23

Aidan

Ich fühlte mich wie gerädert am nächsten Morgen. Ich saß schon um sechs am Frühstückstisch und versuchte mich mit Kaffee aufzuwecken. Aber dadurch, dass ich nur etwa drei Stunden geschlafen hatte, brachte auch das Wundermittel der Wundermittel nicht viel. Trev stand kurz nach mir auf, und ging aus dem Haus um eine Runde zu laufen. Ich spähte in Chase Zimmer, aber es war immer noch leer. War er gestern einfach abgehauen, nachdem Addie so ausgerastet war und nicht mehr zurückgekommen? Vermutlich noch wegen eines Mädchens?

Ich schüttelte nur seufzend den Kopf, hatte aber sowieso sofort andere Gedanken, als Addie aus ihrem Zimmer kam und verschlafen zur Couch schlurfte, um sich dort niederzulassen. Sie nahm ein Kissen, umklammerte es mit beiden Armen und legte ihren Kopf darauf.

„Hast du geschlafen?", fragte ich irgendwann. Addie drehte ihren Kopf zu mir und sah mich an, als hätte ich nichts Blöderes fragen können. Hätte ich wahrscheinlich auch nicht. Dann wandte sie sich wieder ab. Ich nahm meinen Kaffee, stand auf und ging zu ihr.

„Bist du immer noch sauer auf mich?", fragte ich und ließ mich neben ihr nieder. Sie schüttelte den Kopf und ich atmete erleichtert auf. Wenigstens etwas.

„War ich schon vor zwei Tagen nicht mehr", murmelte sie dann. Ich sah sie ungläubig an. Was hatte sie gerade gesagt?

„Und du hast es nicht für nötig gehalten mit mir zu reden?" Die Fassungslosigkeit musste man mir angesehen haben, aber Addie störte sich nicht daran.

„Du hast doch selbst keinen Ton gesagt", gab sie unschuldig zurück und schloss ihre Augen. Nicht zu fassen. Ich hatte zwei Tage mehr als nötig Schuldgefühle gehabt. Sie hatte Glück, dass ich darüber im Moment nicht streiten wollte.

„Wie geht's dir?", fragte ich daher.

„Blendend."

„Und wirklich?"

„Beschissen."

Ich wartete darauf, dass Addie mehr sagte, aber das tat sie nicht. Sie saß einfach nur da, den Kopf auf dem Kissen, die Augen geschlossen. Ich fragte mich, ob sie eingeschlafen war. Leute die länger nicht schliefen, fielen doch in Sekundenschlaf. Aber Addie öffnete mühsam die Augen und rieb sich übers Gesicht. Warum sagte sie uns nicht endlich was los war? Warum sagte sie mir nicht endlich was los war? Mittlerweile konnte ich nur noch hoffen, dass sie irgendwann so übermüdet war, dass sie gar keinen anderen Ausweg mehr sah, als es uns zu erzählen. Obwohl ich natürlich nicht hoffte, dass es soweit kommen würde.

„Addie...", begann ich, brach aber dann ab, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich an sie heran kommen sollte. Wenn Trev es nicht schaffte, warum hätte ich es dann schaffen sollen? Addie drehte sich wieder zu mir und sah mich abwartend an, obwohl sie genau wusste, worüber ich sprechen wollte.

Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich bitte dich, Aidan, lass es gut sein."

„Was muss ich tun, damit du mir endlich sagst, was los ist?"

„Es ist nichts los!"

Das hätte sie nicht einmal einem Blinden erzählen können. Sie starrte krampfhaft in die Nähe des Fernsehers. Was war an der Leere die sie betrachtete spannender als an mir?

„Ich will einfach nur schlafen", wisperte sie. Ihre Augen wurden glasig. Noch glasiger, als sie es ohnehin schon waren und ihre Unterlippe begann zu beben. „Ich will nur noch schlafen, aber ich kann nicht, weil ich weiß, dass ich wieder einen Alptraum haben werde, sobald ich meine Augen schließe, selbst wenn es nur für eine Sekunde ist." Sie legte ihre Hände vors Gesicht und brach in verzweifelte Schluchzer aus. Also wenn Trevs Nächte aus solchen Szenarien bestanden, dann wunderte es mich ehrlich nicht, dass auch er zunehmend schlechter aussah. Ich stellte meine Tasse auf den Couchtisch und nahm Addie in die Arme. Zu meiner Überraschung ließ sie es sogar zu. Ich drückte sie an mich und ließ sie eine Zeit lang einfach nur weinen. Ich wartete geduldig, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte.

„Wovon träumst du?", fragte ich irgendwann leise. Für einen ganz kurzen Moment hatte ich tatsächlich gedacht, sie würde es mir sagen. Aber dann schüttelte sie nur den Kopf. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, Addie vorzuschlagen zu einem Psychiater zu gehen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Wenn ich ihr das gesagt hätte, hätte sie daraus den Schluss gezogen, ich würde denken sie sei verrückt. Und dann würde sie wahrscheinlich Wochen lang nicht mehr mit mir reden. Aber was sollte ich dann tun, wenn sie einfach mit niemandem redete?

~~ ~~

Trish sah mich mehr als verwundert an, als ich drei Stunden später vor ihrer Apartmenttür stand. Sie hatte eindeutig nicht so früh mit Besuch gerechnet. Hätte ich an ihrer Stelle auch nicht, an einem Sonntag um kurz vor zehn. Ihre gingerrote Mähne war in einem losen Knoten im Nacken zusammengebunden, und einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie trug eine lockere schwarze Hose und ein weites graues T-Shirt und sah so aus, als wäre sie erst vor kurzem aufgewacht. Vielleicht in dem Moment, als ich an der Türe geklingelt hatte.

Wir standen uns erst nur einige Sekunden schweigend gegenüber, bevor sie zur Seite trat und mich hereinließ. Sie schloss die Türe hinter mir und sah mich forschend von oben bis unten an.

„Soll ich den Wein aufmachen?", fragte sie schließlich, woraufhin ich die Augen verdrehte.

„Witzig." Ich drehte mich um und ging durch den kleinen Flur weiter in das Wohnzimmer. Der Christbaum stand immer noch in der Ecke neben dem Kamin, aber man sah ihm an, dass sich seine Zeit dem Ende zuneigte. Auf dem Tisch standen kleine Porzellanrentiere, die einen Schlitten mit Santa und Geschenken hinter sich herzogen und auf den Fenstern waren immer noch Schneeflocken aufgeklebt. Überall standen gepaart Kerzen in Rot und Silber, aber sie brannten nicht. Auf dem Flügel standen zwei kleine Engel, die ich mit einer hochgezogenen Augenbraue betrachtete.

Trish bemerkte meinen Blick. „Frag gar nicht erst." Sie selbst betrachtete die Figuren kopfschüttelnd, woraufhin ich amüsiert den Atem ausstieß.

Trish wohnte zusammen mit ihrem kleinen Bruder, Kace, noch bei ihrer Mutter. Ihre Eltern waren geschieden, verstanden sich aber noch sehr gut, und verbrachten Feiertage immer zusammen. Für gewöhnlich waren Trishs Bruder und ihre Mom auch immer zu Hause. Da aber heute Sonntag war, waren ihre Eltern mit Kace wahrscheinlich im Kino, oder etwas Essen. Zu Beginn hatte Trish bei den sonntäglichen Familienaktivitäten noch mitgemacht, aber in letzter Zeit hatte sie darauf keine Lust mehr. Sie leistete den anderen höchstens noch zu besonderen Anlässen Gesellschaft, oder wenn Kace sie anbettelte mitzukommen.

„Aber jetzt mal ehrlich", sagte Trish und stützte sich an der weinroten Couchlehne ab. „Willst du wirklich nichts trinken? Du besuchst immerhin gerade eine Barkeeperin." Die hab ich auch zu Hause. An jedem anderen Tag hätte ich dieses Angebot bestimmt angenommen.

„Ich muss noch fahren", lehnte ich ab. Daraufhin grinste Trish mich nur an.

„Nein, musst du nicht", trällerte sie und verschwand durch die Türe, die zur angrenzenden Küche führte. Als sie zurückkam, warf sie mir ein Bier zu. Ich fing es geschickt auf.

„Du wohnst genau fünfzehn Minuten zu Fuß von hier. Du kannst mir nicht erzählen, dass du mit dem Auto gekommen bist." Sie schwang sich in den großen Sessel gegenüber von der Couch, auf der ich mich niederließ. Trish hatte nicht einmal unrecht. Aber es war Sonntag, und ich hatte eigentlich vorgehabt Beverly wieder zu besuchen, denn nächste Woche würde ich keine Zeit dafür haben.

Skeptisch betrachtete ich das Bier, während sie ihres öffnete. „Es ist zehn Uhr morgens", warf ich ein.

„Irgendwo ist immer Happy-Hour, mein Hübscher." Sie prostete mir lächelnd zu und trank einen Schluck. Ich wollte meinen Blick irgendwie belehrend wirken lassen, aber es klappte nicht. Trish trank Bier zum Frühstück, noch bevor sie irgendetwas anderes zu sich genommen hatte und wirkte dabei alles andere als verrückt. Bei vielen anderen Menschen hätte ich den Kopf geschüttelt und ihnen das Bier aus der Hand genommen, aber da ich wusste, dass ein Frühstücksbier nicht zu Trishs täglichen Ritualen gehörte, öffnete ich mein Bier ebenfalls.

„Jetzt, da wir das Wesentliche geklärt hätten", schmunzelte sie, umschloss das Bier mit beiden Händen und beugte sich vor. „Warum bist du hier?"

„Darf ich dich nicht besuchen?"

„Du kommst mich nie besuchen", lachte Trish. „In den fünfzehn Jahren in denen ich hier wohne, warst du genau neun Mal hier. Sieben davon, weil du Addie abgeholt hast."

„Naja, jetzt wohnen wir ja nur noch fünfzehn Minuten auseinander", gab ich zurück und war nun doch ganz froh über das Bier. Bevor ich mit meinen Freunden und Addie nach Fresno gezogen war, hatten wir alle in Tulare gewohnt. Das lag etwa vierzig Minuten von Trish entfernt. Mit dem Auto, oder dem Bus. Und ab und zu hatte ich Addie von Trish abgeholt, weil es spät geworden war und weder ich noch sie, noch unsere Eltern gewollt hatten, dass sie alleine nach Hause fahren musste.

Trish verdrehte amüsiert die Augen. „Wenn du mir keinen Grund lieferst, dann werde ich raten müssen." Das war so ziemlich das letzte was ich wollte. Denn wenn Trish hätte raten müssen, wäre ihr erste Tipp Sex gewesen. Und dieses Gespräch wollte ich mir heute ersparen.

„Ich muss dich was fragen", begann ich.

„Die Antwort ist Ja", sagte Trish sofort. Ich schüttelte belustigt den Kopf.

„Lass den Blödsinn."

„Okay, okay", sie hob beschwichtigend die Arme und setzte sich im Schneidersitz hin. „Was ist los?"

„Es geht nicht um mich, sondern um Addie."

Trishs Blick wich von gut gelaunt recht schnell in Besorgnis über. Sie nickte langsam und wich meinem Blick aus, als hätte sie erwartet, dass ich wegen meiner Schwester hier war.

„Du scheinst nicht überrascht", bemerkte ich.

„Bin ich auch nicht." Trish stellte ihr Bier weg.

„Weißt du was mit ihr los ist?", fragte ich und stützte meine Ellenbogen auf die Knie. Trish neigte den Kopf hin und her.

„Könnte man so sagen, ja." Ich sah sie abwartend an, aber sie sah nur stumm zurück. Ich ließ den Kopf hängen und stöhnte frustriert.

„Du wirst es mir nicht sagen, richtig?"

„Du würdest es nicht verstehen." Ich sah sie wieder an. Diesmal wütend.

„Dann erkläre es mir!" Langsam riss bei mir der Geduldsfaden, aber Trish schien das nicht zu stören. Gelassen nahm sie wieder ihr Bier in die Hände.

„Aidan", sagte sie ruhig. „Sie weiß doch selbst nicht, was mit ihr los ist."

„Und du schon?", feuerte ich zurück. Trish zuckte beinahe bescheiden mit den Schultern.

„Möglich." Sie nahm wieder einen Schluck. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und sah zum Fenster hinaus. Ich sah die vielen grauen Hochhäuser, die sich die Straßen entlang säumten und den grauen Himmel, der diesen Tag noch viel deprimierender erscheinen ließ.

„Warum sagst du mir nicht, was los ist?"

„Ich hab meine Gründe."

„Das ist keine Antwort!"

„Du wirst keine bekommen." Sie sah mich fast schon entschuldigend an. „Nicht von mir. Wenn Addie wollen würde, dass du es weißt, dann wüsstest du schon davon. Du kannst es mir unmöglich verdenken, dass ich das was meine beste Freundin mir anvertraut, geheim halte." Tat ich nicht. Ich war sogar froh, dass Addie eine Freundin wie Trish hatte. Eine Freundin die ihr zuhörte und nicht alles sofort ausplapperte. Ihr erzählte Addie ja offenbar was los war. Es beruhigte mich zu wissen, dass sie nicht ganz alleine war, mit was auch immer sie beschäftigte, aber es beunruhigte mich, dass keiner von beiden verraten wollte, was es war.

„Was kann denn so schlimm sein, dass sie es mir nicht verraten will? Oder Trev, oder Chase. Ich bin ihr Bruder, Trev ist ihr Freund und Chase ist ihr bester Freund!"

„Vielleicht ist das ja das Problem", sagte Trish und sah mich eindringlich an. „Manchmal fällt es schwer den Leuten, die man liebt, die Wahrheit zu sagen. Den Leuten die Wahrheit zu sagen, die man nicht verlieren will. Leuten, bei denen man nicht riskieren möchte, gehasst oder verurteilt zu werden." Trishs Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Ich könnte Addie niemals hassen. Ich würde sie nie verurteilen. Sie war meine kleine Schwester und ich liebte sie über alles. Warum sollte Addie denken, dass wir sie verurteilen, oder gar hassen könnten, wenn sie uns sagen würde, was los war? Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt irgendetwas hätte tun können, damit ich sie hassen könnte.

„Und warum erzählt sie es dir dann?", fragte ich. Trish zuckte wieder mit den Schultern.

„Hat sie eigentlich gar nicht. Ich hab's herausgefunden, sie darauf angesprochen und dann hat sie mir alles erzählt." Sie trommelt mit ihren schwarz lackierten Nägeln gegen das Bier und mein Blick fiel auf ihre Hände. Vier goldene Ringe.

„Bitte sag mir nicht, dass das der Grund dafür ist, dass ihr euer lächerliches Ring-Tausch-Spiel wieder zum Leben erweckt habt."

Trish schwieg und gab mir damit eine eindeutige Antwort. War Addies Geheimnis wirklich so schrecklich? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Addie etwas geheim hielt, das solche Reaktionen und Konsequenzen nach sich zog.

„Kannst du mir etwas versprechen?", fragte Trish und sah mich aus ihren taubengrauen Augen flehend an. „Frag Addie nicht weiter. Bitte. Gib ihr Zeit. Dasselbe gilt für Trev und Chase. Hört auf sie ständig zu fragen, denn damit erreicht ihr das Gegenteil von dem was ihr wollt." Irgendwie war es ein Unterschied, Addies Verhalten zu kennen, oder ihr Verhalten von einer anderen Person erklärt zu bekommen. Ich wusste wie Addie tickte, und dass sie sich umso mehr verschloss je mehr man sie drängte. Aber von Trish -einer Person, die Addie aus anderen Augen sah, sie aber genauso gut kannte, wie ich- zu hören, dass sie eben genau so war, war nochmal etwas ganz anderes.

Ich nickte widerwillig. „Ich weiß."

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