10
Beverly
Als ich am nächsten Tag aufwachte, stand die Türe zu meinem Zimmer offen und ich war nicht mehr mit einer gottverdammten Metallkette an das Bett gekettet.
„Was soll das denn jetzt?", murmelte ich und stand auf. Ich ging zum Fenster, dessen Scheibe ein wenig angeschlagen war. Zarte Schneeflocken tanzten draußen durch die Luft. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war, geschweige denn welchen Tag wir hatten. Aber vom Fenster aus konnte ich ganz nach unten sehen. Ich war gar nicht so hoch oben, wie ich gedacht hatte. Die kahlen Äste der Bäume bewegten sich im Wind. Als ich mir die Anzahl der Bäume so ansah, die dieses Gebäude umringten, wurde mir klar, dass ich mich mitten im tiefsten Wald befinden musste. Auf einem kleinen Hügel, denn ich konnte sehr weit sehen, und in der Ferne noch einige andere Hügel.
Ich wollte das Fenster öffnen und die angenehme, kühle Luft ins Zimmer lassen, die ich so sehr vermisste. Aber es wäre auch zu schön gewesen, wenn sich das Fenster hätte öffnen lassen. Enttäuscht seufzte ich.
Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren. Er saß auf meinem Bett und knurrte.
„Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte ich genervt. Er zeigte zur Türe. Ich sah ihn ungläubig an. „Du willst nicht allen Ernstes, dass ich dieses Zimmer verlasse, oder?" Noch vor wenigen Stunden hätte ich wahrscheinlich alles dafür getan, um aus diesem Zimmer zu kommen. Aber jetzt, da die Türe offen war, einfach zu gehen, fühlte sich verdammt gefährlich an. Aber da ich sowieso früher oder später immer tat was er sagte, atmete ich tief durch und ging langsam auf die offene Türe zu.
„Ich will da nicht raus", sagte ich leise. Er knurrte mich wieder an, und eine Stimme in meinem Inneren sagte mir, dass er mich ganz sicher nicht ausgewählt hatte, damit ich jetzt ein Feigling wurde. Normalerweise war ich ja auch nicht so. Also riss ich mich zusammen und betrat den Flur. Ich ließ meinen Blick durch den Gang schweifen, während ich langsam vorwärts ging. Die Wände und der Boden waren aus ganz einfachem Holz. Der Boden knarrte unter meinen Füßen. Die hohen Fenster ließen viel Licht hinein und die alten Vorhänge verliehen dem Ganzen beinahe den Eindruck, als sei das hier ein gewöhnliches, altes Gebäude. An den Wänden zwischen den Zimmertüren hingen Gemälde. Auf einem erkannte ich Modoc von außen. Ich hatte dieses Haus noch nie gesehen. Nur immer wieder davon gehört. Von außen sah es nur halb so einladend aus, wie es von innen schien. Im Vordergrund des Gemäldes waren Fichten oder Tannen zu erkennen. Der Himmel war von dunkelgrauen Wolken verdeckt. Ich konnte einen Teil der großen Steinmauern erkennen und das schwarze Eisentor. Und dahinter lag Modoc. Das Gebäude das so aussah, als hätten es Fürsten im Mittelalter bewohnt. Als seihe es eine zu klein geratene Burg aus Steinmauern und Holzwänden. Ich konnte mir gemütlichere Plätze auf dieser Welt vorstellen.
Ein anderes Gemälde zeigte ein Portrait eines älteren Mannes. Er hatte graue Haare und ein faltiges Gesicht. Seine Nase war recht groß. Ich wusste nicht warum, aber irgendetwas sagte mir, dass das Federal Modoc war.
Ich hörte auf Zeit damit zu verschwenden, über Gemälde zu philosophieren und ging in normalem Tempo weiter. Am Ende des Flurs stand ich vor einer Entscheidung. Den Flur nach links, rechts, die Treppen rauf, oder runter? Von unten konnte ich Geräusche hören. Menschen unterhielten sich. Ich mochte Menschen zwar nicht wirklich, aber irgendwo musste ich ja hingehen. Die Treppenstufen knarrten als ich sie langsam hinunter ging. Die Treppe ging wie eine viereckige Spirale nach unten. Ich ging alle Stockwerke hinunter und kam dabei an ein paar Menschen vorbei, die alle recht entspannt wirkten, warum auch immer. Vielleicht war ihnen nicht bewusst, wo sie hier waren. Oder die Angestellten hier mischten irgendwas ins Essen. Oder die Menschen waren einfach alle gestört, was mir am wahrscheinlichsten schien. Ganz unten angekommen, befand ich mich in einem großen Raum, der eigentlich wirklich gemütlich aussah, was mich irgendwie verstörte. Was machte so ein gemütlicher Raum an so einem schrecklichen Ort? Es sah aus wie ein großes altes Wohnzimmer. Ein Kamin, in dem kein Feuer brannte, viele Bänke, Tische und Stühle. Und wieder diese hohen Fenster mit den dicken roten Vorhängen. Ein riesiger Kronleuchter, in dem unzählige Glühbirnen leuchteten. Einige Menschen hielten sich hier auf. Aber sie beachteten mich nicht. Sie machten einfach weiter mit was auch immer sie gerade machten. Eine ältere Dame saß auf einer Couch in der Ecke und las ein Buch. Einige andere Leute, allen Alters saßen alleine oder zu zweit an dem Tisch. Ich sah mich verwirrt um. Alles hier schien so unfassbar normal. Und die Menschen sahen nur halb so verrückt aus, wie ich befürchtet hatte.
Ich entschied mich dazu auch den Rest dieses Ortes zu erkunden. Das konnte dauern... Ich ging ziellos durch den unteren Stock des Hauses. Ich entdeckte unter anderem den Speisesaal, die Krankenstation, einige kleinere Aufenthaltsräume und, das Wichtigste, den Ausgang. Eine große Flügeltüre, die den Fenstern nach zu urteilen, in den Vordergarten führte. Durch die Fenster war nicht allzu viel zu erkennen, aber mir wurde mehr und mehr bewusst, wie unfassbar groß dieses Gebäude war. Und da ich hinter den Mauern und dem Eisentor wiedermal nur Bäume ausmachen konnte, wurde mir ebenso klar, dass ich mich wirklich am Arsch der Welt befand. Trotzdem wollte ich hier raus.
Ich war nicht so naiv zu denken, dass ich die Türe einfach so hätte öffnen können. Aber der Gedanke daran, dass sich hinter dieser Türe die Freiheit befand, machte mich fertig. Klar war dahinter noch eine Mauer, an der ich nicht vorbei kam. Aber ich hätte draußen sein können. Plötzlich fühlte ich mich unfassbar frustriert. Ich war so kurz davor gewesen ein normales Leben zu führen. Aus der Anstalt zu kommen. Nie wieder eingesperrt zu sein. Warum um alles in der Welt konnte ich nicht ein Mal das bekommen, was ich mir wünschte?
„Beverly." Ich fuhr erschrocken herum. Die Frau von gestern stand hinter mir. Sie hatte ihre Hände wieder hinter dem Rücken und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie dahinter ein Messer versteckt hielt. Sie lächelte mich an.
„Heute ist es kalt draußen und es schneit", sagte sie mit sanfter Stimme. Als wäre mir das nicht längst aufgefallen. „Deshalb sind alle Ausgänge verschlossen."
„Was Sie nicht sagen", entgegnete ich skeptisch. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass sie mich nach draußen gelassen hätten, wenn die Sonne geschienen hätte. Das Lächeln der Frau blieb eisern an seinem Platz, als sie mit langsamen Schritten auf mich zukam.
„Du bist keine Gefangene hier, Beverly."
„Das sehe ich aber anders."
„Wir wollen dir helfen."
Es fühlte sich an wie eine Gehirnwäsche. Sie sagte ständig, dass sie mir helfen würde. Aber sie konnte mir nicht helfen. Ich war nicht verrückt!
„Ich brauche keine Hilfe." Ein Satz, den ich in den vergangenen Jahren schon zu oft gesagt hatte. Ich wollte noch nicht einmal, dass mir irgendjemand half. Denn die Hilfe der Menschen die glaubten mir helfen zu müssen, bestand aus Therapiestunden, die mir nichts brachten, außer mich im Endeffekt wirklich verrückt zu machen. Man merkt erst wie verkorkst und abgedreht man eigentlich ist, wenn man über drei Jahre intensiv therapiert wird und jedes Ereignis aus der Vergangenheit bis auf das kleinste Atom aufgespalten und untersucht wird. Aber es tat einfach nur weh. Immer und immer wieder über dieselben Dinge zu sprechen, die ich weder ändern noch akzeptieren konnte. Aber das war doch nur menschlich, oder? Deshalb war ich nicht gleich verrückt!
„Was ist Project Salvation?", fragte ich genervt und auch ein wenig energisch. Die Frau, deren Namen ich noch immer nicht kannte, kam langsam auf mich zu und legte eine Hand auf meinen Arm.
„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf", sagte sie. „Das erfährst du, wenn es so weit ist." Wenn es zu spät ist, also.
Sie blinzelte mir zu, nahm dann ihre Hand von meinem Arm und verschwand. Ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Das reinste Irrenhaus", murmelte ich. Ich musste hier irgendwie raus. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens unter solchen Gehirnwäscheleuten verbringen.
„Das schaffst du nicht." Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Auf der ersten Treppenstufe stand ein Junge, vielleicht ein paar Jahre älter als ich, gegen das Treppengeländer gelehnt. Er hatte mich nicht sofort angesehen, weshalb ich mir nicht sicher gewesen war, ob er mit mir gesprochen hatte. Aber jetzt sah er mich an.
„Was meinst du?", fragte ich. Er stieß sich vom Gelände ab und schlenderte auf mich zu.
„Hier abzuhauen. Das schaffst du nicht."
„Das wollen wir sehen", entgegnete ich. Wie gesagt, ich wollte nicht hier drinnen sterben.
„Die Leute die hier her kommen, gehen nie wieder weg", erläuterte er. Er musterte mich aus seinen dunklen Augen. Etwas ging von ihm aus. Etwas, das ich nur zu gut kannte und es erschreckte mich beinahe. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken.
„Dann bin ich wohl die Ausnahme." Ich war immer noch der festen Überzeugung, dass es hier einen Weg raus geben musste.
Meine innere Stimme flüsterte mir zu, dass ich eigentlich nie hätte hier landen sollen. Dass er mich in diese Lage gebracht hatte, indem er Harson getötet hatte. Harson, und mir auch sonst jeden Menschen genommen hatte, der mir wichtig gewesen war. Und obwohl ich seine Gründe kannte, konnte ich ihm nicht verzeihen.
„Connor Hiliard", sagte der Junge.
„Beverly Anderson."
Wir gaben einander nicht die Hand. Wir hielten Abstand. Die Spannung die zwischen uns herrschte, fühlte sich beinahe an wie Respekt. Und auch ein bisschen wie Angst vor dem was passieren könnte, würden wir einander zu nahe kommen. Zwischen uns waren etwa zwei Meter Abstand.
„Also, Beverly Anderson", begann er mit rauer Stimme. Dann sah er sich um. „Ich schätze du weißt schon, dass Leute wie wir, hier drinnen keine Chance haben."
„Leute wie wir? Du meinst Verrückte?"
„Verfluchte."
„So bezeichnest du es?" Uns war beiden klar, dass ich ganz genau wusste, wovon er sprach. Ich war nicht besonders geübt darin, Menschen die wie ich waren zu erkennen. Deshalb war es mir nicht sofort aufgefallen. Aber je länger ich Connor gegenüberstand, desto deutlicher konnte ich es spüren. Diese Macht die von ihm ausging. Diese Bedrohung. Ich hatte in meinem Leben noch kaum Leute wie mich getroffen. Oder vielleicht hatte ich es auch, aber hatte sie einfach nicht erkennen können. Ich war erst nach einem Jahr draufgekommen was Rosemary einst gewesen war, obwohl so etwas deutliche Spuren hinterlässt. Und sie hatte schon bei unserer ersten Begegnung gewusst, was ich war.
„Es gibt das Modoc, das für die normal gestörten Leute ist", sagte Connor und verschränkte seine Arme vor der Brust. Dann sah er mir direkt in die Augen. „Und dann gibt es das Modoc, für Leute wie uns." Die komplett gestörten Leute... „Modoc ist nicht gerade der sicherste Ort für uns."
„Ach, tatsächlich?" Diese Bemerkung hätte er sich locker sparen können. Er war vielleicht stärker und meinetwegen auch mächtiger als ich. Doch das hieß nicht, dass ich mich mit der Welt, in der ich lebte, weniger auskannte als er.
„Wenn du ihr Spiel mitspielst", fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Dann überlebst du vielleicht."
Ich fragte mich von welchem Spiel er sprach. Es war wohl kaum wörtlich gemeint, aber ich hatte immer noch nicht so ganz durchschaut, was in Modoc wirklich passierte, mit Leuten wie uns. „Tu was sie dir sagen", sagte er. „Egal was es ist. Spiel mit."
Ich sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Connor kannte mich nicht, daher konnte er schlecht wissen, dass ich im Grunde immer nur das tat, was ich selbst für richtig hielt. Und das was ich für richtig hielt, führte nicht zwangsläufig dazu, dass ich am Leben blieb. Leider.
„Sonst noch irgendwelche Tipps, wie ich das hier überlebe?"
„Bring dich nicht in Schwierigkeiten."
„Das ist kein Tipp, sondern eine Lebensaufgabe", erwiderte ich. Immerhin war ich geübt darin mich in Schwierigkeiten zu bringen. „Was denkst du wohl, wie ich hier gelandet bin?" Connor bedachte mich mit einem Blick, der so wirkte, als würde er mich studieren. Oder versuchen in meinen Kopf einzudringen, um meine Gedanken zu lesen. Aber das konnte er lange versuchen. So stark konnte er gar nicht sein. Vielleicht sollte der Satz auch lauten: So schwach konnte ich gar nicht sein. Noch nicht einmal Rosemary hatte es je geschafft in meinem Kopf hineinzukommen. Und das würde auch nie jemand schaffen. Dafür hatte er gesorgt.
„Sie werden versuchen ihn dir wegzunehmen", sagte Connor schließlich.
„Das werden sie nicht schaffen", entgegnete ich sofort bestimmt. Sie konnten ihn mir nicht nehmen. Egal was er mir angetan hatte. Egal wie sehr ich ihn hasste. Egal wie gerne ich ihn töten würde. Er würde immer bei mir bleiben. Doch ich war mir nicht sicher ob ich das hoffte, oder fürchtete.
„Richtig", sagte er ohne mit den Wimpern zu zucken. „Und genau aus diesem Grund werden sie dich nie gehen lassen."
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