11

Aidan

„Hey. Wie war dein Tag?", fragte Addie mich, als ich gegen sieben, ziemlich müde, nach Hause kam. Sie saß mit ausgestreckten Beinen auf der Couch und hatte ihren Laptop auf dem Schoß. Ihr Blick war fest auf den Bildschirm gerichtet. Sie hatte nicht einmal aufgesehen, als ich zur Türe hereingekommen war. Ich fragte mich ob sie gewusst hatte, dass ich es gewesen war, oder ob sie dasselbe auch Chase und Trev gefragt hätte.

Ich zog meine Jacke aus und beobachtete meine Schwester. Sie schien wirklich vertieft zu sein, in was immer sie auch tat. Ich hatte in den zwei freien Stunden die ich gehabt hatte, wie erwartet an sie denken müssen. Ich musste einfach mit ihr darüber reden was Trev mir heute Morgen erzählt hatte. Sonst würde ich heute Nacht kein Auge zu tun können. Diesmal nicht wegen Beverly, sondern weil ich mich fragte, ob Addie in diesem Moment einen Alptraum hatte, oder nicht schlafen konnte. Aber ich musste sie irgendwie aus ihrem Arbeitsmodus herausbekommen. Ich ging davon aus, dass sie eine Hausarbeit schrieb, denn ihre Finger berührten ohne Unterlass die Tasten.

„Ich sage nichts ohne einen Anwalt." Jetzt sah sie mich an. In ihrem Blick lag Belustigung. Ich hatte gewusst, dass sie darauf anspringen würde. Sie wandte sich zwar wieder ihrem Laptop zu, aber sie schien sich trotzdem mehr auf mich zu konzentrieren.

„Da hast du leider Pech. Trev ist noch nicht zu Hause", sagte sie gespielt bedauernd. Ich ging in die Küche und holte mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.

„Erzählst du mir jetzt wie dein Tag wirklich war, oder muss ich mir weitere bescheuerte Antworten anhören?" Ich drehte mich zu ihr.

„Naja, lass es mich so zusammenfassen." Ich feilte an der richtigen Formulierung, um es knapp und prägnant zu sagen, während Addie mich abwartend ansah. „Selbe Scheiße, anderer Tag."

Addie schüttelte lächelnd den Kopf. „Du hast Probleme, mein Freund." Das wäre die perfekte Überleitung zu ihren Alpträumen gewesen. Aber Addie tippte bereits weiter auf ihrem Laptop herum und ich hatte keine Ahnung wie ich mit dem Thema anfangen sollte, ohne dass ich Trev verriet.

Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass sie müde und kaputt aussehen würde, und ich sie darauf hätte ansprechen können. Aber sie sah ganz normal aus, so wie immer, und wenn Trev mir heute Morgen nicht von Addies Alpträumen erzählt hätte, und ich ihm nicht so ziemlich alles glauben würde, was er sagte, wäre mir nicht aufgefallen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Ich würde ja gerne wissen ob sie unter ihrem Make-up so kaputt aussah, wie ich es mir vorstellte.

Ich hätte ihr nicht einmal sagen können, dass sie sich anders verhielt als sonst, denn das tat sie nicht. Sie war wesentlich besser darin ihre Probleme zu verstecken als ich. Schon als wir Kinder gewesen waren, hatte ich nie gewusst was wirklich in ihr vorgegangen war, wenn sie es hatte verstecken wollen. Sie wäre bestimmt eine gute Schauspielerin geworden.

„Und wie geht's dir so?", fragte ich daher. Wahrscheinlich beinahe verdächtig, weil ich sie das eigentlich nie fragte. Den Großteil der Zeit wusste ich immerhin wie es ihr ging. Hatte ich zumindest gedacht.

„Wie es einem nach so einer Frage eben geht", gab sie zurück, ohne von ihrem Laptop aufzusehen, aber ein Schmunzeln umspielte ihre Lippen.

„Ist heute Bescheuerte-Antworten Tag?"

„Du hast angefangen." Sie klang wie ein kleines fünfjähriges Kind.

„Sehr erwachsen!"

„Werd' nicht frech", sagte sie warnend und sah mich über den Rand ihres Bildschirms an. „Sonst gehst du gleich auf dein Zimmer."

Amüsiert stieß ich den Atem aus und schüttelte den Kopf. Sie wusste genau wie sie von Problemen ablenken musste. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir ganz gezielt jede unauffällige Möglichkeit, sie zu fragen wie es ihr ging, nahm. Ob sie ahnte, dass ich von ihren Alpträumen wusste? Addie konnte nämlich manchmal ganz schön unheimlich sein. Sie wusste manchmal Dinge über mich, die ich ihr nie erzählt hatte. Oder sie wusste Dinge über mich, bevor ich sie wusste.

Manchmal schlossen wir harmlose Wetten über belanglose Dinge ab. Ob es regnen würde, ob Mom schreiben würde, dass sie sich Sorgen machte, ob die Milch im Supermarkt ausverkauft war, ob Chase beim Spielen einen Korb schießen würde. Und jedes Mal gewann sie die Wette. Manchmal schien sie mir wie eine Hellseherin.

Das unverwechselbare Geräusch einer Türe die aufgesperrt wurde, ließ mich und Addie zur Türe sehen. Trev kam herein und sah mindestens so fertig aus, wie ich mich fühlte. Addie grinste mich an.

„Da hast du deinen Anwalt. Also?" Während ich nur die Augen verdrehen konnte, sah Trev mich mehr als skeptisch an.

„Was hast du angestellt?"

„Meiner Schwester eine Aussage zu meinem heutigen Tag verweigert."

Addie stellte ihren Laptop auf den Couchtisch und stand auf.

„Interessant", bemerkte ich, als die beiden sich küssten und nicht wieder voneinander lösten. Aber jetzt taten sie es doch uns sahen mich fragend an.

„Was ist interessant?", fragte Addie.

„Dass ihr es schafft mich ohne Worte aus dem Wohnzimmer zu vertreiben." Ich nahm meinen Rucksack, den ich neben mich auf den Boden gestellt hatte und verschwand in meinem Zimmer. Ich hatte kein Problem damit, dass die beiden zusammen waren. Aber ich musste ihnen trotzdem nicht unbedingt dabei zusehen, wie sie versuchen nicht gleich in den anderen hineinzukriechen. Außerdem musste ich ohnehin lernen. Nicht, dass ich mich tierisch darauf gefreut hätte, aber ich hatte noch einen ganzen Stapel an Notizen, die nur so darauf warteten durchgearbeitet zu werden. Seufzend setzte ich mich an meinen Schreibtisch.

Um kurz nach elf war mein Kopf so voll mit Lernstoff, dass ich mich nicht einmal mehr erinnern konnte, was ich alles gelernt hatte. Ich legte meine Notizen auf einen Stapel und schob diesen dann von mir weg. Müde fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht. Ich hatte vier Stunden durchgehend gelernt. Und das auch nur, damit ich weder an Addie noch an Beverly denken musste.

Als mein Magen knurrte, wurde mir bewusst, dass ich heute noch nicht sehr viel gegessen hatte. Und ich wusste, dass ich ohnehin nicht schlafen können würde, wenn mein Magen leer war. Also hievte ich mich aus meinem Stuhl und machte mich auf den Weg in die Küche. Im Wohnzimmer brannte immer noch Licht. Die kleine Tischlampe beleuchtete den Raum und Addie saß wieder auf der Couch, mit ihrem Laptop auf dem Schoß und tippte darauf herum.

„Solltest du nicht schlafen?", fragte sie, ohne aufzusehen. Ich? Ich sollte schlafen? Den Kommentar der mir dazu auf der Zunge lag, schluckte ich runter. Stattdessen ging ich in die Küche.

„Ja, Mom." Ich musste Addie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie mit den Augen rollte.

„Warum schläfst du nicht?", fragte ich und machte mich in den diversen Schränken auf die Suche nach etwas Essbarem. Schade nur, dass das Einzige das ich finden konnte, Cornflakes waren. „Was für ein Haushalt", murmelte ich.

„Ich muss das noch fertig schreiben", meinte Addie ausweichend. Ich hatte den starken Verdacht, dass sie nur nicht schlafen ging, weil sie Angst vor einem weiteren Alptraum hatte. Gott, ich musste wirklich mit ihr reden. Von ihr hören, wie schlimm es wirklich war. Wie es ihr damit wirklich ging.

Ich ging in unser Vorzimmer, wenn man es denn so nennen konnte, und nahm meine Jacke vom Haken.

„Was machst du?", fragte Addie verwirrt, als ich mir die Schuhe anzog.

„Ich hol mir was zu Essen. Sonst sterbe ich." Fünf Minuten von uns entfernt gab es einen Subway. Für einen kleinen Mitternachtssnak war das schon okay.

„Was dagegen wenn ich mitkomme?"

„Natürlich. Ich hab dich den ganzen Tag nicht gesehen, willst du mir das jetzt kaputtmachen?", entgegnete ich. Addie schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das verletzt mich, Brüderchen." Sie klappte ihren Laptop zu, legte ihn auf die Couch uns stand auf.

„Ist Chase schon hier?", fragte ich, während Addie sich Schuhe und Jacke anzog. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er nach Hause gekommen wäre. Und für gewöhnlich kam er an einem Montag auch nicht vor mir von seinem Training. Addie schüttelte den Kopf.

„Nein. Aber er hat Trev geschrieben, dass wir nicht auf ihn warten sollen." Das hieß dann wohl, dass er heute Nacht in einem anderen Bett schlafen würde. Ich fragte mich, wie um alles in der Welt er mit so einem Leben glücklich sein konnte.

Addie und ich verließen die Wohnung, gingen die Stiegen durch das Treppenhaus hinunter und traten auf die Straße. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Wind war noch genauso stark wie in der Früh. Es waren keine fahrenden Autos mehr auf der Straße. Wir sprachen nicht viel, während wir die Straße entlang gingen. Aber plötzlich blieb Addie stehen und hielt mich am Arm fest. Ich drehte mich zu ihr. Sie sah die Straße hinunter und ich folgte ihrem Blick. Doch da war nichts. Nur Straße, die von Straßenlaternen erleuchtet wurde. Und der Rest Schnee der noch auf dem Boden lag.

„Alles okay?", fragte ich sie. Sie nahm ihren Blick nicht von, was auch immer.

„Ähm...", begann sie langsam. Ich versuchte den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu deuten, aber es gelang mir nicht. Mein Blick fiel auf ihre Hand, mit der sie mich nicht festhielt. Sie zupfte an ihrem Jackenärmel herum, so als wäre sie nervös.

„Addie, was ist los?"

„Lass uns die Straßenseite wechseln", sagte sie schnell. Ich sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, aber auf der Straße war weit und breit nichts zu sehen, weshalb sie die Seite hätte wechseln wollen. Und der Subway lag auch auf unserer Straßenseite, nicht auf der anderen.

„Sonst geht's dir gut, oder?", fragte ich verwirrt, aber Addie schob mich bereits auf die andere Straßenseite und hatte offensichtlich keine große Lust, ihr Verhalten zu erklären. Ich fragte mich unweigerlich, ob es mit ihren Träumen zu tun hatte. Addie hatte ihr Tempo beschleunigt und ging schneller als ich. „Addie." Sie reagierte nicht. Allerdings hatte ich keine Lust mehr auf ihre Spielchen. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und brachte sie energisch zum Stehen. „Addie!"

In diesem Moment nahm ich eine rasante Bewegung auf der anderen Straßenseite wahr, gefolgt von dem Geräusch eines zerspringenden Gegenstandes. Schnell drehte ich meinen Kopf, doch es war nichts mehr zu sehen oder zu hören, bis auf das Pfeifen des Windes. Ich ließ Addie los und ging vorsichtig wieder auf die andere Straßenseite. Im Schnee entdeckte ich zersplitterte Überreste eines Blumentopfes, samt Erde und Pflanze.

Mein Herz begann schneller zu klopfen, als mir klar wurde, dass Addie und ich leicht von diesem Topf hätten getroffen werden können, hätten wir nicht die Straßenseite gewechselt. Ich blickte nach oben. Das Haus war sehr hoch, und hatte nur im aller obersten Stock einen Balkon, auf dem noch andere Blumentöpfe standen. Addie und ich hätten sterben können, wenn uns dieses Ding aus der Höhe auf den Kopf gefallen wäre. Ich sah zu meiner Schwester. Sie stand immer noch auf der anderen Straßenseite und sah ängstlich zu mir.

„Aidan, komm zurück. Bitte!", flehte sie und zog fröstelnd die Schultern hoch. Ich warf noch einen kurzen Blick auf den Balkon und dann auf den Blumentopf, bevor ich mich umdrehte und zurück zu Addie ging. Sie drehte sich sofort wieder um und ging weiter. Wie um alles in der Welt konnte sie jetzt einfach weiter gehen? Müsste sie jetzt nicht so etwas sagen wie: „Da haben wir ja nochmal Glück gehabt", oder einen Scherz machen: „Ich kann in die Zukunft sehen."? Aber Addie sagte nichts, sondern ging einfach mit gesenktem Kopf weiter. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Addie gewusst hatte, das so etwas passieren würde.

„Addie, woher wusstest du das?", fragte ich sie leise. Nach einigen Sekunden in denen sie schwieg, rechnete ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort.

„Ich wusste es nicht." Sie sagte es so leise, dass ich es beinahe überhört hätte.

Hellseherin. Hatte ich doch gesagt. Ohne Addie, wäre ich jetzt vielleicht schwer verletzt. Oder Schlimmeres. Mir schwirrten so viele Fragen durch den Kopf, dass ich sie kaum sortieren konnte. Ging es darum in Addies Träumen? Hatte sie gewusst, dass etwas passieren würde? Hatte sie deshalb mit mir mitkommen wollen? War das eben alles nur ein wirklich seltsamer Zufall gewesen? Aber warum benahm sie sich jetzt so komisch, wenn es so war?

„Manchmal bist du mir wirklich sehr unheimlich, Addie", sagte ich kopfschüttelnd. Das leuchtende Subwaylogo erschien hinter einer Hausecke, auf einem großen Parkplatz. Wir wechselten wieder die Straßenseite.

„Ich mir auch", sagte Addie.

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