1.1 Der Preis des Lichts

"Jeder Schritt ins Licht wirft einen längeren Schatten – doch Mut liegt im Gehen, nicht im Stehenbleiben."
~ aus dem Schattenkompendium

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Es war eine frostige Nacht, der Mond erhebt sich majestätisch am Himmel, als Alina und Kael den verlassenen Tempel betraten. Die Ruinen lagen vor ihnen in einer stillen, düsteren Atmosphäre, doch Alina verspürte eine merkwürdige, sanfte Wärme, die von dem Prisma an ihrer Halskette auszugehen schien. Das Licht, das es ausstrahlte, war sanft und beruhigend, als wolle es die Schatten um sie herum zähmen. Doch Alina wusste, dass diese Stille trügerisch war. Sie hatte sich entschlossen, der Dunkelheit mit Hilfe des Prismas entgegenzutreten, doch die Konsequenzen ihrer Entscheidung lagen noch im Verborgenen.

„Wir sind fast da“, murmelte Kael leise, während er neben ihr herging.

Alina nickte, ihre Gedanken jedoch waren ganz beim Prisma. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten sie tiefgreifend geprägt. Die Begegnung mit den Schatten, die Explosion des Lichts, der Entschluss, den Pfad des Lichts zu beschreiten – all das lastete schwer auf ihren Schultern. Doch der schwerste Teil stand ihr erst bevor.

„Bist du dir wirklich sicher, dass wir diesen Weg gehen müssen? “ fragte Kael erneut, während sie durch den düsteren, verwinkelten Gang des Tempels schritten.

Alina warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Ja, ich bin sicher“, antwortete sie. „Das Prisma hat mir eine Wahl gegeben, aber Entscheidungen bringen immer Konsequenzen mit sich. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre alles wie früher. Die Dunkelheit wird nicht verschwinden, nur weil wir den ersten Schritt gemacht haben. Ich muss herausfinden, was noch vor uns liegt. “

„Und was, wenn das Prisma mehr von dir verlangt, als du bereit bist zu geben? “ fragte Kael, und seine Besorgnis war unüberhörbar.

Alina hielt an und wandte sich ihm zu. „Es wird mehr verlangen. Das ist mir bewusst. Aber ich habe keine Wahl. Ich habe diesen Weg gewählt, und ich werde ihn bis zum Ende gehen, ganz gleich, welchen Preis ich dafür zahlen muss. “

Kael seufzte und nickte, doch der Ausdruck in seinen Augen verriet, dass seine Gefühle tiefer gingen als bloße Besorgnis. Alina spürte den Druck, den die Situation auf ihm ausübte, und wusste, dass er sie nicht im Stich lassen würde. Er würde an ihrer Seite bleiben, egal ob es ihn seine eigene Menschlichkeit kosten würde.

„Wenn du fällst, falle ich mit dir“, sagte Kael schließlich, seine Stimme klang fest. „Aber wir werden das gemeinsam durchstehen. “

Alina schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Wir werden es schaffen. Zusammen. “
Sie setzten ihren Weg fort, und mit jedem Schritt, den sie dem innersten Heiligtum des Tempels näher kamen, wurde die Veränderung in der Luft für Alina spürbarer. Der Raum um sie herum schien schwerer und dichter zu werden, die Schatten verdichteten sich, als warteten sie nur darauf, über sie hereinzu brechen. In ihrer Hand konnte sie das Prisma fühlen, wie es pulsierte, als würde es die Dunkelheit um sie herum wahrnehmen, als ob es auf den entscheidenden Moment wartete, an dem sie ihre endgültige Wahl treffen würde.

Schließlich erreichten sie den heiligen Raum, in dem das Prisma einst aufbewahrt worden war. Der Altar, der dort stand, war vollständig mit Moos und Efeu bewachsen, und die Wände waren von den Narben der Zeit gezeichnet. Dennoch lag eine unheimliche Stille über diesem Raum, die Alina den Atem raubte. Je näher sie dem Altar kam, desto stärker pulsierte das Prisma in ihrer Hand.

„Was müssen wir tun? “, fragte Kael, der hinter ihr stehen blieb, während sie langsam auf den Altar zutrat.

„Wir müssen es opfern“, flüsterte Alina, ohne sich umzudrehen. „Das Prisma hat uns einen Weg gezeigt, aber es gibt keinen kostenlosen Ausweg. Um die Dunkelheit endgültig zu besiegen, muss ein Preis gezahlt werden. Das Prisma… es wird uns nicht ewig beistehen. Es wird seine Kraft verlieren. “

Kael trat näher, doch Alina hielt ihn mit einer Hand zurück. „Du musst warten, Kael. Ich kann das nicht alleine tun, aber ich muss es in Verbindung mit dem Prisma tun. Wenn ich es nicht tue, wird die Dunkelheit weiter wachsen und alles wird zerstört. Du hast mir bis hierhin geholfen, aber jetzt muss ich alleine handeln. “

Er betrachtete sie einen langen Moment und nickte schließlich. „Ich werde warten. Aber sei vorsichtig. “

Alina atmete tief ein und näherte sich dem Altar. Vorsichtig legte sie das Prisma auf den steinernen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, und spürte, wie die Energie des Artefakts mit jeder Sekunde intensiver wurde. Die Dunkelheit in der Luft schien sich zusammenzuziehen, als reagiere sie auf das bevorstehende Ritual.

„Was verlangt das Prisma von mir? “, flüsterte sie, während sie ihre Hände über das Artefakt legte.

Die Antwort kam sofort, flüsternd und verlockend.

„Licht und Schatten. Du hast dich entschieden, und der Preis wird hoch sein. Du wirst alles verlieren, was du liebst. Doch du wirst das Gleichgewicht wiederherstellen. “

Alina schloss die Augen und spürte, wie das Prisma in ihre Handflächen Eins sank, als würde es sich mit ihrer Seele vereinen. Es war ein Gefühl unendlicher Macht, gepaart mit einer tiefen Leere. Sie wurde sich bewusst, dass sie mehr als nur das Prisma opfern würde.

„Ich bin bereit“, sagte sie leise. „Ich akzeptiere den Preis. “

Die Dunkelheit um sie herum begann zu flimmern, als ob die Grenzen der Realität sich veränderten. Kael, der am Rande des Raumes wartete, konnte nur tatenlos zusehen, wie Alina mit dem Prisma in das Innere des Tempels verschwand. Ein strahlendes Licht erfüllte den Raum, und als es sich legte, kehrte tiefste Stille ein. Das Prisma war verschwunden, ebenso wie Alina.

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Alina öffnete die Augen und fand sich auf einer kargen, dunklen Ebene wieder. Der Boden unter ihren Füßen war aus glühendem, schwarzen Stein, und über ihr spannte sich ein Himmel in einem tiefen Violett. Sie war an einem Ort jenseits der bekannten Welt, in einem Raum, der nichts von dem widerspiegelte, was sie jemals gekannt hatte. Die Dunkelheit laste schwer in der Luft, doch inmitten dieser Leere spürte sie eine Kraft in sich, die sie stärker machte als je zuvor.

„Du hast den Preis bezahlt“, erklang eine vertraute Stimme hinter ihr. Alina drehte sich um und erblickte das Prisma, das nun in einer völlig neuen Form vor ihr schwebte. Es war nicht länger das Artefakt, das sie gekannt hatte; es hatte sich zu einem Wesen aus Licht und Schatten gewandelt, einer harmonischen Verschmelzung beider Elemente.

„Ich weiß, was ich verloren habe“, sagte Alina, ihre Stimme fest, aber von tiefer Trauer durchzogen. „Doch ich tat es, um die Welt zu retten. “

„Ja“, erwiderte die Stimme des Prismas. „Der Preis ist jedoch hoch. Du hast mehr als nur die Dunkelheit besiegt. Du hast einen Teil von dir selbst geopfert. Deine Vergangenheit, dein Leben – sie sind fort. Was bleibt, ist der Schatten des Lichts. “

Alina schloss die Augen. „Dann werde ich mit diesem Schatten leben“, murmelte sie.

„Du bist bereit, deinen eigenen Weg zu gehen, Alina. Doch sei gewarnt: Auch das Licht birgt seine Dunkelheit. “

Mit diesen Worten verschwand die Erscheinung des Prismas, und Alina stand allein in der Leere, fest entschlossen, ihren neuen Pfad zu beschreiten.

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