0.6 Im Angesicht der Dunkelheit
„Jede Wahl trägt eine Last – und nicht alle Pfade führen ins Licht.“
~ aus dem Schattenkompendium
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Die Dunkelheit, die Malrik hinterlassen hatte, schien sich in den Herzen von Alina und Kael festzusetzen, wie ein unausgesprochenes Versprechen, das sie nicht loswerden konnten. Sie hatten das Lager mittlerweile verlassen und suchten eine alte Handelsstraße, die sie aus dem verfluchten Wald führen würde. Doch die Stille um sie herum war alles andere als gewöhnlich.
Kael behielt die Umgebung im Auge, musterte jede Bewegung der Schatten mit äußerster Wachsamkeit. Sein Schwert war noch immer gezogen und bereit.
„Er taucht immer dann auf, wenn wir verwundbar sind“, murmelte er.
„Oder wenn er will, dass wir etwas erkennen“, erwiderte Alina. Ihre Finger strichen sanft über die silberne Kette um ihren Hals, an der das Prisma als Anhänger hing. Es fühlte sich an wie ein kaltes Herz, das lebendig und unnachgiebig gegen ihre Haut pulsierte. „Er hat mich gewarnt, Kael. Aber warum sollte er mir helfen, wenn er euer Feind ist? “
„Weil er nichts tut, ohne einen Vorteil daraus zu ziehen“, antwortete Kael schroff. „Malrik war immer ein Meister der Manipulation. Alles, was er tut, folgt einem größeren Plan. Vertraue ihm nicht, Alina. “
Sie wollte seinen Worten Glauben schenken, doch etwas in Malriks Stimme hatte sie berührt – nicht seine Drohung, sondern die leise Trauer, die in seinen letzten Worten mitschwang, als spräche er von einem Schicksal, das ihn selbst verfolgte.
„Kael“, sagte sie schließlich, „was ist damals wirklich passiert zwischen euch beiden? “
Kael schwieg einen Moment, die Anspannung in seinen Schultern wurde deutlich, während er sich dem Thema stellte, das er so lange gemieden hatte. Schließlich seufzte er.
„Ich möchte jetzt nicht darüber reden. Lass uns für den Moment dabei bleiben. “
„Okay. “
Alina hörte die Bitterkeit in Kaels Stimme, doch etwas stimmte nicht. Warum hatte Malrik sie mit dem Prisma zurückgelassen? Warum nicht selbst die Kontrolle übernehmen?
Sie wollte weiterfragen, als ein plötzlicher, tiefer Ton die Stille zerriss – ein Geräusch, das nicht von dieser Welt zu stammen schien.
„Hast du das gehört? “ Ihre Hand wanderte instinktiv zu dem Prisma um ihren Hals.
Kael nickte. „Wir sind nicht allein. “
Er führte sie von der Straße weg, tiefer in das Unterholz. Die alten Bäume hier hatten knorrige Äste, die sich wie Krallen in den Himmel reckten. Die Dunkelheit war nahezu undurchdringlich, nur vereinzelt drang das Mondlicht durch die dichten Blätter.
Der Ton ertönte erneut, diesmal näher. Es war kein Tierlaut, sondern etwas Fremdes und Unheimliches – ein Summen, durchdrungen von einer tiefen, vibrierenden Macht.
„Bleib nah bei mir“, flüsterte Kael und zog sie hinter einen umgestürzten Baumstamm.
Die Geräusche verstummten. Eine lange, quälende Stille folgte, und Alina hörte ihren eigenen Atem – schnell und unregelmäßig. Die Spannung in ihrem Körper wuchs, als ob eine unsichtbare Kraft sie auf die Probe stellte.
Plötzlich trat eine geheimnisvolle Gestalt aus den Schatten hervor – weder menschlich noch tierisch. Es war eine Kreatur, die aus Nebel und Dunkelheit zu bestehen schien, mit leuchtenden, smaragdgrünen Augen, die in der Finsternis glühten.
Kael sprang entschlossen vor, das Schwert in der Hand. „Bleib zurück! “ rief er.
Das Wesen fauchte mit einem kehlig-grausamen Laut und stürzte sich auf ihn. Kael wich geschickt aus und schwang sein Schwert in einer präzisen Bewegung, die die Kreatur streifte. Doch anstelle von Blut oder Fleisch hinterließ die Klinge nur einen wirbelnden, formlosen Nebel, der sich sofort wieder zusammensetzte.
„Alina, lauf! “ rief Kael, doch sie konnte sich nicht rühren. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei, und das Prisma an ihrer Halskette begann plötzlich zu leuchten. Wellen von Energie durchzogen ihren Körper und ließen sie erbeben.
„Nein“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu Kael. „Ich werde nicht weglaufen. “
Mit einem mutigen Schritt trat sie vor und umfasste das Prisma. Die Kreatur zögerte, als hätte sie das Artefakt erkannt. Ihre Augen weiteten sich, und ein schmerzerfüllter Laut entglitt ihr.
„Was auch immer du bist“, sprach Alina mit einer Stimme, die ihr selbst fremd war, „kehr zurück, woher du gekommen bist! “
Das Prisma reagierte auf ihre Worte. Ein silberner Lichtstrahl brach hervor, durchdrang die Dunkelheit und hüllte die Kreatur ein. Sie wand sich, fauchte und löste sich schließlich in einem Schwall aus Nebel auf.
Kael starrte sie an, sein Schwert noch erhoben. „Was… war das? “
Alina sah auf das Prisma, das nun wieder an seiner silbernen Kette hing und nur noch matt schimmerte. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, es wollte uns prüfen. “
„Oder dich“, murmelte Kael.
Die Stille kehrte zurück, doch sie fühlte sich anders an, weniger bedrückend – als würde die Dunkelheit selbst kurz davor stehen, Alina anzuerkennen.
„Kael“, sagte sie schließlich, „ich glaube, ich muss noch viel mehr über das Prisma und über mich selbst lernen. “
Kael nickte, legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte mit leiser Entschlossenheit: „Dann finden wir es gemeinsam heraus. “
Doch im Schatten, wo die Augen der Nacht sie nicht sehen konnten, beobachtete Malrik sie. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, während er verschwand, als wäre er niemals dort gewesen.
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