17
Aidan
Selbst als ich wieder in meinem Auto saß klopfte mein Herz bis zum Hals und meine Hände zitterten. Ich konnte nicht glauben, dass ich Beverly wirklich wieder gesehen hatte. Ich hatte mit ihr gesprochen. Ich hatte ihre engelsgleiche Stimme hören dürfen. Und was am Wichtigsten war: Sie hatte nichts dagegen, wenn ich noch einmal vorbeikommen würde. Mir war zwar immer noch nicht ganz klar, wie ich den Mut hatte aufbringen können, sie das überhaupt zu fragen, aber das kümmerte mich auch gar nicht. Die Hauptsache war, dass ich jetzt keine Ausrede und keinen Vorwand mehr brauchte, wenn ich sie sehen wollte. In Gedanken versuchte ich unser Gespräch zu rekonstruieren, wobei mir auffiel, dass ich mich gar nicht so schlecht angestellt hatte, wie vermutet. Ich hatte nicht herumgestottert, meine Sätze waren grammatikalisch korrekt formuliert gewesen und meine Stimme hatte nicht vor Nervosität getrieft. Lediglich bei der Frage, ob ich wiederkommen könne, hatte ich ein wenig die Kontrolle über mein Sprachvermögen verloren. Ansonsten waren meine Fragen und Antworten tatsächlich meine eigenen gewesen, und nicht etwa die eines Paralleluniversum-Aidans. Ich hatte Beverly nur nicht die ganze Zeit ansehen können. Dafür war sie einfach zu schön gewesen. Ich hatte immer mal wieder eine kleine Pause gebraucht und aus dem Fenster sehen müssen, um Beverly nicht zu sehr anzustarren. Trotzdem fragte ich mich, ob ich nicht ein bisschen zu weit gegangen war sie zu fragen, wie es sich anfühlte in Modoc eingesperrt zu sein, wie sie es bezeichnet hatte. Ich hätte vielleicht auch nicht fragen sollen, was sich in der Mappe befand. Aber Beverly wirkte einfach nicht wie ein Mensch, mit dem man über oberflächliche Themen hätte reden können. Nicht einmal für fünf Minuten. Ich hatte auch nicht erwartet, dass Beverly so... ruhig war. So stoisch. Ein bisschen so wie ich. Als ich an ihr Lächeln dachte, das sie mir bei unserem Abschied geschenkt hatte, spürte ich buchstäblich Schmetterlinge in meinem Bauch, und so etwas Kitschiges war mir noch nie passiert. Ich legte den Kopf zurück und starrte an die Autodecke.
„Was machst du nur mit mir, Beverly?", murmelte ich. Alles an ihr wirkte so unfassbar anziehend auf mich und ich wusste einfach nicht wieso. Hätte meine Schwester nicht angerufen, wäre ich noch länger bei Beverly geblieben. Vielleicht sogar länger, als der Regen angedauert hätte. Aber jetzt hatte ich die Möglichkeit Beverly immer zu besuchen. Wann immer ich Zeit hatte vierzehn Stunden zu fahren.
Ich wartete noch ein paar Minuten, bis meine Hände nicht mehr zitterten und sich meine Beine nicht mehr wie Pudding anfühlten, bevor ich es wagte das Auto zu starten und mich auf den Weg nach Hause zu machen. Selbst als ich wieder auf der Straße war musste ich langsamer fahren als erlaubt, weil es so stark regnete. Und ich wollte um ehrlich zu sein nicht, dass Addies Sorgen einen Grund bekamen.
Ich fragte mich, ob das was ich über Modoc gelesen hatte nur Gerüchte gewesen waren? Skurril waren diese ganzen Artikel durchaus gewesen. Doch Trish hatte ebenfalls gemeint, dass Modoc ein unheimlicher Ort sei. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie gut sie sich mit Modoc auskannte, aber sie war allemal vertrauenswürdiger, als eine Internetseite, in der überwiegend die Wörter Verschwinden und Menschenexperimente vorkamen. Modoc hatte jedoch nur halb so gruselig ausgesehen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es schien viel eher wie ein mittelalterliches, gemütliches Schloss, das ein wenig modernisiert worden war. Und Beverly hatte ganz gesund ausgesehen. Körperlich und geistig, was mich einmal mehr zu der Frage brachte, wie sie überhaupt in eine psychiatrische Klinik gekommen war. Das musste doch einen schwerwiegenden Grund haben. Auf mich wirkte Beverly jedenfalls normal. Wahrscheinlich normaler als ich selbst, weil ich stark davon ausging, dass sie keine vierzehn Stunden Fahrt für eine ihr unbekannte Person, auf sich nehmen würde. Kein normaler Mensch würde das tun. Aber wenigstens konnte ich jetzt behaupten, dass ich Beverly kannte. Ich wusste zwar nicht viel über sie, aber ich kannte sie.
Während der ganzen Fahrt nach Hause versuchte ich ein Geheimnis aus meinem Gedächtnis hervorzukramen. Jeder Mensch hatte doch Geheimnisse, oder? Das war doch nur normal. Warum hatte ich dann keines? War mein Leben so langweilig?
Nein, du bist einfach nicht normal, Aidan. Es gab vielleicht ein paar unschöne Momente in meinem Leben. Davon wären mir viele eingefallen. Unsagbar viele. Aber keine Geheimnisse. Ab wann ging ein Geheimnis denn bei Beverly als Geheimnis durch? Musste es etwas Schlimmes sein? Musste es etwas sein, das nur ich alleine wusste? Musste mir dieses Geheimnis wichtig sein? Musste ich bereit sein zu sterben, um dieses Geheimnis zu schützen?
Beverly ist mein Geheimnis, schoss es mir durch den Kopf. Keiner wusste von ihr. Auch Trish nicht, und obwohl ich versuchte mir einzureden, dass es nicht so war, ich wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit für sie gestorben. Ich schüttelte abermals den Kopf. Wenn ich das über Addie gesagt hätte, okay. Sie war meine Schwester und ich musste auf sie aufpassen und sie beschützen. Aber Beverly? Himmel, ich hatte im Grunde nichts mit ihr zu tun! Was wusste ich schon über sie? Bedauerlicherweise gar nichts. Mir fiel auf, dass ich nur über sie geredet hatte, als ich in Modoc gewesen war. Ich wollte so viel von ihr wissen, wie möglich. Hoffentlich würde ihr das nicht irgendwann auf die Nerven gehen. Sie faszinierte mich nun einmal mehr als alles andere auf dieser Welt. Wenn es ein Buch über Beverly gegeben hätte, hätte ich es gelesen. Ich hätte es verschlungen. Ich hätte es auf einmal gelesen, an einem Tag und in einer Nacht, ohne es auch nur ein einziges Mal wegzulegen. Ich hätte es bestimmt wieder und wieder gelesen, bis ich jeden Satz, ja jedes Wort, in meinen Kopf gebrannt hätte.
Beverly war auf jeden Fall ein schönes Geheimnis. Das schönste, das ich je gehabt hatte. Die meisten Geheimnisse waren ja eher schrecklich, weshalb es ja auch Geheimnisse waren, weil keiner davon erfahren sollte. Trotzdem entschied ich, dass ab jetzt Beverly mein Geheimnis sein würde. Die Frage war nur, wie lange noch? Addie und Trish würden doch so lange nerven, bis ich ihnen die Wahrheit sagte. Und aus unerfindlichen Gründen war es fast unmöglich die beiden anzulügen. Dabei war ich eigentlich kein schlechter Lügner. Ich war zwar nicht so gut wie Addie, aber es gab wirklich Leute bei denen man wusste, dass sie logen, noch bevor sie überhaupt den Mund aufmachten. Vielleicht wusste Addie auch nur deshalb immer wenn ich log, weil sie eben selbst so eine unverschämt gute Lügnerin war. Ich sollte mich nicht darüber beschweren, immerhin hatten mir ihre Lügen in meiner Jugend mehr als einmal den Hintern gerettet. Wenn ich mal wieder meine Eltern hatte belügen wollen, oder müssen, hatte Addie jedes Mal ohne zu zögern mitgespielt. Wir hatten uns nicht einmal vorher absprechen müssen. Sobald sie gemerkt hatte, dass ich am Lügen war, hatte sie mir geholfen. Und die Leute kauften ihre Lügen schon aus Prinzip. Sie war immerhin Addie und würde nie lügen. Die einzige Bedingung dafür, dass sie mir immer geholfen hatte, war gewesen, dass ich ihr danach hatte erzählen müssen was los war, weshalb ich auch keine Geheimnisse hatte. Höchstens zusammen mit Addie. Gemeinsam waren wir das perfekte Lügen-Duo. Wir hatten zwar schon lange keinem eine große improvisierte Lüge auftischen müssen, aber irgendwie wünschte ich mir, es wäre bald wieder notwendig. Irgendwie machte es Spaß. Addie nannte es nicht einmal Lügen.
„Wir formen nur die Wahrheit", hatte sie vor langem einmal geschmunzelt. „Wir formen und schmücken sie aus, sodass wir sie zu unserem Vorteil nützen können." Addie konnte gut mit Worten spielen und alles so umschreiben, wie es ihr gerade passte. Und genau das liebte und hasste ich gleichzeitig an ihr.
Der Regen ließ langsam nach und ich hätte eigentlich wieder schneller fahren können, wenn nicht der abendliche Verkehr angefangen hätte. Und weil ich keine Lust hatte im Stau zu stehen, fuhr ich einen Umweg über kleinere Seitenstraßen.
Ich zweifelte stark an, dass ich heute Nacht auch nur ein Auge zu tun würde. Ich konnte mich ja kaum auf das Fahren konzentrieren. Ich war nicht einmal in Beverlys Nähe, aber mein Herz klopfte trotzdem schneller, als es hätte sollen. War das auf Dauer ungesund? Zählte ein immer rasendes Herz zu Dauerstress?
Es war bereits dunkel, als ich mein Auto vor unserem Haus parkte. Ich ging in den zweiten Stock, sperrte unsere Wohnungstüre auf und hatte augenblicklich Addie an mir kleben. Sie drückte mich so fest an sich, dass ich kurz in Frage stellte, ob ich wirklich stärker war als sie. Ich hätte mich mies gefühlt, wenn ich sie nicht zurückumarmt hätte.
„Wo bist du gewesen?", fragte sie und ließ mich wieder los. Ich zog mir Schuhe und Jacke aus, und warf meine Schlüssel auf den Küchentisch. Trev und Chase waren nirgends zu sehen.
„Hör auf, mich zu behandeln als wäre ich dreizehn", sagte ich müde, holte mir ein Bier aus den Kühlschrank und wollte mich in mein Zimmer verziehen, aber Addie folgte mir.
„Du warst nicht an der Uni", bemerkte sie. Ich zuckte mit den Schultern. „Und du hast Chase' Spiel verpasst."
„Verdammt!", entfuhr es mir, als ich mich daran erinnerte, dass er heute ja ein Match gehabt hatte. Ich hatte noch kein einziges Spiel verpasst. Daran hätte ich wirklich denken müssen. Trev und er waren wahrscheinlich mit den anderen was Trinken, wie nach jedem Spiel. Entweder tranken sie, weil sie gewonnen hatten, oder weil sie verloren hatten. Es machte keinen Unterschied, wobei Trev noch nie sturzbesoffen nach Hause gekommen war, vermutlich auch deshalb, weil Addie ihn aus dem Zimmer geworfen, und er die Nacht auf der Couch hätte verbringen dürfen. Addie war nicht gegen Alkohol, sonst würde sie wohl kaum in einer Bar arbeiten. Aber sie hasste es über alles, wenn Menschen sich so sehr betranken, dass sie nicht mehr alleine stehen konnten. Deshalb hatten wir auch schon die eine oder andere Diskussion darüber gehabt. Aber Trev respektierte das, wobei er seit er Jura studieren wollte, ohnehin nur noch sehr selten trank.
„Wie ist das Spiel ausgegangen?", fragte ich. Addie verschränkte ihre Arme vor der Brust.
„Das würdest du wissen, wenn du da gewesen wärst." Ich warf ihr einen genervten Blick zu, aber sie konterte indem sie eine Augenbraue hochzog. Ich seufzte tief und stellte mein Bier weg. Ich verstand ihre Aufregung nicht. Mir ging es gut. Ich war noch am Leben.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch in der Hoffnung, dass Addie mich in Ruhe lassen würde, wenn sie dachte, dass ich lernen wollte. Aber sie blieb hartnäckig neben mir stehen und sah auf mich herab. Also gab ich mich geschlagen und sah sie an.
„Warum machst du dir solche Sorgen? Mir ist nichts passiert."
„Warum ich mir Sorgen mache?", fragte sie ungläubig. Ich drehte mich auf meinem Sessel zu ihr und sah sie abwartend an. „Vielleicht weil du aus unerfindlichen Gründen plötzlich Zeit mit unserer Großmutter verbringen willst. Weil du seit Tagen so aussiehst, als würdest du in einer anderen Welt leben und immer mal wieder komplett abdriften. Weil du heute nicht an der Uni warst und nicht bei dem Basketballspiel, obwohl du dich immer an die Uni schleppst und noch kein Spiel verpasst hast. Du bist unruhig, leicht reizbar und schläfst scheiße, das weiß ich." Sie hatte schon wieder das Wort Scheiße verwendet und wollte mir weismachen, dass mit mir etwas nicht stimmte? Addies Blicke jedoch sprachen Bände und mir dämmerte langsam worauf sie hinaus wollte. Und das gefiel mir absolut gar nicht.
„Was willst du damit andeuten?", fragte ich und sah Addie warnend an. Wenn sie dachte, womit ich rechnete das sie dachte, konnte ich nicht versprechen, dass ich nicht gleich einen riesen Streit anfangen würde. „Sag schon." Addie zögerte und sah mich zweifelnd an. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich ihr immer verziehen hatte und nie böse auf sie gewesen war, einzig und allein wegen ihrer grünen Augen. Aber ganz bestimmt nicht heute. Sie seufzte.
„Bist du wieder auf Drogen?"
„Nein!", knurrte ich sofort mit zusammengebissenen Zähnen. Wenn ich etwas hasste, dann waren es solche Unterstellungen. Ich stand wieder auf und ging ins Wohnzimmer. Ich hatte den Drang mich zu bewegen. Wäre ich sitzen geblieben, hätte ich vielleicht wirklich einen Streit begonnen.
Ich hatte seit zwei Jahren komplett die Finger von Drogen gelassen und hatte auch nicht vor, wieder damit anzufangen. Addie war der einzige Mensch der wusste, dass ich eine Zeit lang abhängig gewesen war. Sie hatte es selbst mitbekommen und ich war mir nicht sicher, ob ich mich ohne sie wieder unter Kontrolle gebracht hätte. Alleine wäre ich da wahrscheinlich nicht mehr raus gekommen. Zugegebenermaßen hatte ich auch nur damit aufgehört, weil Addie auf einer Party etwas Schreckliches passiert war. Und es wäre noch viel schrecklicher gewesen, wenn ich zu dem Zeitpunkt high gewesen wäre, und ihr nicht hätte helfen können. Das war mir damals klar geworden, weshalb ich recht bald mit den Drogen aufgehört hatte. Ich war zu meinem heißgeliebten Kaffee übergegangen, wobei ich heute wesentlich weniger trank, als zu der Zeit in der ich mit den Drogen aufgehört hatte.
„Ich bin nicht high. Ich bin nicht stoned. Ich bin absolut und zu einhundert Prozent clean, okay?" Addie war ebenfalls ins Wohnzimmer gekommen. Sie stand am einen Ende des Tisches und ich am anderen.
„Was ist es dann?", fragte sie und sah mich eindringlich an. Aber es war mein Geheimnis.
„Es geht dich nichts an", wiederholte ich zum zigsten Mal. „Mach dir lieber Sorgen, um dich selbst." Im selben Moment noch bereute ich zutiefst was ich gesagt hatte. Addie sah mich misstrauisch an.
„Was willst du damit sagen?" Ich fixierte irgendeinen Punkt hinter Addie, um sie nicht ansehen zu müssen. Warum konnte ich nicht meine Klappe halten? Das schaffte ich doch sonst auch.
„Ich weiß von deinen Alpträumen", sagte ich schließlich.
„Natürlich." Addie lachte verächtlich auf. „Weil Trev seine Klappe nicht halten kann."
„Halte Trev da raus."
„Wieso sollte ich? Wer hätte dir sonst davon erzählen sollen, wenn nicht er?", fauchte sie wütend. Ich konnte nachvollziehen, warum sie jetzt sauer war, aber Trev hatte mir doch auch nur davon erzählt, weil er sich Sorgen um sie machte, und sie keinen Ton gesagt hatte.
„Addie, was ist los?" Ich versuchte meine Stimme ein bisschen sanfter und einfühlender klingen zu lassen, bezweifelte aber, dass das funktioniert hatte. Und selbst wenn, Addie war gerade viel zu geladen, als dass sie darauf reagiert hätte.
„Das könnte dir so passen", sagte sie und warf mir einen bösen Blick zu. „Mir nicht sagen, was mit dir los ist, von mir aber erwarten, dass ich es tue?" Sie schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging in ihr Zimmer.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top