0.2 Die Wahrheit im Schatten
„Im Zwielicht, wo Schatten flüstern und das Licht die Wahrheit verbirgt, findet der Suchende nicht Antworten, sondern das Rätsel seiner eigenen Seele."
~ aus dem Schattenkompendium
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Die Dämmerung senkte sich wie ein schwerer Schleier über den Wald, als Alina ihren Weg fortsetzte. Der Himmel war in tiefrote Farbtöne getaucht, und das Zwielicht verzerrte die vertraute Welt um sie herum. Die Bäume wirkten wie stumme Wächter, deren Schatten wie drohende Finger über den Boden fielen. Alina zog ihren Mantel fester um sich und lauschte aufmerksam auf jedes Geräusch. „Nach Osten“, hatte die Botschaft gesagt. „Dorthin, wo die Schatten am tiefsten sind. “ Doch wonach suchte sie genau? Diese Antwort wusste sie nicht, doch ein innerer Drang drängte sie voran, ein pulsierendes Gefühl in ihrer Brust, dem sie nicht entkommen konnte.
Nach Stunden des Marschierens öffnete sich der Wald plötzlich zu einer Lichtung. In der Mitte ragte ein alter, verwitterter Obelisk empor, dessen Oberfläche mit seltsamen Symbolen bedeckt war. Alina blieb stehen und betrachtete das Monument. Es strahlte eine Aura aus, die sie gleichzeitig anzog und abstieß. Vorsichtig trat sie näher. Ihre Fingerspitzen strichen über die eingravierten Zeichen, die unter ihrer Berührung zu leuchten begannen.
Ein kühler Wind kam auf, und eine Stimme erklang – nicht laut, sondern wie ein Flüstern in ihrem Geist. „Suchst du Antworten, Alina? “
Sie wirbelte herum, sah sich um, doch niemand war zu erkennen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. „Wer ist da? “ rief sie, doch die Stille des Waldes war ihre einzige Antwort. Als sie sich wieder dem Obelisken zuwandte, bemerkte sie eine kleine Vertiefung in der Mitte des Steins. Ohne zu zögern, legte sie ihre Hand hinein.
Plötzlich war das Licht verschwunden. Die Welt um sie herum entfiel, und sie fand sich in vollkommener Dunkelheit wieder. Doch es war keine gewöhnliche Dunkelheit; sie hatte Gewicht und Substanz. Schatten bewegten sich und formten Gestalten, die flüsternd um sie kreisten.
„Du bist nicht die Erste, die hier sucht“, ertönte eine tiefe Stimme, und aus den Schatten trat eine Gestalt hervor. Es war ein hochgewachsener Mann in dunklen Gewändern, dessen goldbraune Augen wie bernsteinfarbene Flammen funkelten.
Alina wich einen Schritt zurück, zog ihren Dolch und hielt ihn mit zitterner Hand vor sich. „Wer bist du? Was willst du von mir? “
Der Mann lachte leise, fast mitleidig. „Ich will nichts von dir. Es ist die Macht, die dich hierhergeführt hat. Du suchst Antworten, doch du bist blind für die Fragen, die wirklich von Bedeutung sind. “
Wut stieg in Alina auf. „Hör auf, in Rätseln zu sprechen. Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es. “
Der Mann neigte leicht den Kopf, als würde er sie mustern. „Die Kraft, die du trägst, ist sowohl eine Last als auch ein Geschenk. Sie wird dich formen, wenn du sie nicht formst. Aber sei gewarnt: Jede Entscheidung, die du triffst, wird Schatten werfen. “
Bevor Alina etwas erwidern konnte, verblasste die Gestalt vor ihr, und die Dunkelheit schien sich zurückzuziehen. Plötzlich fand sie sich wieder auf der Lichtung, dem Obelisken direkt gegenüber. Ihre Hand zitterte, als sie ihn aus der Vertiefung hob. Die Symbole hatten ihr Leuchten verloren, doch etwas in ihr hatte sich verändert. Sie spürte es in ihrem Inneren: Eine neue Klarheit war erwacht, aber auch eine schwerere Last war auf ihren Schultern.
Als die Nacht über sie hereinbrach, begann sie, ein Lager aufzuschlagen. Der Wald war unheimlich still, nur das Rascheln der Blätter im Wind durchbrach die Stille. Während sie das Feuer entzündete, ließ sie die Worte des Fremden nicht los. Wer war er gewesen? Ein Geist? Ein Schutzwächter? Oder etwas ganz anderes?
Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sie hinter sich ein leises Knacken hörte. Instinktiv griff sie nach ihrem Dolch und drehte sich um. Zwischen den Bäumen nahm sie eine Gestalt wahr. Es war der Fremde aus der Ruine. Seine grauen Augen funkelten im Schein des Feuers, und diesmal war sein Blick weniger kalt. Er schien sie eingehend zu mustern, als würde er sie genau einschätzen.
„Du bist hartnäckig“, murmelte er leise. „Aber das allein genügt nicht, um zu überleben. “
Langsam erhob sich Alina. „Folgst du mir? “ fragte sie, ein Ausdruck aus Wut und Unsicherheit in ihrer Stimme.
Er trat näher, bis er am Rande des Feuers stehen blieb. „Ich folge nicht dir, sondern der Macht, die du trägst. Es ist eine Energie, die weder du noch ich vollends verstehen können. Aber sei vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst. Die Welt wird dich auf die Probe stellen, und nicht jeder, der dir zulächelt, ist ein Freund. “
Bevor Alina etwas erwidern konnte, wandte er sich abrupt ab und verschwand in den Schatten, als wäre er nie gewesen. Allein zurückgeblieben, war sie in einem Sturm aus Fragen und Unsicherheit gefangen.
Am nächsten Morgen setzte sie ihren Weg fort. Der Wald wurde dichter, und die Wege schlüpfriger. Dennoch spürte sie instinktiv, dass sie ihrem Ziel näherkam. Die Bäume schienen sich um sie zu schließen, die Schatten wurden länger, selbst im Tageslicht. Als sie schließlich den Wald hinter sich ließ, offenbarte sich ihr eine majestätische Klippe, die in eine tiefschwarze Schlucht hinabführte. Am Grund der Schlucht erkannte sie Ruinen, umhüllt von dichten Nebelschwaden.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dies musste der Ort sein, von dem die Botschaft gesprochen hatte. Doch wie konnte sie hinabsteigen? Der Abhang war steil und glitschig; ein falscher Schritt würde fatale Folgen haben.
Nach einer Weile entdeckte Alina einen schmalen, versteckten Pfad, der sich vorsichtig an der Klippe entlangwund. Schritt für Schritt setzte sie ihren Fuß behutsam auf den schmalen Weg, die Augen fest auf den Boden gerichtet. Der Wind pfiff um sie herum, und der Nebel wurde dichter, je tiefer sie hinabstieg.
Als sie schließlich den Grund der Schlucht erreichte, empfing sie kühl-feuchte Luft. Vor ihr erhoben sich die Ruinen in beeindruckender Erhabenheit. Massive Steinsäulen, überwuchert mit Moos und Flechten, ragten gen Himmel. Obwohl sie verfallen waren, strahlten sie eine stille Würde aus.
Vorsichtig trat sie in die Ruinen ein. Ihre Schritte hallten auf dem kalten Steinboden wider. In der Mitte der Ruine entdeckte sie einen Altar, auf dem ein schimmernder Dolch lag. Sein Griff war mit glitzernden Edelsteinen besetzt, und die Klinge schien aus purem Silber zu bestehen, während ein dunkler Schimmer über ihre Oberfläche tanzte. Alina spürte, wie eine tief verwurzelte Macht in ihr auf das Artefakt reagierte – als würde es sie still willkommen heißen.
Doch bevor sie näher treten konnte, bemerkte sie eine Bewegung hinter sich. Als sie sich umdrehte, traten mehrere Gestalten aus den Schatten hervor. Ihre Gesichter waren von Kapuzen verhüllt, und ihre Bewegungen waren geschmeidig wie die von Raubtieren.
„Du hast etwas, das uns gehört,“ verkündete eine der Gestalten mit einer Stimme, die kalt und bedrohlich klang.
Mit einem entschlossenen Griff zog Alina ihren Dolch und machte sich kampfbereit. „Kommt und holt es euch,“ erwiderte sie, auch wenn ihr Herz vor Angst heftig raste.
Die Gestalten stürmten auf sie los, und ein erbitterter Kampf entbrannte. Alina setzte alles daran, sich zu verteidigen, doch ihre Angreifer waren schnell und koordiniert. Sie fühlte, wie die Macht in ihr pulsierte, als würde sie sie antreiben. Plötzlich erstrahlte ein grelles Licht aus ihr, das die Angreifer für einen Moment blendete.
In diesem Chaos ergriff sie die Gelegenheit zum Angriff. Ihre Bewegungen waren präzise, beinahe instinktiv, als würde die Macht sie führen. Einer nach dem anderen fielen ihre Angreifer, bis in der Ruine nur noch bedrückende Stille herrschte.
Alina atmete schwer und spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie hatte gesiegt, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dies erst der Anfang war. In den Schatten verbargen sich weitere Geheimnisse und Gefahren, und sie fühlte sich alles andere als bereit, sich ihnen zu stellen. Doch sie hatte keine Wahl.
Mit einem letzten Blick auf den Altar und den schimmernden Dolch bereitete sie sich darauf vor, ihre Reise fortzusetzen.
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