19

Aidan

Addie und ich hatten, seit unserer kleinen Auseinandersetzung gestern, nicht mehr miteinander gesprochen. Ich hatte nicht besonders gut geschlafen, was diesmal tatsächlich an Addie gelegen hatte. Na gut, ein bisschen vielleicht auch an Beverly. Aber ich konnte es nicht ausstehen, wenn Addie und ich nicht ehrlich zueinander sein konnten und uns daraufhin stritten. Doch offenbar konnte sie mir ihr Geheimnis eben so wenig anvertrauen, wie ich ihr von Beverly erzählen konnte. Beim Frühstück hatte sie mich konsequent ignoriert und war ohne ein Wort aus dem Haus gegangen, viel früher, als sie das eigentlich hätte tun müssen. Ich war zwar schlecht darin mir Termine jeglicher Art zu merken, aber ich wusste, dass Addie nie vor acht Uhr das Haus verließ. Etwa so wie ich. Für gewöhnlich.

„Bin das nur ich, oder hat Addie heute irgendwie schlechte Laune?", fragte Chase und schaufelte weiter seine Cornflakes. Ich seufzte.

„Ich glaube das ist meine Schuld", gestand ich.

„Und meine." Trev warf mir einen anklagenden Blick zu. „Vielen Dank übrigens, dass du Addie gesagt hast, dass ich dir von ihren Alpträumen erzählt habe. Du bist nicht der Einzige, mit dem sie nicht mehr spricht." Ich konnte mir nur allzu gut ausmalen, wie es sich anfühlen musste, neben einer wütenden Addie schlafen zu müssen, die einen komplett ignorierte. Ihre Wut war beinahe greifbar. Ich fragte mich, wie er überhaupt hatte schlafen können, oder ob er es überhaupt getan hatte.

„Was denn für Alpträume?", nuschelte Chase und sah zwischen mir und Trev hin und her.

„Willst du diese Frage nicht beantworten, Aidan?", fragte Trev zynisch. Ich unterdrückte den Drang mit den Augen zu rollen. Er hatte jedes Recht sauer auf mich zu sein. Ich bereute es schließlich selbst total, dass ich gestern meinen Mund nicht hatte halten können. Ich fasste für Chase kurz zusammen was passiert und mit Addie los war, aber er schien sich nicht allzu große Sorgen um sie zu machen.

„Ihr behandelt sie wirklich wie ein kleines Kind", meinte er kopfschüttelnd. „Wenn sie darüber reden will, wird sie es tun. "

„Weißt du", holte Trev aus. „Ich würde gerne wissen was du nach einer Woche sagst, in der du neben ihr schläfst und jede Nacht aufgeweckt wirst, weil ihre Alpträume sie sogar noch bis in den wachen Zustand verfolgen und sie nicht mehr einschlafen kann. Du kannst mir doch nicht sagen, dass es normal ist jede Nacht Alpträume zu haben."

Wenn das mit ihren Alpträumen so weiter ging, dann war es aus meiner Sicht doch bloß eine Frage der Zeit, bis Addie den Verstand verlieren würde. Ich wusste doch selbst, wie sehr es am eigenen Körper zehren konnte, wenn man nicht in der Lage war ruhig zu schlafen. Und das über einen so langen Zeitraum. Aber wenn ich mir vorstellte, dass Addie dann auch noch Alpträume zu haben schien, die offensichtlich schlimmer waren, als gewöhnliche Alpträume, dann würde es mich nicht wundern wenn sie in ein paar Wochen einen Kaffee nach dem anderen runter kippen würde, um nicht mehr einschlafen zu müssen. Und genau das machte mir Angst. Denn Addie war durchaus verrückt genug, um eine solch bescheuerte Aktion zu starten.

Chase stand auf, stellte die leere Schüssel in die Spüle und warf sich auf die Couch. „Ihr beide seid viel zu überfürsorglich. Sie ist keine zehn. Ich bin sicher, ihre Träume haben nichts zu bedeuten und werden vorbei gehen." Er machte es sich bequem und schaltete den Fernseher an.

Wir waren vielleicht überfürsorglich, aber wir behandelten sie doch nicht wie ein Kind. Irgendwie fand ich sein Verhalten merkwürdig. Klar, jedem anderen Menschen hätte ich diese Reaktion als völlig normal zugeschrieben. Skepsis war immerhin nicht in allen Fällen nötig. Aber bei Chase war diese Gelassenheit ungewöhnlich. Normalerweise war er nicht anders veranlagt als wir, wenn es um Addie ging. Wir hatten Addie schon seit jeher beschützt. Egal was es war, egal was sie bedrückt hatte, sie war immer zu einem von uns gekommen. Und Chase und Addie verband etwas Besonderes.

Seit seine kleine Schwester vor einigen Jahren gestorben war, war Addie zu so etwas wie seiner Ersatzschwester geworden. Ich wusste, dass Chase Addie als seine Schwester und Addie Chase als einen zweiten großen Bruder sah, wobei ich doch schwer hoffte, dass sie mich ihm als Bruder vorzog. Momentan wahrscheinlich eher weniger. Aber Chase hatte sich immer mindestens genauso sehr um Addie gesorgt wie Trev und ich. Und es wunderte mich, dass es jetzt anders war. Die einzige Erklärung die mir dafür einfiel war, dass er irgendetwas wusste, das Trev und ich nicht wussten. Hatte Addie mit Chase gesprochen? Hatte er ihr versichert es uns nicht zu sagen?

Willkommen in der WG der Geheimniskrämer! Und ich hatte immer gedacht, wir hätten voreinander keine Geheimnisse. Offenbar doch. Vielleicht hatte Beverly doch recht damit gehabt, als sie mich so überrascht angesehen hatte, als sie herausgefunden hatte, dass ich keine Geheimnisse hegte. Beverly. Mein Herz begann schneller zu klopfen. Was sie jetzt wohl gerade tat? Vielleicht suchte sie sich ein neues Geheimnis. Sie schien ja der festen Überzeugung zu sein, dass jeder Mensch Geheimnisse hatte und brauchte. Ich fragte mich wie jemand so denken konnte. Was mit einem Menschen passieren musste, dass er so dringend alles vor der Welt geheim halten wollte. Das musste ich sie das nächste Mal unbedingt fragen. Zumindest kam es mir so vor, als würde ich nicht so schnell aus ihr schlau werden. Aber andererseits: Wo es Geheimnisse gibt, gibt es auch Dinge die man aufdecken kann. Ich freute mich schon darauf Beverly wieder zu sehen und die Fragen beantwortet zu bekomme, die noch offen standen. Und das waren so ziemlich alle Fragen, die mir hätten einfallen können. Vielleicht würde ich es ja schaffen ein oder zwei Geheimnisse aus ihr herauszubekommen. Verdient hätte ich es jedenfalls nach allem, was ich schon für dieses Mädchen mitgemacht hatte.

Was versuchte ich mir da eigentlich einzureden? Ich hatte nichts mitgemacht. Es war keine Anstrengung gewesen. Ich hatte es sogar gerne getan.

Wann konnte ich sie wieder sehen? Meine Woche war ziemlich ausgebucht und Modoc lag nicht gerade um die Ecke. Außerdem sollte ich vielleicht meiner Großmutter erzählen, dass ich dort gewesen war und es Beverly gut ging. Aber am Wochenende sollte sich Zeit finden. Ja, ganz bestimmt. Für Beverly würde sich immer Zeit finden. Aber es war erst Mittwoch. Es dauerte noch endlos lange bis Samstag war.

„Aidan!" Trev winkte vor meinem Gesicht herum. Ich sah ihn aufgeschreckt an. Er wirkte jetzt nicht mehr sauer, sondern eher amüsiert. „Jetzt weiß ich was Addie gemeint hat, als sie gesagt hat, dass du die ganze Zeit aus der Realität driftest." Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

„Entschuldige", murmelte ich.

„Wo warst du denn grade?", neckte Chase mich von der Couch aus. „Oder anders: Wo warst du gestern?" Nicht schon wieder... Ich hatte doch schon mehrmals feststellen dürfen, dass ich in Bezug auf Beverly offenbar überhaupt nicht lügen konnte.

„Nirgends", gab ich genervt zurück.

Nirgends, aha", grinste Chase vielsagend. Dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder dem Fernseher zu. „Ich will nur hoffen, die Braut, für die du mich gestern versetzt hast, war es auch wert." Braut? Warum bezeichneten Beverly alle als Braut? Hatte er das von Trish? Hatte sie etwas gesagt? Nein, unwahrscheinlich. Trish konnte zwar hinterlistig sein und mich bis aufs Blut nerven, aber sie hätte mich nie verraten. Das passte nicht zu ihr. Hoffentlich stimmte, was ich mir einzureden versuchte.

„Wie kommst du darauf, dass ich bei einem Mädchen war?"

Chase sah mich wieder an. „Naja, ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen warum du sonst gestern das Spiel von deinem besten Freund verpasst haben solltest. Übrigens, wir haben gewonnen, nur falls es dich interessiert." Er schaltete weiter durch die Kanäle und blieb bei der Wettervorhersage hängen.

„Und?", fragte Trev neugierig. „Hat Chase recht?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Möglich." Bevor ich mir jedoch die amüsierten Blicke meiner beiden besten Freunde weiter ansehen musste, verkroch ich mich wieder in mein Zimmer. Ich musste bald wieder los an die Uni.

Und einmal mehr fragte ich mich, wie Trev das hinbekommen wollte. Die Uni auf die ich ging, lag mit viel Glück zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Trev hatte vor, die Uni in Stanford zu besuchen. Das waren fast drei Stunden von hier. Er und Addie hatten, vor nicht allzu langer Zeit, mit dem Gedanken gespielt näher nach Stanford zu ziehen, diese Idee aber recht schnell wieder verworfen. Hier hatten sie ihre Freunde, Familie und ihre vertraute Umgebung. Außerdem würde Trev es wahrscheinlich nicht aushalten zu wissen, dass Addie jeden Tag mit dem Auto zur Uni fahren musste, und zwar wesentlich weiter, als sie es hier tat. Denn wie bereits erwähnt, war meine Schwester nicht die geübteste Autofahrerin.

Aber um ehrlich zu sein, war ich auch froh, dass die beiden ihren Plan nicht in die Tat umgesetzt hatten. Addie und ich wohnten seit über achtzehn Jahren zusammen. Natürlich würde es früher oder später passieren, dass sie oder ich auszogen, aber es würde wahrscheinlich eine ganze Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt haben würde, meine kleine Schwester nicht mehr täglich zu sehen.

Ich wollte gerade meine Unisachen zusammensuchen, als mein Handy aufleuchtete. Ich hatte eine Nachricht bekommen, und als ich sie las schlug ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn. War ich wirklich so fixiert auf Beverly? Ich hatte gestern nicht nur Chase Spiel verpasst, nein. Ich hatte auch noch völlig vergessen, dass ich das Treffen mit einem meiner Nachhilfeschüler von Montag auf gestern verschoben hatte.

Langsam machte es mir fast Angst, dass ich für Beverly alles hatte stehen und liegen lassen, und andere von meiner kleinen Weltreise betroffen waren. Ich antwortete mit einer Entschuldigung und dem Vorschlag uns heute zu treffen. Diesmal wirklich. Zum Glück klappe es auch und wir trafen und am Nachmittag.

Als ich am Abend wieder nach Hause kam, schien es beinahe so, als hätte sich keiner vom Fleck bewegt. Chase lag schon wieder, (oder noch immer?) auf der Couch und Trev saß am Tisch. Vor ihm lagen einige Zettel, die er durchstöberte.

Ich fragte mich, ob Addie schon hier war, denn im Wohnzimmer und in der Küche war sie nicht. Natürlich hätte es auch gut sein können, dass sie sich in ihrem Zimmer versteckte. Dann würde es wenigstens einen Sinn ergeben, warum Trev hier am Küchentisch saß, und nicht in seinem und Addies Zimmer. Ich zog Schuhe und Jacke aus, und setzte mich dann gegenüber von Trev an den Tisch.

„Ist Addie noch nicht wieder hier?" Trev schüttelte ohne aufzusehen den Kopf, aber wie bestellt kam Addie zur Türe herein und stellte ihre Tasche ab. Sie sah weder Trev, noch mich an. Und sie sagte auch keinen Ton. Chase sah mich mit einem verhöhnenden Blick an, und drehte sich dann zu Addie, die sich gerade ebenfalls ihre Schuhe und den Mantel auszog.

„Hey, Addie", sagte er.

„Hey, Chase." Addie schenkte ihm ein freundliches Begrüßungslächeln. Chase drehte sich wieder zu mir und sah mich fast triumphierend an, bevor er sich wieder dem Fernseher zuwandte. Ich rollte mit den Augen und tauschte mit Trev bedeutende Blicke aus.

Meiner sagte: „Ihr Ernst?"

Seiner antwortete: „Lass sie." Aber ich hatte nicht vor das so auf mir sitzen zu lassen. Addie kam in die Küche und holte eine Packung Ben&Jerry's heraus. Das aß sie für gewöhnlich nur, wenn sie irgendetwas nicht erzählen wollte, und um dem Drang nicht nachzugeben, fraß sie es buchstäblich in sich hinein. Unwillentlich fragte ich mich, was dieses Etwas war, das sie uns einfach nicht erzählen wollte. So schlimm konnte es doch gar nicht sein. Waren es ihre Träume? War es eine Sache, die diese Träume verursachte? War etwas Schlimmes passiert?

„Addie, langsam wird es lächerlich", sagte ich, schob meinen Stuhl zurück, stand auf und stellte mich neben sie. Ich musste feststellen, dass es mir wesentlich weniger ausgemacht hätte, wenn sie angefangen hätte, mich zu beschimpfen, oder mit mir zu streiten und den Streit zu gewinnen, als dass sie mich ignorierte. Und das wusste sie genau. Stille Wut, war die schlimmste Wut. „Du hast uns lange genug ignoriert."

Sie fuhr so schnell zu mir herum, dass ihr ihre braunen Locken halb vors Gesicht fielen, und Addie sie wieder hinter ihre Schultern streifen musste. „Das lass mal meine Sorge sein, Brüderchen", zischte sie. Sie schloss das Gefrierfach, nahm sich einen Löffel und machte sich mit dem Eis und einem letzten vernichtenden Blick auf den Weg in ihr Zimmer.

„Komm schon", stöhnte ich und sah ihr nach. „Meinetwegen sei sauer auf mich, aber hör wenigstens auf, Trev mit deinem Schweigen zu bestrafen." Sie drehte sich im Gehen noch einmal um.

„Auch das ist nicht deine Entscheidung."

Nachdem Addie in ihrem Zimmer verschwunden war, drehte ich mich zu Trev und zuckte mit den Schultern. „Hab's versucht."

Trev winkte ab. „Vergiss es. Sie kriegt sich bald wieder ein."

Aber irgendwie glaubte ich das nicht so ganz. Addie war normalerweise nicht so, wie sie sich in den letzten Tagen verhalten hatte. Klar, sie war manchmal launisch wenn sie Stress an der Uni hatte, oder von Mom die Rede war, oder sie wieder mit Trev, wegen ihrer Arbeit im Myway, aneinander geriet. Sie war auch oft unheimlich, wenn sie aus Spaß Dinge prophezeite, die so dann tatsächlich stattfanden, sie aber unmöglich hatte wissen können. Aber in den letzten Tagen war sie einfach anders gewesen. Und das lag definitiv nicht nur daran, dass Trev mir von ihren Alpträumen erzählt, und wir gestern Abend einen kleinen Streit gehabt hatten. Aber solange Addie keinem von uns erzählen wollte was los war, konnten wir ihr alle nicht helfen. 

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