47.
Es ist wirklich schwer, mein Hirn davon zu überzeugen, dass es keine gute Idee ist, Jane meinen Stift in die Nase zu stecken, damit sie erstickt. Vor allem aber ist es noch viel schwerer, mich von dem Gedanken abzulenken. Natürlich haben wir uns einen Platz ausgesucht -Jane hat das freiwillig übernommen - und jetzt sind wir alleine in einem leeren Gang. Umgeben von Spinden, Frieden und Leere. Ich kann nichts dafür, dass mich das so früh am Morgen schon kirre macht.
»Wollen wir anfangen?«, bricht Jane die Stille zwischen uns und wedelt mit dem Frageblatt vor meiner Nase herum. Ich bin keine Fliege. Sie muss mich nicht vertreiben. Gehen würde ich auch freiwillig. Ich meine, aus irgendeinem Grund wird Mrs. Philosophie ja gemerkt haben, dass zwischen Jane und mir nicht alles so glatt läuft wie sonst immer für die Prinzessin.
»Na klar«, antworte ich sarkastisch. Ich will rein gar nichts machen, besonders nicht mit Jane, aber was sein muss, muss sein.
»Okay«, übergeht sie meinen Unwillen aber einfach und streicht sich durch die Haare, damit sie ihr nicht vor den Augen herumhängen. »Gibt es irgendetwas, was in deiner Vergangenheit nicht abgeklärt worden ist?«
Das ist die erste Frage? Und Jane stellt sie gerade mir? Ich glaube, sie hat vergessen, wer da zu wem total mies gewesen ist.
»Nope. Bei dir?«, stelle ich mich also zu meinem eigenen Wohl dumm, einfach weil mir gerade nichts Besseres einfällt. Ich habe keine Lust, all die alten Wunden, die Jane mir seelisch zugefügt hat, wieder aufzureissen. Nicht, nachdem sie so lange gebraucht haben, um zu verheilen.
»Ja. Wir müssen reden, Hope. Wir hätten das eigentlich schon vor einer verdammt langen Zeit machen müssen.«
Wie bitte? Ich meine, ganz Unrecht hat sie nicht. Wir hätten unsere Probleme damals vielleicht aus der Welt schaffen sollen. Ich will wirklich nicht ständig mit irgendjemandem streiten müssen, aber sie kommt jetzt auf die Idee? Ich meine, wieso? Ich habe ihr wirklich nichts getan und sie scheint einfach auf meinen Gefühlen herumtrampeln zu wollen. Ich kenne Janes Absichten nicht und auch wenn sie gut sein könnten, wieso sollte ich ihr glauben? Sie hat anscheinend Jahre gebraucht, bis sie überhaupt gemerkt hat, dass da nicht alles ganz so perfekt ist, wir gewohnt.
Als ich nichts sage, sieht sie das wohl als ihre Chance, um das Wort erneut zu ergreifen. »Ich habe mir dieses Thema gewünscht, Hope. Ich kann so nämlich nicht mehr länger leben und wir sind wirklich alt genug, um uns endlich auszusprechen.«
Wir sind damals eigentlich schon genug alt gewesen, um gar kein so riesiges Drama veranstalten zu wollen. Aber natürlich werfe ich ihr das nicht an den Kopf.
Sie hat mich alleine gelassen. Jane hat mich einfach alleine gelassen. Wir sind beste Freunde gewesen, und das meine ich nicht im Sinne davon, dass sie meine einzigr Freundin gewesen ist. Beinahe das gesamte Cheerleaderteam und einige der Footballer haben mir das Gefühl von Angehörigkeit und Wohlbefinden gegeben. Und dann hat sie sich geändert. Plötzlich bin ich nicht mehr gut genug gewesen. Grundlos. Es hat nicht an meinem Aussehen oder Charakter gelegen, sondern schlichtweg an mir. Ich hätte mich niemals ändern können, denn ich habe nicht einmal ihr Problem gekannt.
Plötzlich bin ich das komische Mädchen geworden. Die Aussenseiterin. Der Nichtsnutz. Der Mensch, mit welchem niemand abhängen wollte. Sie hat mich nicht mehr angesehen. Keiner hat es mehr getan. Ich habe nicht mehr existiert. Weiß Gott wieso. Ihre Ignoranz ist nicht einmal das, was mich am Meisten gestört hat. Es ist einfach dieses ständige beklemmte Gefühl gewesen. Die Traurigkeit in meinem Herzen. Die leise Stimme in meinem Kopf, die mich ausgeschlossen hat. Ich habe meine sogenannten Freunde vielleicht ansehen mögen, aber ich habe nur Fassaden gesehen. Mir haben nur noch falsche Lächeln gegolten - wenn überhaupt.
Und das alles aus keinem verdammten Grund. Die Welt hat mit den Fingern geschnippt und dann war ich alleine. Nicht, dass man nicht alleine klarkommt. Es braucht einfach eine Weile, sich daran zu gewöhnen, wenn man ein lautes und gröhliches Umfeld gewohnt ist. Wenn man ständig von Gelächter und Geplapper umgeben ist.
»Ich habe einen Fehler gemacht.«
Die Untertreibung des Jahrhunderts.
»Ich habe viele Fehler gemacht«, korrigiert sich Jane, als sie meinen ungläubigen Blick auf sich spürt. Ihr Gesicht ist dabei von innerlichem Unwohl vor Schmerz verzogen und sie knetet ihre Finger, um ihre Nervosität herunterzuspielen. Funktioniert hervorragend.
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Denn ich bin mir ganz sicher, dass es auch Fragen auf deinem dummen Blatt da gibt, die wir ebenfalls beantworten können.«
Jane schüttelt ihren Kopf und beißt sich dabei auf die Lippe. Traurigerweise weiß ich noch, dass sie das macht, um sich die Worte in ihrem Kopf zurecht zu legen.
»Ich habe dich damals eigentlich gar nicht so ausschliessen wollen. Das alles ist ein riesiges Missverständnis gewesen.«
»Es hat sich nicht nach einem Missverständnis angefühlt«, halte ich dagegen. »Und du hast es auch nicht so wirken lassen. Was auch immer du dabei genau gesagt oder gemacht hast. Du hast dich niemals korrigiert und falls du deinen Fehler bemerkt hast, hast du die anderen nie darauf aufmerksam gemacht.«
Nicht, dass es viel geändert hätte. Denn Jane ist neben all unseren restlichen Freunden immer die Wichtigste für mich gewesen. Doch offensichtlich hat das nicht auf Gegenseitigkeit beruht.
»Du hast Recht, Hope. Das habe ich nicht. Denn ich bin immer so unfassbar eifersüchtig auf dich gewesen«, presst mein Gegenüber hervor, und zum ersten Mal an diesem Tag zeichnet sich vermutlich so etwas wie Überraschung auf meinem Gesicht.
»Du? Auf mich?«, hake ich ungläubig hervor. Jane ist doch immer die Perfekte von uns beiden gewesen. Da hat es gar keinen Platz für Eifersucht gegeben. Sie hat immer alles gehabt und dann das? Wie soll ich ihr das denn bitte glauben?
»Ja. Ich bin eifersüchtig auf dich gewesen. Du hast immer alles so leicht gehabt und alle haben dich geliebt. Du bist gut in der Schule gewesen, ohne auch nur einen Finger rühren zu müssen. Du bist immer ruhig und friedlich gewesen. Deine Mom hat dich immer bedingungslos geliebt, und ihr habt nie ein drittes Familienmitglied gebraucht. Ihr seid eine kleine, vielleicht vor langer Zeit einmal gebrochene, aber nun wieder geheilte Familie gewesen und du hast immer gewusst, dass Zuhause immer nur deine Mom auf dich wartet. Keine Überraschungen, keine Typen, keine Dates. Nur ihr beide. Und du bist dir in allem immer so sicher gewesen. Ich habe das irgendwann einmal einfach nicht mehr ertragen, vor allem nicht, nachdem alles bei mir immer so abgekrüppelt gewesen ist.«
Jane holt tief Luft und ich starre sie ungläubig an. Sie tut mir leid und ganz ehrlich, es tut mir leid, wenn ich diese Wirkung auf sie gehabt habe, aber es ist trotzdem nicht okay von ihr gewesen.
»Mein Leben ist niemals perfekt gewesen. Deines, zumindest wenn ich dich richtig gedeutet habe, ebenfalls nicht. Und trotzdem machst du immer den Anschein. Ich erwarte die Wahrheit von dir ja nicht, aber wie willst du bitte erwarten, dass dich jemand versteht oder dir hilft - oder was auch immer du damals insgeheim von mir erwartet hast - wenn du alles perfekt darstellst. Verdammt, Jane! Ich hätte dir zugehört. In dem Alter wäre ich vielleicht keine grosse Hilfe gewesen, aber mit mir zu reden wäre jedenfalls moralisch besser gewesen, als mich abzuschotten und mich zu einem absoluten Aussenseiter zu machen!«
Und es macht mich wütend, dass in ihren Augen dieselbe Verzweiflung glänzt wie in meinen. Denn sie hat kein Recht, verzweifelt zu sein. Sie rechtfertigt sich. Das hilft mir jetzt auch nicht mehr weiter. Ich meine, es hat mich schon interessiert, was damals in sie gefahren ist, aber tut es ihr überhaupt leid?
»Ich wollte das auch gar nicht! Es tut mir leid, Hope. Es tut mir so leid, dass ich da nicht realisiert habe, dass diese Menschen dich nicht gemocht haben. Dass sie nicht hinter dir gestanden sind. Dass wir dich alle haben hängen lassen, aber ich habe mich zu dieser Zeit einfach nicht normal verhalten können.«
Mir brennen gerade so viele Beleidigungen auf der Zunge, aber am schlimmsten ist es wohl, dass sie recht hat. Die anderen haben mich nie verteidigt. Jane ist die Königin gewesen und ich das langweilige Nebenprodukt. Ich habe nie etwas machen können, um gut da zu stehen. Ich habe immer jemanden gebraucht. Ich habe Jane immer gebraucht. Damit habe ich sie wohl ein wenig ausgenutzt.
Und damit bin ich nicht umbedingt besser als irgendjemand anderes. Ich bin nicht besser als Jane, denn sie hat es geschafft sich von mir zu lösen, als sie die negativen Gefühle mir gegenüber gespürt hat. Ich wünschte nur, dass ich sie auch gespürt hätte. Dass ich nicht so viel Zeit damit verschwendet hätte, einfach nur zu versuchen, etwas besseres zu sein. Etwas zu sein, was ich gar nicht bin. Oder gewesen bin.
»Ich habe dich nicht im Stich lassen wollen und ich wollte dich nie verletzen, Hope. Und es tut mir leid, dass ich dir jetzt wortwörtlich dein Zuhause und deinen Vater nehme. Es ist nicht meine Entscheidung-«, setzt Jane an, doch ich unterbreche sie mit einem lauten Seufzer. Wir sind doch beide nicht komplett schuldig oder unschuldig.
»Du kannst mir keinen Vater nehmen, denn den habe ich sowieso nie gehabt. Mom und ich brauchen ausserdem sowieso kein so großes Haus. Natürlich schadet es niemandem, ein solches zu haben, aber wir brauchen es nicht. Eine kleine Wohnung macht es auch. Die ganze momentane Geschichte ist ja auch eigentlich nie mein Problem mit dir gewesen. Es hat zwar nichts zwischen uns besser genacht, aber gehasst habe ich dich nie, weil ihr dort einzieht. Ich habe einfach Angst vor einer Veränderung, wenn es darum geht, in neue vier Wände zu ziehen. Ich habr einfach nichts mit dir zu tun haben wollen, weil ich dich nie verstanden habe. Ein Teil von mir hat geglaubt, dass du mich immer nur so behandelt hast, weil du es konntest und weil du mir zeigen wolltest, wer der Boss gewesen ist. Oder aus irgendwelchem sonstigen bescheuerten Grund.«
Ihr Grund mag vielleicht noch immer fragwürdig sein, aber wenigstens bin ich nicht mehr so ahnungslos. Ich weiß, was da in ihr vorgegangen ist, und irgendwie hilft das meinem Hirn. Keine Ahnung, wieso.
»Du bist nicht mehr wütend auf mich? Und das nach fünf Minuten schon nicht mehr? Nachdem wir uns jahrelang gehasst haben?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich finde einfach, dass wir beide eingesehen haben, dass wir gar keinen Grund dazu haben. Ich mag dich vielleicht nicht, Jane, weil du nicht unbedingt mein Typ von Gesellschaft bist, aber worin liegt der Sinn, wenn man sich streitet, nachdem wir ja jetzt geklärt haben, was da passiert ist? Wir können aufhören, zu streiten, und gut ist. Diese dauernden Unstimmigkeiten machen meine Laune nämlich auch nicht besser«, meine ich.
Das überrascht mich zwar selbst, aber ich spüre, wie es mir nach diesen Worten schon besser geht, obwohl es mir eigentlich auch vorher schon gut gegangen ist. Aber ich schätze, dass es einfach eine Last gewesen ist, die schon viel zu lange auf meinen Schultern geruht hat, sodass ich sie gar nicht mehr bemerkt habe.
Vielleicht haben die japanischen Weisen ja doch recht gehabt, dass es bereichernd ist, wenn man vergibt. Auch wenn es in diesem Fall verdammt lange gebraucht hat. Brauchen wird.
Was denkt ihr, was noch aus Hope und Jane wird? Und findet ihr es gut, dass sie sich wieder vertragen haben (zumindest mehr oder weniger)?
Ich freue mich auf Meinungen und damit verabschiede ich mich auch schon, bis es morgen dann weiter geht...🤩
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