0.1 Die Schatten der Vergangenheit
"Im Schatten der Wahrheit lauert oft die Frage, ob wir sie wirklich kennen wollen - oder ob wir uns selbst darin verlieren."
~ aus dem Schattenkompendium
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Die Sonne stand tief am Himmel, als Alina aus dem Wald trat. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung, ihr Herz schlug noch immer heftig. Der Kampf in der Ruine hatte sie nicht nur körperlich, sondern auch seelisch erschöpft. Sie war sich sicher, dass sie den Fremden nicht getötet hätte, selbst wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Doch was war mit ihr geschehen? Das Prisma, das nun scheinbar in ihr pulsierte, hatte etwas in ihr geweckt, das sie nicht verstand. Eine Macht, die ebenso faszinierend wie erschreckend war.
Das Dorf vor ihr lag still und ruhig, eine Ansammlung kleiner Häuser, die von den goldenen Strahlen der Abendsonne beleuchtet wurden. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf, und das leise Summen von Gesprächen drang zu ihr herüber. Dieser Anblick hätte sie beruhigen sollen, doch eine Unruhe nagte an ihr. Ihre Gedanken waren ein Wirrwarr aus Fragen: Was war das Prisma wirklich? Wer war dieser Mann, und warum hatte er sie getestet? Und vor allem: Was bedeutete das alles für sie?
Als sie die Dorfgasse betrat, zog sie den Umhang enger um sich. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, doch die Blicke einiger Dorfbewohner folgten ihr. Ihr Auftreten musste auffallen - eine junge Frau, allein und sichtbar erschöpft, mit einem Ausdruck, der mehr Fragen als Antworten versprach.
Eine vertraute Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Alina? Bist du das?"
Sie drehte sich um und sah Joran, den Schmied des Dorfes, auf sie zukommen. Seine breiten Schultern und die rußigen Hände zeugten von seinem Handwerk, doch in seinen Augen lag eine warme Freundlichkeit, die sie immer geschätzt hatte.
„Joran," antwortete sie mit einem schwachen Lächeln. „Ich... ich bin zurück."
Er musterte sie aufmerksam und zog die Stirn in Falten. „Du siehst aus, als hättest du dich mit einem ganzen Wolfsrudel angelegt. Komm, setz dich. Du brauchst etwas zu essen und eine Pause."
Er geleitete sie in die Schmiede, wo die Hitze des Ofens und der Duft von frischem Brot sie willkommen hießen. Joran legte ihr ein großes Stück Brot und einen Becher Wasser vor, doch Alina konnte nur wenige Bissen essen. Ihre Gedanken waren zu zerstreut.
„Was ist passiert?" fragte er schließlich, seine Stimme leise und besorgt. „Du bist seit Tagen verschwunden, und jetzt kommst du so zurück? Hast du etwas gefunden?"
Alina wollte antworten, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie konnte nicht einfach erzählen, dass sie ein uraltes Artefakt entdeckt hatte, das nun Teil von ihr war. Oder dass ein mysteriöser Mann sie angegriffen hatte, dessen Absichten sie nicht verstand.
„Es... es war schwieriger, als ich dachte," sagte sie schließlich ausweichend. „Ich habe etwas gefunden, aber ich muss noch herausfinden, was es bedeutet."
Joran sah sie lange an, doch er drängte nicht weiter. Stattdessen nickte er langsam. „Wenn du reden willst, ich bin hier. Aber pass auf dich auf, Alina. Manche Geheimnisse sind gefährlicher, als sie scheinen."
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Später, in der Dunkelheit ihres kleinen Zimmers, saß Alina auf ihrem Bett und starrte auf die Kette in ihrer Hand. Der Anhänger, der vorher unscheinbar gewesen war, pulsierte nun schwach in einem rhythmischen Takt. Es war, als wäre er lebendig. Sie erinnerte sich an die Worte des Prismas: „Ich bin das Gleichgewicht... und du bist mein Schlüssel."
Was bedeutete das? War sie nun ein Werkzeug für diese Macht? Oder war sie etwas anderes geworden? Und warum hatte sie das Gefühl, dass der Fremde mehr wusste, als er preisgegeben hatte?
Ihre Gedanken wurden von einem leisen Kratzen an der Tür unterbrochen. Sie fuhr erschrocken zusammen und griff instinktiv nach ihrem Dolch. Doch als sie die Tür öffnete, war es nur ein kleiner Rabe, der auf der Schwelle saß. Sein Kopf war leicht geneigt, und seine schwarzen Augen wirkten fast unnatürlich intelligent.
Der Rabe krächzte leise und flatterte auf die Rückenlehne eines Stuhls in ihrem Zimmer. Alina schloss die Tür und musterte den Vogel misstrauisch. „Was willst du?" fragte sie halblaut, halb in einem Versuch, ihre Angst zu lächern.
Zu ihrer Überraschung schien der Rabe sie zu verstehen. Er krächzte erneut und streckte seine Klauen aus, als wollte er etwas zeigen. In seinem rechten Fuß hielt er ein kleines Pergament. Alina nahm es vorsichtig, und der Rabe blieb ruhig sitzen, während sie das Papier entfaltete.
Die Nachricht war kurz:
*Du bist nicht allein. Suche die Wahrheit im Osten, wo die Schatten am tiefsten sind.*
Die Schrift war elegant und dunkel, und Alina spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. War das eine Warnung? Eine Einladung? Oder beides?
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, erhob sich der Rabe mit einem scharfen Krächzen und verschwand aus dem Fenster in die Nacht. Alina blieb mit der Nachricht in der Hand zurück, ihr Herz schwer vor Fragen.
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Am nächsten Morgen war der Himmel grau und bedeckt. Der Wind wehte kalt durch die Bäume, und Alina hatte das Gefühl, dass der Tag nichts Gutes verheißen würde. Sie packte ihre Sachen - den Dolch, ein wenig Proviant und die Karte, die ihr Vater ihr einst gegeben hatte. Ihr Blick fiel auf die Nachricht vom Vorabend, und sie faltete sie sorgfältig zusammen, bevor sie sie in ihre Tasche steckte.
Joran wartete vor der Schmiede, als sie aus ihrem Haus trat. Er schien sie bereits erwartet zu haben. „Du gehst wieder," stellte er fest, mehr als dass er fragte.
Alina nickte. „Ich muss. Da draußen gibt es etwas, das ich verstehen muss. Etwas, das... wichtig ist."
Er runzelte die Stirn, doch er hielt sie nicht auf. Stattdessen überreichte er ihr ein kleines Paket. „Das ist für dich. Eine Klinge, die ich geschmiedet habe. Sie ist nicht besonders, aber sie wird dir helfen, wenn du in Schwierigkeiten gerätst."
Alina nahm das Geschenk dankbar an und umarmte ihn flüchtig. „Danke, Joran. Für alles."
Ohne weiter zu zögern, wandte sie sich zum Gehen und trat erneut in den Wald, der nun dunkler und unheilvoller wirkte als je zuvor. Der Osten. Dort würde sie nach Antworten suchen.
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Die Reise war beschwerlich. Die Tage vergingen, und die Landschaft veränderte sich langsam. Die Bäume wurden dichter, ihre Schatten länger, und die Luft schwerer. Es war, als würde sie in eine andere Welt eintreten, eine, die von den normalen Regeln der Natur losgelöst war.
Nach drei Tagen erreichte sie ein verlassenes Dorf. Die Häuser waren verfallen, ihre Dächer eingestürzt, und der Wind spielte ein unheimliches Lied durch die leeren Fenster. Alina hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, doch sie konnte niemanden sehen. Sie suchte Schutz in einem der weniger verfallenen Häuser und bereitete sich darauf vor, die Nacht hier zu verbringen.
Doch kaum war die Dunkelheit hereingebrochen, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Ein leises Flüstern füllte die Luft, ähnlich dem, das sie in der Ruine gehört hatte. Ihre Hand glitt zu ihrem Dolch, doch bevor sie ihn ziehen konnte, tauchte eine Gestalt aus den Schatten auf.
„Du bist mutig, hierher zu kommen," sagte die Person. Es war eine Frau, ihre Gestalt schlank und geschmeidig, mit Haaren, die wie schwarzer Rauch flossen. Ihre Augen waren hell und durchdringend, und ein Lächeln spielte auf ihren Lippen.
Alina hielt den Dolch fest, ihre Stimme ruhig. „Wer bist du?"
„Jemand, der Antworten sucht, so wie du. Aber manchmal muss man die richtigen Fragen stellen, um sie zu finden."
Die Frau trat näher, und Alina spürte eine seltsame Energie, die von ihr ausging. Es war keine Bedrohung, aber es war auch keine Freundlichkeit.
„Die Schatten flüstern, Alina. Sie flüstern deinen Namen. Die Frage ist: Wirst du zuhören?"
Bevor Alina antworten konnte, verblasste die Gestalt, als wäre sie nie da gewesen. Zurück blieb nur die Dunkelheit, doch das Flüstern hallte in ihrem Inneren nach. Und Alina wusste, dass sie ihrer Bestimmung nicht länger entkommen konnte.
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