverly sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte, weshalb ich mit ihr auch gegen zwölf nach Hause gegangen war. Chase war kurze Zeit später ebenfalls gegangen, aber Trev war so lange geblieben, bis Addie's Schicht vorbei gewesen war.

Je länger ich an Beverly dachte, desto schneller lief ich, um sie aus meinem Kopf zu bekommen, und nach etwa dreißig Minuten fand ich mich in dem Teil der Stadt wieder, in dem ich gestern mit Beverly gewesen war. Nicht an sie zu denken, klappte also nicht so gut, wie geplant. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch zwei Stunden hatte, bevor ich an der Uni sein musste. Wegen der ganzen Aufregung gestern, hatte ich erst nachdem ich vom Myway wieder nach Hause gekommen war, lernen können. Meine Konzentrationsfähigkeit um ein Uhr nachts, nach drei Bier und zwei Whisky hätte auf einen Kaffeelöffel gepasst, also hätte ich mich jetzt wahrscheinlich besser auf den Heimweg machen sollen, aber das Logo von Starbucks und der Gedanke an einen Kaffee, hatten eine eigene Gravitationskraft. Noch bevor ich die Türe geöffnet hatte, entdeckte ich meine Schwester. Sie saß drinnen an einem Tisch direkt neben der Fensterscheibe. In ihren Händen hielt sie ein Buch und auf dem Tisch vor ihr standen zwei Becher, einer davon auf dem leeren Platz gegenüber von ihr. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. Trev war zu Hause, Trish hasste Starbucks, an Chase wollte ich im Moment nicht denken, und mit ihren Studienkollegen traf sie sich kaum an Vormittagen. Mit wem war sie also verabredet?

Mir schlug warme, verbrauchte Luft entgegen, als ich das Café betrat. Sobald ich an ihrem Tisch angekommen war, nahm Addie den Blick von ihrem Buch. Sie musterte mich kurz, dann schüttelte sie den Kopf und seufzte.

Zufall ist vielleicht ein Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will." Sie klappte das Buch zu und legte es vor sich auf den Tisch. Ich musste nicht fragen, um zu wissen, dass sie irgendeinen mir unbekannten Schriftsteller zitiert hatte. Manchmal glaubte ich, dass es ihr einfacher fiel, mit bereits einmal gesagten Sätzen zu kommunizieren, als mit ihren eigenen.

„Was meinst du?", fragte ich ein wenig außer Atem und zeigte auf das Getränk, das auf dem leeren Platz gegenüber von ihr stand. „Auf wen wartest du?"

„Auf dich." Sie sah mich ausdruckslos an, während sie einen Schluck aus ihrem Becher nahm. Einen Moment lang wartete ich darauf, dass sie mir gestand, nur einen Scherz gemacht zu haben, aber sie tat es nicht, also nahm ich den anderen Becher vom Tisch und schnupperte kurz an dem Getränk. Cappuccino. Sie wollte mich auf den Arm nehmen. Das konnte sie unmöglich ernst meinen. Doch Addie sah mich mit einem solch ernsten Blick an, dass meine Zweifel das Weite suchten.

„Du wusstest, dass ich hier her komme?" Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, aber sie nickte trotzdem. Ich setzte mich ihr gegenüber hin. „Du bist sehr sonderbar, Schwesterherz." Während ich die Hälfte des warmen Getränkes auf einmal hinunterstürzte wurde mir bewusst, dass Addie und ich uns noch nie wirklich über ihre seltsamen Vorhersagen unterhalten hatten und das, obwohl sie schon seit Jahren regelmäßig Dinge wusste, bevor sie passiert waren. Das hätte mich vielleicht beunruhigen sollen, aber ich war es nicht anders gewöhnt. Manchmal verstörte es mich ein wenig, so wie jetzt, aber schockieren konnte sie mich damit nicht mehr. Möglicherweise kannte sie mich ja einfach so gut, dass sie genau gewusst hatte, dass ich mir einen Kaffee bei Starbucks hatte holen wollen... noch bevor ich es selbst gewusst hatte. Es war immerhin eine ziemlich spontane Aktion gewesen.

„Vielleicht kannst du ja in deinem heutigen Kurs das Thema sechster Sinn zur Sprache bringen", schmunzelte sie. 

„Siebter Sinn, Schwesterherz. Neurowissenschaftler gehen schon von sechs Sinnen aus." 

Sie verdrehte die Augen. „Was auch immer. Vielleicht ist eine seltsame Synapsenverbindung die Ursache für meine immer zutreffenden Vorahnungen." Amüsiert stieß ich den Atem aus.

„Ich bezweifle stark, dass Synapsen mit den Zukunftsvorhersagen meiner kleinen Schwester zu tun haben." Trotzdem hätte ich gerne eine rationale Erklärung dafür gehabt. Trev's Tante war seit Jahren davon überzeugt, dass Addie eine Art Hellseherin oder ein Medium war. Das konnte ich mir schwer vorstellen so oft wie Addie ihre Hausschlüssel verlegte, nach ihrem Handy suchte, oder vergaß wo sie geparkt hatte. Und im Gegensatz zu mir, stützte Trish diese absurden Annahmen auch noch. Wie konnte man von übernatürlichen Dingen -von nicht Möglichem- so besessen sein?

„Warts ab", meinte sie. „Eines Tages helfe ich dir noch zu deinem medizinischen Durchbruch, Brüderchen."

Ich richtete meinen Blick aus dem Fenster. Der Nieselregen hatte aufgehört, aber ich wusste, dass es trotzdem noch kalt war. Die Regentropfen lagen so groß wie Nadelstiche auf der Scheibe.

„Warum bist du hier?", fragte ich schließlich, weil ich bezweifelte, dass sie nur wegen mir hier saß. Sie ging fast nie alleine irgendwohin. Sie hasste das. Wann das begonnen hatte, konnte ich gar nicht so genau sagen. Als Kind war sie oft lieber alleine gewesen, besonders, als sie ihre Liebe zu Büchern entdeckt hatte, aber irgendwann hatte das aufgehört. Vielleicht in dem Moment, in dem sie mit Trev zusammen gekommen war.

Als Antwort auf meine Frage bekam ich lediglich ein Schulterzucken, was mir genügte, um sie zu durchschauen. „Ihr habt wieder gestritten, oder?"

„Sieht man mir das wirklich so deutlich an?"

„Vektoranalyse ist jedenfalls schwieriger als Addie-Analyse."

Ihre Mundwinkel wanderten, sichtbar gegen ihren Willen, nach oben. „Hör auf solche Sachen zu sagen, ich versuche gerade wütend auf jemanden zu sein."

Jemanden", wiederholte ich. Daraufhin wurde sie wieder ernst, senkte den Blick, seufzte tief und rieb sich kurz über die Stirn, bevor sie mich wieder ansah.

„Er will nach Stanford ziehen", sagte sie schließlich. Ich zog die Augenbrauen zusammen und wusste im ersten Moment nicht was ich darauf sagen sollte.

„Hattet ihr euch nicht dagegen entschieden?"

„Ich sagte ja auch nicht wir wollen nach Stanford ziehen", entgegnete sie und klang angespannt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand worauf sie hinaus wollte. Ich stellte meinen Becher ab und lehnte mich vor.

„Moment, du meinst er in Stanford und du hier?" Es erstaunte mich, dass die beiden auch nur daran gedacht hatten voneinander getrennt zu wohnen. Es war gerade mal ein paar Monate her, seit Addie zu uns gezogen war. Das war anfangs wirklich anstrengend gewesen. Wenn ich mich mit Addie unterhalten hatte, hatte es die ganze Zeit nur: Trev, Trev, Trev geheißen. Und wenn ich mich mit Trev unterhalten hatte, hatte es dauernd: Addie, Addie, Addie geheißen. Es war noch schlimmer gewesen als auf der High School, und es hatte fast drei Monate gedauert, bis sich die beiden beruhigt hatten und ihre Lippen nicht mehr aneinandergeschweißt gewesen waren. Dafür streiten sie jetzt rund um die Uhr...

„Eigentlich war ich diejenige die gesagt hat: Zieh doch nach Stanford", räumte sie ein. „Aber ich habe nie gesagt: Zieh alleine dort hin. Ich bin nicht wütend darüber, dass er nach Stanford ziehen will. Wenn er anfängt zu studieren, ist es viel zu umständlich für ihn jeden Tag sechs Stunden zu fahren."

„Aber wenn du mit ihm nach Stanford ziehst, dann musst du jeden Tag sechs Stunden fahren."

„Aber das stört mich nicht. Ich habe nicht so viele und so lange Kurse wie er haben wird. Und er wird viel mehr lernen müssen. Trev will mich einfach nicht dort haben."

Ich legte den Kopf schräg. „Hat er das so gesagt?", hakte ich nach, weil ich mir schwer vorstellen konnte, dass er tatsächlich diese Worte benutzt haben sollte. Dass ich daran zweifelte, machte Addie jedoch lediglich noch gereizter.

„Vielleicht nicht genau so, aber das ist es was er will. Soll er doch mit seinem Studienkollegen zusammen ziehen, wenn es ihn glücklich macht." Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich verstehe, dass er näher nach Stanford will, ich will das ja auch für ihn, aber ich will ihn nicht nur jedes Wochenende sehen, wenn überhaupt."

Langsam begann ich zu verstehen, worüber die beiden die letzten Tage dauernd gestritten hatten.

„Du stehst bei Trev nicht an zweiter Stelle."

„Aber auch nicht länger an erster", entgegnete sie gekränkt. Dann rieb sie sich das Gesicht. „Tut mir leid, ich wollte dich damit nicht aufhalten. Das ist sowieso mein Problem." Ich schüttelte den Kopf um ihr zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht entschuldigen musste. Ein weiterer Blick auf meine Uhr bestätigte mir, dass ich langsam mal nach Hause sollte und Addie begleitete mich.

„Ich hab eine Frage...", begann ich langsam, während wir mit unseren Getränken die -trotz solch früher Uhrzeit- gut besuchte Straße entlangliefen. Addie gab mir ihr Getränk, um sich ihren Schal umbinden zu können.

„Ich finde sie nett", sagte sie und nahm mir ihr Getränk wieder aus der Hand.

„Immer wieder angenehm, die Fragen nicht aussprechen zu müssen", murmelte ich angestrengt. Addie warf mir einen amüsierten Seitenblick zu. „Ich meins ernst, was hältst du von Beverly?"

„Sagte ich doch gerade." Ihr Grinsen wurde breiter und ihre Stimme hatte einen neckenden Ton angenommen. „Ich mag sie, sie hat so etwas... Realistisches."

„Wie bitte?"

„Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich hab das Gefühl, sie versucht nicht schlimme Dinge schön zu reden." Sie nahm einen Schluck. „Ich sollte dich wohl trotzdem warnen."

Ich sah Addie verwirrt an. „Wovor?"

„Mom", antwortete sie ohne Umschweife. „Sie wird von Beverly nicht begeistert sein."

„Mom ist von niemandem begeistert. Und was um alles in der Welt lässt dich denken, ich wolle sie Mom vorstellen?" Ich schüttelte den Kopf, als sei es das Abwegigste, das Addie hätte denken können. War es doch auch, oder nicht? Aber Addie grinste mich nur vielsagend an.

„Hör auf damit."

„Komm schon", lachte sie. „Du bist doch scharf auf dieses Mädchen, gib's zu."

„Sei doch still", brummte ich.

„Du wolltest wissen, was ich von ihr denke!", lachte sie.

„Aber nicht, was du von mir denkst." Warum war ich jetzt so genervt? Addie hatte mir nichts getan.

„Jedenfalls kann ich nicht behaupten, dass es den Eindruck macht, als würde sie dich vollkommen abstoßend finden, das ist doch bestimmt nicht die schlechteste Voraussetzung, oder? Und verglichen mit den Freundinnen, die du bis jetzt hattest, ist Beverly mir eindeutig am liebsten." Dafür, dass Addie sie vor ein paar Tagen nicht einmal in unserer Wohnung haben wollte, schien sie Beverly jetzt schon als meine zukünftige Freundin zu sehen. Ich konnte nicht behaupten, dass mir dieser Gedanke missfiel, aber etwas störte mich daran trotzdem.

Während wir nach Hause gingen erzählte Addie, dass Mom angerufen hatte. Unser Großvater hatte sich nun doch dazu überreden lassen in ein Pflegeheim zu gehen, nachdem Mom und Dad Tag um Tag auf ihn eingeredet hatten, und ihm das Beste vom Besten organisiert hatten. Das hieß übersetzt, dass Mom und Dad wieder zurück nach Tulare in unser altes Haus ziehen würden. Addie's Begeisterung hielt sich in Grenzen. Solange Mom in einem anderen Staat gelebt hatte, hatte Addie ihre Anrufe ignorieren können und die Emails nicht zwangsläufig beantworten müssen. Aber sobald Mom wieder weniger als eine Stunde von hier entfernt wohnen würde, konnte sie Addie wieder in ihr Leben hineinreden. Und wenn sie dafür bis vor unsere Haustüre fahren musste.

Chase und Beverly waren schon wieder zu Hause, als wir ankamen, und es erleichterte mich, dass sie einander so wunderbar ignorierten. Von Trev jedoch fehlte jede Spur. Das merkte auch meine Schwester sofort. Als ich aus dem Haus gegangen war, war er noch hier gewesen.

„Wo ist Trev?", fragte Addie an Chase gerichtet. Er zuckte mit den Schultern.

„Woher soll ich das wissen, er ist doch dein Freund", gab er zurück. Addie ließ ihre Tasche von der Schulter gleiten.

„Höre ich da etwa Eifersucht?", zog sie Chase auf, während sie sich die Jacke auszog.

„Das war glaube ich nur Wunschdenken", entgegnete er und zerwuschelte ihre Haare. Sie schubste ihn spielerisch von sich und versuchte ihre Haare wieder zu bändigen, was bei ihren Locken eine eher sinnfreie Tätigkeit war. „Ich muss jetzt zum Training." Er holte seine Sporttasche aus dem Zimmer, zog sich die Jacke an und verschwand. Hör auf, glücklich darüber zu sein, dass dein bester Freund die Wohnung verlassen hat, du Arsch.

Während ich mir nun auch die Jacke auszog, wanderte mein Blick zu Beverly, die an der Küchenzeile stand und einige kleine, bunte Döschen öffnete. Daneben lagen noch andere kleine Packungen.

„Was ist das?", fragte Addie, die es ebenfalls bemerkt hatte. Beverly sah kurz über ihre Schulter.

„Nur ein paar Medikamente", murmelte sie, ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser heraus. Addie warf mir einen unsicheren Blick zu, bevor sie neben Beverly trat, eine der Medikamentenpackungen in die Hand nahm und diese studierte. Mit kritischem Gesichtsausdruck legte sie sie wieder zurück.

„Die sind ganz schön stark. Wenn du die nimmst, bist du in weniger als fünf Minuten weg."

Beverly schüttelte den Kopf. „Nein, sowas wirkt bei mir nicht. Wenn du mich ohnmächtig kriegen willst, musst du mir schon eins mit der Bratpfanne überziehen." Sie nahm aus jeder Packung eine Tablette und spülte sie routiniert mit einem Schluck Wasser hinunter.

Addie stieß ungläubig den Atem aus. „Wenn du nach fünf Minuten wirklich noch auf zwei Beinen stehst, zahl ich dir die nächsten zehn Getränke im Myway." Daraufhin lächelte Beverly amüsiert. Ich trat neben meine Schwester und nahm ebenfalls ein oranges und ein blaues dieser kleinen Döschen in die Hand. Dann stutzte ich.

„Wie hast du die ohne Rezept überhaupt bekommen?" Vielleicht hatte Chase ja auch seinen Charme bei der Apothekerin spielen lassen, aber diese Medikamente waren rezeptpflichtig. Obwohl Beverly recht ruhig schien, merkte ich wie jetzt ihre Augen etwas zu schnell hin und her glitten.

„Sie... haben nach keinem Rezept gefragt", sagte sie schließlich und drehte sich wieder zum Kühlschrank. Meine Schwester warf mir einen fragenden Blick zu. Warum sollte Beverly überhaupt Medikamente nehmen, wenn sie der festen Überzeugung war, dass diese nicht wirkten?

Addie's Blick wurde misstrauisch, aber sie schüttelte nur den Kopf, und ihre Gesichtszüge entspannten sich wieder. „Ich muss noch einen Hausarbeit fertig schreiben, also-"

„Woher kennt ihr ihn?", fragte Beverly plötzlich und sah regelrecht schockiert aus. Ihr Blick war immer noch auf die Kühlschranktüre gerichtet.

„Wen?", fragte Addie.

Beverly zeigte auf das Foto, das auf dem Kühlschrank hing. Es war an dem Tag meines Schulabschlusses geschossen worden, und alle aus meinem Jahrgang waren darauf. „Anthony Nelson."

Addie und ich sahen einander wahrscheinlich noch verwirrter an als vorhin. „Er war an unserer Schule", antwortete ich dann langsam. „Selber Jahrgang wie Trev, Chase und ich." Er hatte damals zu meinen besten Freunden gehört. Bei seiner jährlichen Party zum Schulstart, die jetzt immer sein jüngerer Bruder organisierte, hatte er uns und die anderen aus unserem Jahrgang, auch die letzten zwei Jahre immer eingeladen.

„Woher kennst du ihn denn?", fragte Addie und sprach damit meine Frage aus.

„Kanntet ihr seine Freundin?", fragte Beverly und sah uns an. Was für eine Rolle spielte das denn?

„Victoria?", fragte ich. „Das Mädchen, das bei dem Autounfall gestorben ist?" Beverly drehte sich um und nickte.

„Sie... Victoria war meine Schwester."

Warum? Warum schaffte Beverly es eigentlich immer mich zu paralysieren? Gut, neulich war Chase derjenige gewesen, der uns eröffnet hatte, dass Beverly praktisch eine Millionärin war, aber das zählte trotzdem.

„Du bist Victorias Schwester?", fragte Addie ungefähr so fassungslos wie ich mich fühlte. „Die Schwester, die Victoria Tony ausgespannt hat?" Ich war mir sicher, dass es Addie nur herausgerutscht war, aber Beverlys Blick verfinsterte sich trotzdem.

Die Gerüchte hatte ich jedoch auch gehört. Jeder hatte von dieser Geschichte gehört. Victoria war nie an unsere Schule gegangen, sondern angeblich auf eine Privatschule, und trotzdem hatte eines Tages jeder darüber gesprochen, dass Tony sie mit ihrer kleinen Schwester betrogen haben soll. Mit der Zeit hatten diese Gerüchte wirklich skurrile Früchte mit sich getragen. Keiner hatte es tatsächlich gewusst, aber alle hatten darüber spekuliert, was, wann, wo und wie passiert war. Tony selbst hatte dazu aber nie ein Wort gesagt, nicht einmal zu uns. Mich hatte das nie gestört, es war schließlich seine Sache gewesen, aber jetzt da ich wusste, dass es sich die ganze Zeit um Beverly gehandelt hatte, wünschte ich, er hätte mir alles darüber erzählt.

„Nein, so war das gar nicht!", verteidigte sich Beverly. „Das hat Vicky nur überall herumerzählt, weil sie mich dafür gehasst hat, dass sie eine fiese, hinterhältige, manipulative Schlampe war und Anthony sich in mich verliebt hat." Für mich war es immer noch schwer zu begreifen, dass Beverly Tony kannte und das Mädchen war, über das locker zwei Monate ohne Unterlass geredet worden war, obwohl sie an unserer Schule, wahrscheinlich außer Tony, niemand je gesehen hatte. Man hatte kaum etwas über dieses mysteriöse Mädchen gewusst, das unsichtbar durch die Gänge des Schulgebäudes gewandert war und geschafft hatte, woran andere Mädchen jahrelang gescheitert waren. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, zwischen Beverly und dem Mädchen, das den Captain des Footballteams unserer Schule dazu hatte bringen können, seine Freundin zu betrügen, Parallelen zu ziehen. Ich hatte Victoria nicht gut genug gekannt, um zu wissen, was für ein Mensch sie gewesen war. Lediglich Tony hatte oft gesagt, wie sehr sie ihn in den Wahnsinn getrieben hatte. Gesehen hatte ich dieses Mädchen auch nicht allzu oft. Aber wenn ich jetzt versuchte mir vorzustellen, dass sie Beverlys Schwester sein sollte, konnte ich nur ungläubig den Kopf schütteln. Victoria hatte keinerlei Gemeinsamkeiten mit Beverly gehabt. Aber gut, Addie und ich hatten auch nicht wirklich viel gemeinsam.

„Ich hab dich schon mal gesehen", hauchte meine Schwester dann überrascht und sah Beverly an, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. „Vor drei Jahren auf der Party der Nelsons."

Beverly sah Addie vielsagend an. „Ich für meinen Teil erinnere mich jedenfalls noch gut an die Sache mit Evan Nelson und dem schönsten und begehrtesten Mädchen der Mt. Whitney High School."

„Erinnere mich nicht daran", seufzte Addie und verdrehte die Augen. Ich erinnerte mich kaum noch daran. Ich war an dem Abend so high gewesen wie der Mount Everest. Während die Sache zwischen Addie und Evan vorgefallen war, war ich zwar gefühlt bei klarem Verstand gewesen, aber danach hatte ich mich komplett weggeschossen. Kein Wunder also, dass ich mich kein Stück an Beverly erinnern konnte. Ich dachte generell nicht gerne an die High School zurück. Nicht etwa, weil ich unsere Schule nicht gemocht hatte, sondern viel eher weil es die schlimmste Zeit meines Lebens gewesen war. So viele Probleme wie zu der Zeit, hatte ich in meinem Leben nie wieder gehabt. Um zu wissen, dass Addie auch froh war endlich zu studieren, musste ich nicht einmal fragen. Nach allem, was sie erzählt hatte, war sie, sobald Trev seinen Abschluss gemacht hatte, an jedem Tag von Typen auf ziemlich niveaulose Art angesprochen worden, obwohl die ganze Schule gewusst hatte, dass sie noch mit Trev zusammen gewesen war. Er hatte sie ungefähr jede Woche zwei Mal von der Schule abgeholt, um genau das zu demonstrieren, aber trotzdem war Addie nicht drum herumgekommen einen Korb nach dem anderen zu vergeben.

„Er hat nie wirklich von dir gesprochen", sagte Addie dann. „Tony, meine ich." Beverly nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet.

„Ich bin wahrscheinlich neugieriger als ich sollte, aber was ist zwischen dir und Tony passiert?", meinte sie dann. Wieder sprach Addie die Frage aus, die ich nie ausgesprochen hätte, weil ich Angst vor der Antwort hatte. Falls Beverly überhaupt eine geben würde.

„Nichts, was der Rede wert wäre." Ihre Augen wanderten wieder unruhig hin und her und sie verschränkte die Arme. Mein Blick fiel auf ihre rechte Hand. Sie berührte in schnellen Bewegungen mit jedem Finger ihren Daumen, immer beim kleinen Finger beginnend. Sie wiederholte es genau zehn Mal, aber so schnell, dass Addie es gar nicht mitbekommen hatte. Beverly löste sich aus ihrer verkrampften Starre und rieb sich den Nacken.

Addie seufzte theatralisch. „Ach, die High School Jahre. Wie wundervoll sie doch waren."

„Wem sagst du das...", schloss ich mich an und hatte meinen Blick immer noch auf Beverly gerichtet, aber sie schien wieder viel entspannter. Addie ging auf ihr Zimmer, um ihre Hausarbeit fertig zu stellen und ich ging auf mein Zimmer, um all das zu lernen, was ich in der übrig gebliebenen Zeit eben noch lernen konnte.

Es hätte mich wirklich nicht stören sollen, dass Tony in Beverly verliebt gewesen war. Egal, ob Beverly gemeint hatte, es sei nichts zwischen den beiden passiert, das der Rede wert gewesen wäre. Etwas war passiert. Und der Gedanke, dass die beiden eine Vergangenheit hatten, nagte seit der Sekunde an mie, in der ich es erfahren hatte. Verdammter Mist.

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