0.0 Das Flüstern der Zwielichtwelt

„Licht ist nur der Schatten dessen, was nicht gesehen wird. Dunkelheit ist der Hüter der verborgenen Wahrheiten.“
~ aus dem Schattenkompendium

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Die Nacht war kalt und still, als Alina leise durch den Wald schlich. Der Mond hing am Himmel wie ein zerbrochener Spiegel, dessen schwaches Licht nur mühsam durch die dichten Baumwipfel drang. Jeder Schritt knirschte sanft auf dem gefrorenen Boden, und dennoch schien jeder Laut in der tiefen Stille wie ein Donnerschlag zu hallen. Alinas Atem bildete kleine Wolken, die schnell im Schatten der Dunkelheit verloren gingen. Ihre Hand umklammerte den Griff des Dolches an ihrer Seite, obwohl sie wusste, dass keine Waffe sie vor dem beschützen konnte, wonach sie suchte

Vor ihr erstreckte sich die Ruine, geheimnisvoll verborgen zwischen den verdorrten Wurzeln der alten Bäume. Es war nicht mehr als ein zerfallener Tempel, dessen einst majestätische Mauern dem unerbittlichen Zahn der Zeit und der Natur zum Opfer gefallen waren. Dennoch verspürte Alina eine unbestimmte Anziehung – etwas schien sie hierher zu rufen. Seit Wochen hatte sie von diesem geheimnisvollen Ort geträumt, von den dunklen Hallen, den flackernden Lichtern und dem unheimlichen Flüstern, das ihren Namen leise hauchte.

Sie verharrte an der Schwelle, während ihre Finger sanft über das brüchige Steinwerk glitten. Eine merkwürdige Wärme schien von dem alten Gestein auszugehen, als ob es nach wie vor von der Macht durchzogen wäre, die hier einst regierte. Alina schloss die Augen, atmete tief ein und setzte dann ihren Fuß über die Schwelle.

Der Innenraum war dunkler, als sie es erwartet hatte. Nur der sanfte Lichtschein des Mondes drang durch die zerbrochenen Fenster und beleuchtete den Staub, der in der Luft tanzte. Doch das Flüstern, das sie hier hörte, war intensiver. Es war kein Geräusch, das ihre Ohren wahrnehmen konnten, sondern etwas, das tief in ihrem Inneren widerhallte. Wie ein Echo ihrer eigenen Gedanken, fremd und zugleich verlockend.

„Komm…“ hauchte eine Stimme, kaum mehr als ein Hauch. „Näher…“

Alina schluckte schwer. Instinktiv glitten ihre Finger zu ihrem Dolch, doch sie zog ihn nicht. Stattdessen ließ sie sich von dem Ruf leiten, trat vorsichtig und leise voran. Der Tempel führte in die Tiefe, eine gewundene Steintreppe, die sich in die Dunkelheit schlängelte. Ihre Fackel, die sie vor ihrem Aufbruch entzündet hatte, lag sicher in ihrem Gepäck, doch etwas hielt sie zurück, sie zu entzünden. Es war, als würde das Licht diesen Ort stören, als gehörte es nicht hierher.

Mit jedem Schritt wurde das Flüstern intensiver. Es formte keine Worte, sondern entblößte Gefühle – Neugier, Sehnsucht, Angst. Alina wusste nicht, wie lange sie die Treppe hinabgestiegen war, als sie schließlich auf die nächste Ebene trat. Der Raum, der sich nun vor ihr entfaltete, war gigantisch. Die Decke verschwand in der Dunkelheit, hoch und unergründlich, und in der Mitte des Raumes ragte etwas auf, das sofort ihren Blick fesselte.

Ein Prisma.

Es war nicht größer als ihre Handfläche, schwebte jedoch schwerelos in der Luft, umhüllt von einem sanften Licht, das in einem Spiel aus Farben tanzte. Blau, Rot, Gold – die Töne wechselten, als reagierten sie mit jedem ihrer Atemzüge. Alina trat näher, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Das Prisma schien lebendig, seine Facetten pulsierend wie das Herz eines geheimnisvollen Wesens.

Plötzlich wurde das Flüstern deutlicher.

„Du bist es… du bist diejenige…“

Alina erstarrte. Es war, als hätte das Prisma zu ihr gesprochen. Sie wollte zurückweichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Stattdessen spürte sie, wie eine unsichtbare Kraft sie vorantrieb, sie näher an das schimmernde Artefakt zog.

„Was… was bist du? “ flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.

„Ich bin das Gleichgewicht… und du bist mein Schlüssel“, antwortete die Stimme, klar und durchdringend. Sie schien sowohl von innen heraus als auch von außen zu kommen, und Alina fühlte sich von der Macht überwältigt, die ihre Sinne durchflutete.

Unwillkürlich hob sie ihre Hand. Ihre Finger zitterten, als sie die glänzende Oberfläche des Prismas berührte. In dem Moment, als ihre Haut das Artefakt streifte, brach um sie herum ein Chaos aus Licht und Schatten los. Alina schrie, doch der Klang wurde von der plötzlich einsetzenden Stille verschlungen.

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Als sie die Augen öffnete, lag sie auf dem kalten Boden. Der Raum hatte sich nicht verändert, doch das Prisma war verschwunden. Oder vielleicht doch nicht? Alina spürte ein seltsames Gewicht in ihrer Brust, ein Brennen, das weder wirklich Schmerz noch Freude war. Sie griff nach ihrer Kette – einem schlichten Silberanhänger, den sie seit ihrer Kindheit trug – und bemerkte, dass sich etwas verändert hatte. Der Anhänger fühlte sich warm und pulsierend an, als ob er lebendig wäre.

„„Was hast du mit mir gemacht?“ flüsterte sie, doch die Stimme des Prismas antwortete nicht.

Noch bevor sie aufstehen konnte, hörte sie ein Geräusch hinter sich. Schritte. Sie war nicht allein. Ihr Herz raste, und sie griff nach ihrem Dolch, zog ihn diesmal ohne zu zögern. Die Schritte näherten sich, und dann trat eine Gestalt aus dem Schatten.

Es war ein Mann, hochgewachsen und von einer unheimlichen Präsenz. Sein Gesicht wurde von einer schwarzen Kapuze verhüllt, und die wenigen sichtbaren Merkmale verrieten nichts über ihn – bis auf seine Augen. Sie waren grau, kalt und tief, wie eine stürmische See, in der sich Geheimnisse verborgen hielten. Sie leuchteten im schwachen Licht der Ruine, und sein Blick schien bis in Alinas Seele zu dringen. Malriks Bewegungen waren ruhig, fast lautlos, doch jede seiner Gesten hatte eine tödliche Eleganz, die an ein Raubtier erinnerte.

„Das Prisma hat dich erwählt,“ sagte er, seine Stimme wie flüsternder Stahl. „Doch du weißt nicht, was das bedeutet.“

Alina wich einen Schritt zurück, doch ihre Stimme blieb fest. „Warum bist du hier?“

Er schwieg einen Moment, als ob er ihre Frage abwog, bevor er mit leiser Stimme antwortete. „Um zu sehen, ob du würdig bist.“

Noch bevor Alina reagieren konnte, schoss er auf sie zu, seine Bewegungen so schnell und fließend, dass sie kaum reagieren konnte. Sie hob ihren Dolch, parierte instinktiv, doch der Aufprall seiner Klinge ließ Funken aus rotem Licht in die Dunkelheit sprühen. Die Kraft, die durch die Berührung der Waffen entstand, jagte wie ein elektrischer Schlag durch ihren Arm.

„Zeig mir, was das Prisma in dir geweckt hat,“ forderte er, sein Ton schneidend.

Ein Schwall von Energie durchfuhr Alina, und plötzlich wusste sie, was sie tun musste. Ohne nachzudenken, hob sie ihre Hand, und ein Strahl aus blendendem Licht brach aus ihren Fingerspitzen hervor. Malrik wich zurück, seine grauen Augen funkelten überrascht. Doch das Schattenlächeln auf seinen Lippen zeigte, dass er noch lange nicht besiegt war.

„Interessant,“ murmelte er, bevor er zurück in die Dunkelheit trat. „Wir werden uns wiedersehen, Alina Veylan. Deine Reise hat gerade erst begonnen.“

Und dann war er fort, ein Schatten, der sich in den Nebeln der Ruine verlor. Alina blieb zurück, das Prisma in ihrem Inneren pulsierend, ihre Gedanken ein Wirrwarr aus Fragen, die keine Antworten hatten. Doch eines wusste sie: Dies war erst der Anfang.

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