0.9 Ein Schritt ins Unbekannte
"Der Pfad durch die Schatten offenbart, ob dein Herz stark genug ist, das Licht zu tragen."
~ aus dem Schattenkompendium
_____________
Die Kälte der Nacht hatte sich wie ein Schleier über die Festung gelegt, doch Alina fand keinen Schlaf. Die Wände ihres Zimmers schienen sich immer enger um sie zu schließen, während das Prisma an ihrer Halskette in einem pulsierenden Rhythmus leuchtete – nicht einfach ein Glitzern, sondern als würde es mit einer fernen, unheilvollen Melodie resonieren, die nur sie wahrnehmen konnte.
Die Worte des verletzten Mannes hallten in ihrem Kopf wider: Schatten. Die Bedrohung, die sich bis jetzt im Dunkel verborgen gehalten hatte, kam unaufhaltsam näher, und sie fühlte sich vollkommen unvorbereitet.
Draußen, in der tiefen Nacht, spendete der Mond nur schwaches Licht für den Innenhof. Alina zog ihren Mantel enger um sich und trat hinaus. Die Luft war klar und fest, ein Vorbote des heraufziehenden Sturms. In der Festung spürte sie die spürbare Anspannung – wie eine gespannten Saite, bereit zu zerreißen.
---
Am nächsten Morgen versammelten sich die Krieger und Wachen im Hauptsaal, während Kael und Alina an der Spitze standen. Der Kommandant der Festung, ein breitschultriger Mann mit tiefen Narben, die Zeugnis seiner Vergangenheit ablegten, sprach mit fester Stimme.
„Die Schatten sind nicht länger eine entfernte Gefahr“, begann er. „Gestern Nacht haben sie einen unserer Kundschafter angegriffen. Ihre Macht wächst, und ihre Angriffe werden gezielter. Wir dürfen nicht abwarten, bis sie die Festung überrennen. “
Die Männer und Frauen im Saal murmelten besorgt, während Alina einen Blick zu Kael warf. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Kiefer angespannt. Doch hinter seinem entschlossenen Äußeren lag eine Spur von Zweifel.
„Wir sollten angreifen, bevor sie uns finden“, erklärte Kael plötzlich, fest und unerschütterlich. „Wir dürfen sie nicht unterschätzen. Warten ist gefährlich. “
Der Kommandant nickte bedächtig. „Das mag zutreffen. Aber ein Übergriff in ihr Territorium birgt große Risiken. Wir wissen nicht, was uns dort erwarten könnte. “
Alina wollte intervenieren, doch das Prisma schien leicht zu vibrieren, und sie hielt inne. Es war, als wollte es sie warnen, sie daran erinnern, dass jede Entscheidung eine Tür öffnete – und hinter jeder Tür warteten Konsequenzen.
---
Später in der Kapelle, die als Zufluchtsort für ihre Gedanken diente, kniete Alina vor einem schlichten Altar. Das Prisma leuchtete schwach, und sie spürte die vertraute Stimme, die aus ihrem Inneren zu ihr sprach.
„Die Schatten ziehen dich an, Alina. Du weißt, dass du sie finden musst. “
„Und was, wenn sie mich verschlingen? “ flüsterte sie.
„Die Dunkelheit verschlingt nur die, die sich ihr hingeben. Du bist mehr als das. Aber du musst die Wahrheit annehmen. Nicht jedes Licht zeigt dir den Weg nach Hause, und nicht jeder Schatten will dich zerstören. “
Die Stimme verhallte, und Alina schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die Entscheidung gefallen: Sie würde gehen. Die Schatten mussten gefunden werden, bevor sie die Welt mit ihrer Leere überzogen. Doch sie würde diesen Weg nicht allein beschreiten.
Später fand Kael sie auf der Lichtung hinter der Festung, wo sie die Kunst des Dolchkampf trainierte. Ihr Atem war gleichmäßig, doch ihre Bewegungen zeugten von unerschütterlicher Kraft und Entschlossenheit.
„Du bist dir sicher, nicht wahr? “ fragte er, während er sich ihr näherte.
Alina hielt inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn und begegnete seinem Blick. „Ich muss es tun. Wenn ich es nicht tue, wer dann? “
Kael schüttelte den Kopf, besorgt und widerwillig. „Du bist nicht allein, Alina. Denk bloß nicht daran, ohne mich loszuziehen. “
Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen. „Das hatte ich nicht vor. Aber wenn du mitkommst, musst du mir vertrauen. “
Er nickte langsam. „Immer. “
---
Noch vor Sonnenuntergang verließen Alina, Kael und eine kleine Gruppe ausgewählter Krieger die Festung. Der Wald, der die Festung umgab, war nun dichter und dunkler, als ob die Schatten bereits über ihn gefallen waren. Alina spürte das Prisma stärker pulsieren, wie ein unaufhörliches Herzklopfen, das sie vorwärts trieb.
Die Gruppe bewegte sich leise und vorsichtig, doch die Stille war schwer und beklemmend. Kein Vogel sang, kein Wind raschelte in den Bäumen. Es war, als hielte die Welt den Atem an.
Kael blieb dicht bei Alina, seine Hand ruhte fest auf dem Griff seines Schwertes. „Ich habe ein ungutes Gefühl dabei“, murmelte er.
„Du bist nicht allein damit“, flüsterte Alina zurück.
Plötzlich blieb einer der Krieger stehen, hob die Hand und zeigte auf einen schmalen Pfad, der ins Tal führte. In der Ferne erblickten sie eine alte, verfallene Ruine, umgeben von einem flackernden, unnatürlichen Licht.
„Das muss es sein“, sagte Kael leise.
---
Als sie die Ruinen erreichten, schien die Zeit stillzustehen. Die Welt war in ein gespenstisches Licht getaucht, und das Prisma pulsierte heftig, beinahe schmerzhaft an Alinas Hals.
Doch ehe sie näher treten konnten, brach Chaos aus. Schattenhafte Gestalten erhoben sich aus der Dunkelheit, ihre Bewegungen unheimlich und unvorhersehbar. Die Krieger zogen ihre Waffen, und ein wilder Kampf entbrannte.
Kael stürzte mit einem Kampfschrei in die vorderste Reihe, während Alina das Prisma aktivierte. Ein blendendes Licht schoss hervor und zerriss die Schatten, doch jeder gewonnene Moment schien ein Tropfen im Ozean zu sein. Die Dunkelheit war erdrückend, und sie schien mit jeder Sekunde dicker zu werden.
Kael kämpfte, als sei er besessen, doch sein Blick wanderte immer wieder zu Alina. Sie war diejenige, die das Gleichgewicht halten musste, die das Schicksal des Kampfes entscheidend beeinflussen konnte.
Mitten im Chaos spürte Alina plötzlich, wie das Prisma eine fremde Energie zu absorbieren begann. Die Schatten, die es angriffen, schienen von ihm verschlungen zu werden, während ein neues, düsteres Licht aus dem Artefakt zu strahlen begann.
Kael bemerkte die Veränderung und rief besorgt: „Alina! Was geschieht da? “
Doch ihre Ohren schienen seine Worte kaum wahrzunehmen. Die Stimme des Prismas erhob sich erneut, kraftvoller als je zuvor.
„Du stehst vor einer Wahl, Alina. Licht oder Schatten. Doch wähle weise, denn einmal geöffnet, kann keine Tür wieder geschlossen werden. “
Sie hob den Blick, sah die Schatten, die kämpfenden Krieger – und Kael. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Sorge und Vertrauen.
In diesem entscheidenden Moment traf sie ihre Wahl.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top