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Beverly
„Hast du deine Medikamente schon bekommen?" Ich drehte meinen Kopf zur Türe. Harson, ein dunkelhäutiger Pfleger, stand im Türrahmen und sah mich an. Ich nickte flüchtig und wandte mich wieder meiner Zeichnung zu.
„Wirklich? Beatrice meinte, nein." Ich sah ihn noch einmal an. Sein weißer Anzug stand in starkem Kontrast zu seiner dunklen Haut. Seine braunen Augen musterten mich eindringlich. So eindringlich, dass ich wusste, dass meine Lügen bei ihm nichts brachten. Mit einem unterdrückten Seufzen schob ich meinen Stuhl zurück und sah Harson abwartend an. Er stellte den kleinen weißen Plastikbecher mit den bunten Pillen vor mir auf den Tisch und ging ins Badezimmer, um mir ein Glas Wasser zu bringen. Dann stellte er sich neben mich, verschränkte die Arme und sah abwechselnd zu mir und den Medikamenten.
„Heute ist mein Geburtstag", versuchte ich es, aber das zog bei Harson genau so wenig, wie meine Lügen. Also fischte ich die erste Tablette aus dem Becher, warf sie mir in den Mund und spülte sie mit Wasser hinunter.
„Warum willst du deine Medikamente nie nehmen?"
Ich warf mir die zweite Pille in den Mund. Es gab vermutlich mehr Patienten, die ihre Medikamente verweigerten als welche, die sie ohne jeden Mucks einnahmen. Die Gründe dafür waren verschieden. Pure Sturheit, die Nebeneffekte der Medikamente, Paranoia... die Liste war lang. Und mein Grund war der, der vermutlich am seltensten. Ich hasste es, mich selbst als Patientin zu bezeichnen, denn ich war absolut nicht verrückt, und dennoch saß ich in diesem Irrenhaus fest.
„Weil ich sie nicht brauche." Ich holte die dritte Tablette heraus und schluckte auch diese hinunter, ohne Harson aus den Augen zu lassen. Er betrachtete den leeren Becher und sah mich noch einen Augenblick lang studierend an, ging dann aber ohne ein Wort zur Türe. Bevor er auf den Flur trat, drehte er sich dann doch noch einmal um.
„Happy Birthday, Beverly", lächelte er und schloss die Türe hinter sich. Mein Blick ruhte noch einige Augenblicke auf der weißen Türe. Dann beugte ich mich wieder über meinen Tisch, nahm meinen Bleistift in die Hand und zeichnete weiter. Es war so ziemlich das Einzige, womit ich mir hier die Zeit vertreiben konnte. Mein Tagesablauf war immer derselbe. Und meine Zeichnungen, waren immer unterschiedlich. Ich zeichnete alles, das mir in den Sinn kam. Die Bäume vor dem Haus, den seltsamen Jungen beim Klavierspielen, die alten Herren, während sie vor ihrem Schachbrett saßen, die Halskette, die Rosemary mir heute geschenkt hatte. Aber heute zeichnete ich jemanden, den ich vor wenigen Stunden das erste Mal gesehen hatte. Dieser Junge, den ich bemerkt hatte, kurz nachdem ich mich von Rosemary für die Kette bedankt hatte. Sein Gesicht wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Und ich wusste, dass ich ohnehin kein Auge zu tun würde, wenn ich ihn nicht zeichnete. Ich sah dem Bleistift dabei zu, wie er über das Papier glitt und ein Gesicht aus meiner Erinnerung entstand. Dunkle Locken, dunkle Augen, schmale Nase, weiche Gesichtszüge.
Ein metallisches Klicken zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich sah automatisch zur Türe. Dann blickte ich auf die Uhr. Es war zehn Uhr. Die Türen aller Zimmer hatten sich abgeschlossen, damit wir nachts nicht auf den Gängen umherschleichen konnten. Es gab viele Patienten, die das tun würden. Ich sah wieder auf meine Zeichnung und bemerkte, dass ich fast fertig war. Ich fügte noch ein paar Schattierungen hinzu, und hielt das Blatt hoch. Es war wohl eine meiner besten Zeichnungen gewesen. Ich beschloss auch das Mädchen zu zeichnen, das neben ihm gestanden hatte. Ihre stechend grünen Augen, waren mir sofort aufgefallen, und ich hatte einfach gewusst, dass ich sie später zeichnen würde. Und genau das tat ich auch. Es wurde ebenfalls eine Bleistiftzeichnung, aber die Augen malte ich genauso smaragdgrün, wie die des Adlers meiner Halskette. Denn genauso grün hatten die Augen des Mädchens geleuchtet. Genauso grün, leuchteten auch Rose'.
Um kurz nach Mitternacht war ich mit beiden Zeichnungen fertig und stand auf, um mich zu strecken. Ich konnte meine Gelenke knacken hören, als ich versuchte die Verspannung zu lösen. Ich ging zu meinem Kleiderschrank und öffnete die Holztür. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und tastete das obere Fach ab, in dem meine Pullover lagen. Unter einem davon, spürte ich meine Zeichenmappe und holte sie hervor. Es war eine braune Ledermappe, in der ich alle meine Zeichnungen aufbewahrte. Ich legte die Zeichnungen des Mädchens und des Jungen hinein, klappte die Mappe wieder zu und verstaute sie wieder in meinem Schrank. Plötzlich kam es mir unfassbar still vor. Draußen auf den Fluren brannte kein Licht mehr, und ich beschloss meine Schreibtischlampe auszuschalten, bevor einer der Pfleger darauf aufmerksam werden würde, dass ich noch wach war. Ich ging ins Badezimmer, schloss die Türe hinter mir und schaltete das Licht ein. Dann schnappte ich mir meine Zahnbürste und Zahnpasta und putzte mir die Zähne. Währenddessen starrte ich unentwegt in mein Spiegelbild. Er war immer noch da. Etwas anderes hatte ich nicht erwartet, nur manchmal war er nicht direkt hinter mir. Manchmal saß er auf meinem Schrank und beobachtete mich, wenn ich schlief. Oder er versteckte sich unter meinem Bett.
Ich spülte meinen Mund aus und drehte mich um. Er stand immer noch da. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und deutete auf die Türe. Er verschwand durch die geschlossene Türe und ich schaltete das Licht aus um ins Bett gehen zu können. Doch als ich die Türe öffnen wollte, klemmte sie. Ich seufzte.
„Das ist nicht lustig", bemerkte ich. Ich war nicht zum Scherzen aufgelegt. „Mach die Türe auf." Er sagte etwas zu mir.
„Warum sollte ich?", fragte ich empört. Sein anfängliches Flüstern wurde lauter. „Das ist gefährlich..." Er ließ nicht locker. „Sind wir dort sicher?" Ich spürte wieder die Kälte, die sich wie ein Mantel um meinen Körper legte und gab mich geschlagen. „Okay. Wenn der richtige Zeitpunkt da ist, tun wir es." Ich versuchte noch einmal meine Türe zu öffnen. Diesmal ging es problemlos. Ich ging zu meinem Bett hinüber und kuschelte mich in die Decke. Ich war nicht verrückt. Das war ich nicht. Bevor ich meine Augen schloss, murmelte ich noch ein leises: „Gute Nacht."
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