0.5 Der Schatten im Nebel

"Die Schatten flüstern nicht, um zu warnen. Sie flüstern, um zu verführen."
~aus dem Schattenkompendium

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Der Wind brachte die kühle und feuchte Luft der Dämmerung mit sich, als Alina und Kael nach einem weiteren anstrengenden Tag in der Festung zur Ruhe kamen. Die Dunkelheit hatte den Wald inzwischen völlig verschluckt, und das sanfte Zischen der Blätter sowie das Knacken der Äste verschmolzen zu einem beruhigenden Klang, der Alina half, die Unruhe der letzten Wochen für einen Moment zu vergessen.

Dennoch ließ sie die quälenden Fragen nicht los. Was war das Prisma wirklich? Wie konnte sie lernen, es zu kontrollieren? Und am meisten beschäftigte sie die Frage, wer sie eigentlich war, wenn sie die Macht besaß, das Gleichgewicht zwischen den Welten zu beeinflussen.

„Du bist in Gedanken versunken“, bemerkte Kael, der sich neben sie setzte. „Das Prisma. . . es belastet dich, nicht wahr? “

„Es spricht zu mir, Kael. Aber was bedeutet das? Warum ich? Ich verstehe einfach nicht, warum es mich gewählt hat. “ Mit einem Blick zum Himmel hoffte Alina, Antworten in den Sternen zu finden.

„Es gibt Dinge, die wir nicht begreifen können. Aber du bist nicht allein, Alina. Du wirst lernen, damit umzugehen. “ Kaels Stimme war ruhig, beinahe tröstend.

„Ich weiß nicht, ob ich jemals damit umgehen kann“, murmelte sie. „Aber es gibt keinen Weg zurück, oder? “

„Nein“, antwortete er schlicht. „Aber du hast die Wahl, wie du deinen Weg fortsetzt. Und du hast uns an deiner Seite. “

Gerade als Alina über seine beruhigenden Worte nachdachte, wurde der Frieden der Nacht abrupt gestört. Ein kaltes, fast unheimliches Gefühl kroch in ihre Knochen, und die Luft um sie herum schien sich zu verdichten. Alina spürte es sofort – etwas oder jemand war in der Nähe.

„Was ist das? “ fragte sie und sprang auf.

Kael erhob sich ebenfalls, seine Augen blitzten, als er nach seiner Waffe griff. „Ich weiß es nicht. Aber wir sind nicht allein. “

Ein Rascheln aus der Dunkelheit, ein Schatten, der sich zwischen den Bäumen bewegte. Alina hörte leise Schritte, die sich unaufhaltsam näherten. Und dann, wie aus dem Nichts, trat eine Gestalt vor ihnen hervor.

Er war hochgewachsen, hüllte sich in einen langen, dunklen Umhang, der im Wind wie ein Schatten flatterte. Das Mondlicht fiel auf sein blasses Gesicht, während seine grauen Augen im Dunkeln leuchteten. Ein schimmerndes, silbernes Licht umgab die Ecken seiner Augen, und für einen kurzen Moment glaubte Alina, den kalten Hauch der Vergangenheit zu verspüren. Ein bekannter, unerklärlicher Schmerz stieg in ihr auf.

„Du. . . “, flüsterte sie, als das Bild des Mannes in ihrer Erinnerung aufblitzte – der Fremde aus der Ruine, der ihr das Prisma überlassen hatte.

„Malrik“, vernahm sie Kaels scharfe, angespannte Stimme. Es war nicht das erste Mal, dass er den Namen nannte, doch es war das erste Mal, dass Alina die Kälte und Wut in seiner Stimme spürte.
Der Mann, der sich nun vor ihnen aufrichtete, war das personifizierte Gegenteil von allem, was Kael jemals gehasst hatte. Mit seinen blassen Zügen, den scharfen Augen und einer fast unheimlichen Aura war er genau der Feind, den Kael seit jeher verabscheute. Und er war es, dem Alina das Prisma zu verdanken hatte.

„Du“, sagte Alina, deren Stimme trotz des Schocks, der in ihr schwellte, kaum über ein Flüstern hinauskam, „warst du derjenige, der hinter dem Prisma her war. “

„Ja“, antwortete Malrik gefasst, „und nun bist du die Trägerin. Du bist mit ihm verbunden, genau wie ich. “

Kael zog drohend seine Waffe. „Du bist also der Grund für all das. Der alte Feind. Du hast uns nie in Ruhe gelassen, Malrik. “

Malrik blieb ungerührt. „Ich habe euch nie verlassen, Kael. Doch konzentriere dich nicht zu sehr auf mich. Das Prisma, das du so eifrig verteidigen möchtest, ist nicht das wahre Ziel. Es ist lediglich ein Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel ist der universelle Fluss der Magie - die Macht, die du und Alina noch nicht vollständig erfassen könnt. Es ist an der Zeit, dass ihr euch entscheidet, auf welcher Seite ihr stehen wollt. “

„Wirst du mich jetzt mit leeren Worten abspeisen? “ Kaels Stimme war schneidend. „Ich weiß, wozu du fähig bist. Du hast uns alle getäuscht. “

„Getäuscht? “ Malrik schickte ihm einen kühlen Blick. „Du hast nie wirklich verstanden, Kael. Du bist ein Krieger, ein einfacher Soldat. Du hast nie begreifen können, was wirklich auf dem Spiel steht.“

„Du bist der Verräter! “, rief Kael und umklammerte fest den Griff seines Schwertes. „Es ist dein Verrat, der unsere Welt ins Chaos gestürzt hat! “

„Verrat? “ Malrik neigte den Kopf leicht zur Seite, als könnte er Kael und dessen Wut nicht nachvollziehen. „Ich habe nichts anderes getan, als dem wahren Weg zu folgen. Ihr habt nie verstanden, dass wir uns alle einem größeren Plan unterordnen müssen. Ihr kämpft gegen das Unvermeidliche. “

„Unvermeidlich? “ Alina trat einen Schritt vor. Auch in ihr loderten Wut und Entschlossenheit, während sie gleichzeitig die Dunkelheit spürte, die von Malrik ausging. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr das Prisma ohne Vorbehalte überlassen hatte, doch die Bedrohung, die von ihm ausging, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. „Warum hast du mir das Prisma überlassen? Du wolltest, dass ich es benutze. Aber aus welchem Grund? “

„Weil es nicht nur euch beide betrifft, Alina. Ihr seid Teil eines viel größeren Spiels. “ Malrik stieß einen leisen, melancholischen Seufzer aus. „Du bist das Bindeglied, das den Fluss zwischen den Welten aufrechterhält. Doch das Prisma wird euch nicht vor eurem Schicksal bewahren. Es zeigt euch lediglich, dass es keinen Ausweg gibt. Und vielleicht. . . vielleicht ist das auch besser so. “

„Du bist ein Feind, Malrik“, erklärte Kael mit eisiger Entschlossenheit. „Das wird sich niemals ändern. “
Malrik antwortete nicht, sondern wandte sich langsam ab. „Wir werden uns wiedersehen, Kael. Und Alina . . . Du hast noch viel zu lernen. Doch sei vorsichtig, die Dunkelheit ist näher, als du denkst. “

Mit diesen letzten, bedrohlichen Worten tauchte er in die Dunkelheit ein und verschwand aus Alinas und Kaels Blickfeld, als wäre er niemals dort gewesen.

Kael verharrte noch lange regungslos, die Finger fest um den Griff seines Schwertes geklammert. Schließlich brach er das Schweigen: „Ich hasse ihn. Und doch weiß ich, dass er uns beobachten wird. Wir sind nur ein Teil von etwas, das wir nicht kontrollieren können. “

Alina betrachtete ihn nachdenklich. „Er hat mich gewarnt. . . Was, wenn er recht hat? “

„Dann müssen wir herausfinden, was das bedeutet – bevor es uns zerstört“, erwiderte Kael, und in seiner Stimme schwang eine Entschlossenheit mit, die Alina nicht ignorieren konnte.

Während der Schatten von Malrik sich weiter in der Dunkelheit verbarg, wurde Alina zum ersten Mal bewusst, wie sehr der Kampf um das Prisma und die Kontrolle über das Schicksal ihrer Welt sie alle miteinander verbinden würde – auf eine Weise, die sie sich nie hätte vorstellen können.

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