27

Aidan

„Beverly." Chase sah Beverly geschockt an, während Beverly mindestens genauso erschrocken zurückstarrte. Addie, Trev und ich tauschten verwirrte Blicke untereinander. Und das lag nicht nur daran, dass Chase und Beverly sich offensichtlich kannten. Chase sah viel erschöpfter aus als sonst, wenn er vom Training kam. Außerdem hatte er eine Beule auf dem Kopf.

„Sag nicht, dass ihr euch kennt", sagte Addie verwirrt und zeigte zwischen den beiden hin und her. Chase ließ seine Sporttasche fallen und zog sich die Jacke aus. Mein Blick glitt wieder zu Beverly. Sie stand wie angewurzelt vor dem Bücherregal und beobachtete Chase. Ihre Augen waren wachsam und ihre Körperhaltung hatte etwas Angespanntes.

„Doch, wir sind alte Freunde", meinte er und lächelte Beverly nun an. Er ging auf sie zu und umarmte sie, aber Beverly brauchte einige Sekunden um die Umarmung zu erwidern.

Es passte mir gar nicht, dass Chase Beverly kannte. Dass er sie vor mir gekannt hatte. Dass er sie gerade umarmte und sie diese Umarmung erwiderte. Gleichzeitig war das aber vielleicht auch gar nicht so unpraktisch. Möglicherweise könnte ich Addie und Trev auf die Weise schneller von Beverly überzeugen.

„Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn sie hier bleibt, oder?", fragte ich und sah Addie fast schon schadenfroh an. Sie sah beleidigt zurück und öffnete die vier Pizzakartons. Chase kam zu uns und nahm Trev sein Pizzastück aus der Hand, aber der protestierte nicht, sondern rollte nur mit den Augen und nahm sich ein neues.

„Nein, gar nicht. Dann kann ich sie wenigstens mal im Auge behalten." Er drehte sich wieder zu Beverly. „Ich hab das Gefühl du läufst immer vor mir weg. Versteckst du dich etwa vor mir?", fragte er und grinste Beverly an, bevor er in das Pizzastück biss. Sie schüttelte den Kopf.

„Stimmt doch gar nicht. Du hast dich nie gemeldet. Ich hatte schon fast gedacht, du wärst tot." Sie wirkte immer noch perplex. Chase lachte.

„Mich bringt man nicht so schnell um, keine Sorge." Er zeigte auf die Beule an seinem Kopf.

„Was ist da passiert?", fragte Trev und setzte sich an seinen Platz. Weil Chase vor dem Stuhl stand, auf dem Addie normalerweise saß, setzte sie sich auf Trevs Schoß.

„Es hat sich herausgestellt, dass Basketbälle ziemlich hart sein können", meinte Chase. Addie lachte auf und griff über den Tisch um sich ein Stück ihrer Pizza zu nehmen.

„Ein Basketball? Meinst du nicht eher der Schürhaken eines verärgerten Mädchens?", fragte sie missbilligend, woraufhin Chase zwinkerte.

„Okay, zugegeben. Es war ein Mädchen. Aber kein Schürhaken. Nur ein Buch."

„Muss eine schwere Lektüre gewesen sein", kicherte Addie.

„Und warum hat sie dir ein Buch auf den Kopf geschlagen?", fragte ich skeptisch und setzte mich nun ebenfalls an den Tisch. Chase zuckte mit den Schultern.

„Du kennst doch ein paar von meinen verrückten Mädchen. Da ist das nicht so ungewöhnlich. Besonders, wenn ich sie darauf hinweise, dass was auch immer wir miteinander haben, keine Beziehung ist." Er ging zum Kühlschrank, holte sich ein Bier und wandte sich wieder an Beverly, die sich immer noch keinen Millimeter vom Fleck bewegt hatte. Was war plötzlich los mit ihr?

„Warst du nicht in Modoc? Wie hast du's geschafft, dass sie dich rauslassen?"

Sie sagte einige Sekunden nichts. „Sie haben mich nicht rausgelassen. Ein Feuer ist ausgebrochen. Jeder ist geflohen."

„Ein Feuer?", Chase grinste amüsiert. „Und da haben sie einfach die Tore geöffnet und alle laufen lassen?"

„Tja, ich schätze lebende Verrückte, sind immer noch besser, als tote", gab Beverly bissig zurück. Chase lehnte sich gegen die Küchenplatte und musterte sie einen Augenblick lang.

„Da hast du vielleicht recht." Die beiden sahen einander einige Sekunden schweigend an. Addie und ich tauschten wieder verwirrte Blicke aus, wobei ihrer amüsiert und meiner wahrscheinlich grimmig wirkte.

Woher kannten sich die beiden? Woher kannte Chase Modoc? Wegen Beverly? Warum hatte Chase nie von ihr erzählt? Ich kannte so gut wie alle Freunde von Chase. Wenn die beiden Freunde waren, warum benahm sich Beverly dann noch wachsamer, als bei unserer ersten offiziellen Begegnung? Und da war noch eine Sache, die mich provozierte. Wenn Chase Freundschaften mit Mädchen schloss, dann ganz bestimmt nicht um mit ihnen Angeln zu gehen. Ich fragte mich, was die beiden miteinander zu tun hatten. Beverly benahm sich recht eigenartig und ich wurde den Gedanken nicht los, dass ihre Freundschaft nicht mehr existierte und erst recht nicht gut geendet hatte. Hatten die beiden etwas miteinander gehabt und Chase hatte Beverly abserviert? Dieser Gedanke nagte an mir, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass Beverly der Typ für eine Affäre war. Außerdem war sie auch nicht Chase Typ.

Jetzt vielleicht nicht mehr. Der Gedanke, dass zwischen den beiden etwas gewesen sein könnte, hatte sich in meinem Kopf festgekrallt.

„Wo warst du die letzten Tage?", fragte Addie. „Nur bei dem Mädchen, das dich dann mit einem Buch verprügelt hat?" Chase nickte.

„So ziemlich. Hin und wieder war ich beim Training."

„Wie oft trainierst du?", fragte Beverly und es war das erste Mal, dass sie Chase eigenständig ansprach. Sie kam langsam zu uns, ließ Chase dabei aber nicht aus den Augen. Es war, als würden wir anderen gar nicht existieren.

„Fast jeden Tag. Einige Stunden", antwortete Chase. Beverly nickte langsam.

„Übernimm dich nicht."

„Keine Sorge." Es folgte erneut dieses stumme-Blicke-austauschen, bis Chase sich abwandte. „Ich gehe jetzt schlafen. Langer Tag." Er nahm seine Sporttasche und sein Bier, und ging in sein Zimmer. Beverly wandte den Blick erst einige Sekunden nachdem er die Türe geschlossen hatte ab.

„Also", begann Addie schließlich und sah Beverly an. „Woher kennen du und Chase euch?" Beverly schien im ersten Moment verwirrt zu sein, als wäre sie nicht sicher, ob Addie mit ihr sprach.

„Wir haben uns einmal auf irgendeiner Party vor ein paar Jahren getroffen", sagte sie langsam. Irgendwie kaufte ich ihr das nicht so ganz ab. Ja, Chase ging oft auf Partys und zu seiner Schulzeit noch öfter. Aber wenn er dort ein Mädchen kennengelernt hatte, dann hatte er keine Freundschaften geschlossen. Beverly schien die ganze Situation auch zu verwirren. Ich sah Beverly an und deutete auf den Platz neben mir und schob ihre Pizza hin. Es fühlte sich beinahe normal an, neben ihr zu sitzen und Pizza zu essen, aber obwohl Beverly dabei war die ganze Pizza schneller zu verdrücken als ich, schien sie ziemlich abwesend.

Während Beverly in Gedanken versunken zu sein schien, erfuhr ich, dass Trev den LSAT bestanden hatte. Es hätte mich gewundert, wenn Trev nicht in Stanford genommen worden wäre, da auch seine ACT und GPA Ergebnisse erschreckend gut waren. Und Addie, ganz die Musterschülerin, hatte ihre erste Prüfung mit der vollen Punktezahl bestanden und ich hatte absolut keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte. Besonders, da es ihr in den letzten Wochen gehörig an Schlaf zu mangeln schien. Wie um alles in der Welt hatte sie eine dreistündige Prüfung so locker bestehen können?

„Hast du wenigstens schon bei Mom damit angegeben?", schmunzelte ich.

„Was denkst du denn?", gab sie zurück. Unsere Eltern finanzierten unser Studium nur, so lange wir gute Noten schrieben. Bis jetzt hatte das auch geklappt, aber ich fühlte mich zeitweise ziemlich unter Druck gesetzt, besonders weil bald auch bei mir die erste Prüfung anstand. Ich musste immer noch vier Semester hinter mich bringen, bevor ich mein Bachelorstudium abschließen können würde.

„Und rate, was sie gesagt hat."

„Oh Gott...", murmelte ich. Ich hätte nicht fragen sollen. Ich hätte Mom nicht erwähnen dürfen.

„Ich zitiere: Addie, Schatz, ich war noch nie so stolz auf dich, wie in diesem Moment." Ich verzog das Gesicht. „Und weißt du, was das Schlimmste daran ist?"

„Sie hat es ernst gemeint", antwortete ich.

„Sie hat es total ernst gemeint!", bestätigte Addie. „Ich finde es großartig, dass meine eigene Mutter nur dann stolz auf mich ist, wenn ich die erste Prüfung in meinem Studium mit der vollen Punktezahl abschließe. Sie war nie stolzer auf mich." Ich konnte mir ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Dass Addie sich nach so vielen Jahren immer noch wunderte und darüber aufregte, dass Mom akademische Titel und damit auch Bestleistungen bei Prüfungen wichtiger waren als alles andere, war einfach zu putzig.

„Und was hat Dad dazu gesagt?", erkundigte ich mich weiter. Addie winkte ab.

„Nachdem er Mom das Telefon aus der Hand genommen hat, hat er gemeint, er ist sich nicht sicher, was ich jetzt am ehesten von ihm hören will. Dass er stolz auf mich ist, oder dass er findet, dass akademische Leistungen keine Rolle für ihn spielen." Trev stieß amüsiert den Atem aus.

„Naja, wenigstens versucht er, einfühlsam zu sein", meinte er. Addie verdrehte die Augen und stützte ihren Kopf auf die Hände.

Unser Dad war das genaue Gegenteil von unserer Mom und ich hatte nie verstanden, warum ausgerechnet die beiden verheiratet waren. Addie kam mit ihm weit besser zurecht, als mit unserer Mutter, was durchaus auch daran liegen konnte, dass unser Dad Trev mochte. Anfangs zwar nicht, aber als er gesehen hatte, wie gut Trev Addie tat, hatte er ihn nicht nur akzeptiert, sondern tatsächlich gemocht.

„Familiendrama?", fragte Beverly. Für einen kurzen Moment hatte ich vergessen, dass sie überhaupt da war. Wie um alles in der Welt hatte das denn passieren können?

„Frag gar nicht erst", antwortete ich, woraufhin sie schmunzelte.

„Kenn ich nur zu gut, glaub mir."

„Woher kommst du eigentlich?", fragte Addie wie aus dem Nichts und sah Beverly forschend an.

„Was meinst du? Kalifornien", antwortete Beverly verwirrt. Addie schüttelte den Kopf.

„Du hast einen eigenartigen Akzent."

„Willst du mich beleidigen?", fragte Beverly belustigt. Ich sah Addie an, dass sie Beverly gegenüber nicht mehr ganz so abgeneigt war. „Meine Familie mütterlicherseits kommt aus Irland." Sofort hatte Beverly meine ganze Aufmerksamkeit. Sie sprach nicht oft über sich oder ihre Familie, also wollte ich jedes Detail aufsaugen.

„Meine Mutter ist nach Kalifornien gezogen, als sie neunzehn war und hat meinen Vater kennengelernt. Ich schätze mein... eigenartiger Akzent kommt daher, dass ich mit beiden aufgewachsen bin und die Akzente sich irgendwie vermischt haben." Hätte Addie Beverly nicht darauf angesprochen, wäre mir wahrscheinlich nie aufgefallen, dass sich ihr Akzent von meinem unterschied. Und Addie hörte drei, vielleicht vier, Sätze von Beverly und wusste, dass sie nicht durch und durch Amerikanerin war.

„Ich habe eigentlich gedacht, ich hätte es geschafft meinen Akzent vollständig kalifornisch klingen zu lassen, aber offensichtlich habe ich mich überschätzt", seufzte Beverly, woraufhin Addie lächelte. Ich wusste nicht, was den plötzlichen Meinungswandel meiner Schwester gegenüber Beverly bewirkt hatte. Vielleicht war es die Tatsache, dass Chase sie kannte. Aber irgendetwas tief in mir sagte, dass es einen anderen Grund gab.

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