41.
Es ist ungefähr halb zwölf, als Shadow und ich vor dem Diner stehen und das Fahrrad betrachten, mit welchem wir hierhergekommen sind. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht loszulachen, als ich Shadows Blick sehe. Er hat sein Gesicht verzogen und es ist mehr oder weniger klar, dass er keine Lust mehr hat, sich seine Füße von mir malträtieren zu lassen.
»Wir können auch spazieren«, beschließe ich dann zu sagen. Es ist nicht so weit von hier bis zu mir nach Hause, genau genommen werden wir wahrscheinlich eine Viertelstunde brauchen, also ist das kein Problem für mich. Und für Shadow wahrscheinlich auch nicht.
»Ernsthaft?«, fragt dieser ungläubig. Seine Augen spiegeln eine Mischung aus erstaunt und erleichtert wieder, was mich irgendwie lächeln lässt.
»Natürlich. Wir können das Fahrrad ja schieben oder da lassen und dann morgen holen. Das ist kein Ding, ehrlich.«
Ich meine, Fahrrad fahren zu lernen ist witzig gewesen, aber jetzt würde ich es angenehmer finden, einfach mit dem Prinzen durch die Strassen zu spazieren und die Dunkelheit zu genießen, die von den Strassenlichtern leicht erhellt wird. Die Atmosphäre ist irgendwie magisch und ich finde, dass ich das auch auskosten möchte.
Vielleicht möchte ich auf spazieren, da laufen länger geht als Fahren und ich irgendwie nicht möchte, dass dieser Abend endet, auch wenn das offensichtlich irgendwann einmal der Fall sein wird.
Ich möchte schon das Fahrrad nehmen und schieben, einfach damit Shadow das nicht tun muss, doch dieser hat andere Pläne. Er verschänkt seine Finger mit meinen und nimmt mit seiner freien Hand das Fahrrad. In mir breitet sich sofort wieder das wohlige Kribbeln auf und ich kann ein glückseliges Lächeln nicht verhindern. Der Prinz tut es mir gleich und wir gehen für eine Weile lang schweigend durch die Gegend.
Ich weiß nicht, ob die Dunkelheit daran schuld ist, doch irgendetwas lässt die ganze Situation irgendwie nervenkitzelnd wirken. Mein ganzer Körper steht in Shadows Bann und meine Finger klammern sich an ihn, als wäre er mein Anker. Er tut dasselbe und von einem Moment auf den anderen sind wir nicht mehr einfach nur zwei beglückte Teenager, die spät am Abend durch die Strassen schlendern. Wir sind zwei Jugendliche, die gemeinsam durch die Strassen gehen. Unsere Augen mögen vielleicht auf die Dunkelheit vor uns gerichtet sein, doch unsere Herzen schlagen in dem Moment ein und denselben Rhytmus.
Meines lässt mich die Umgebung vergessen und sich auf Shadow konzentrieren. Es geschieht nicht einmal absichtlich. Aber wenn er da ist, dann ist er irgendwie das Einzige, das ich sehen will. Er ist das Einzige, was ich wahrnehme. Shadow nimmt meine Welt momentan heftiger ein als ein Wirbelsturm, aus dem ich mich zu lösen versuche. Auch wenn ich mich gar nicht von ihm lösen will. Ich möchte nicht alleine in meinem Zimmer sitzen und irgendein Buch lesen, sondern viel lieber die Welt selbst in die Hand nehmen und etwas entdecken. Mit ihm.
Ich hätte beispielsweise auch niemals freiwillig Fahrrad fahren gelernt. Doch wenn er da ist, dann haben die Dinge einen anderen Einfluss auf mich. Lieder werden zu kunstvoller Perfektion und Augenblicke werden zu Momenten. Zu Dingen, die ich nicht loslassen will. So wie ich ihn nicht loslassen will.
Ich will meine Hand nicht einmal von Shadows lösen, als wir vor meiner Haustüre stehen. Der Abend ist nicht nur schön gewesen, er ist perfekt gewesen. Es ist der schönste ungeplante Abend gewesen, den ich jemals gehabt habe. Also von mir ungeplant. Shadow hat sich da natürlich schon etwas überlegt und ich bin froh, dass ich ihm die Führung überlassen habe und er mir nicht alles verraten hat.
»Es ist bald Zwölf«, reisst mich der Prinz dann irgendwann doch noch aus meinen Gedanken. Wir stehen vor meiner Haustür, das Fahrrad hat er an ein Strassenschild angelehnt und nun sind wir uns gegenüber. Wir sind uns unglaublich nahe, sodass ich sogar seinen trotz der Kälte warmen Atem auf meinem Gesicht spüren kann. Er hält beide meine Hände in seinen und ich müsste jetzt eigentlich reingehen.
»Du solltest vielleicht rein, Cinderella«, neckt Shadow mich, worauf ich meine Augen verdrehe. Er spielt sowas von auf die Sache mit der Uhrzeit an.
»Ich hätte dir gar nicht so viel Disney-Wissen zugesprochen, Prinz«, meine ich und lehne meinen Kopf ein wenig nach hinten, um ihm besser in die Augen sehen kann.
»Natürlich hast du das nicht. Du hast mein Wissen ja auch noch nie auf dieser Stufe geprüft.«
Und weil ich darauf nichts zu sagen habe, nehme ich meine Hände aus Shadows, nur um sie dann auf seine Schultern zu legen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und lehne ihn zu mir nach unten. Und dann treffen meine Lippen auch schon wieder auf seine.
Dieser Kuss ist vielleicht weder stürmisch noch besonders sanft, es ist viel eher die Art von Kuss, durch die man jemandem etwas vermitteln kann. Ich bewege meine Lippen sanft, aber bestimmt auf seinen, um ihm zu zeigen, dass ich den Abend toll gefunden habe und ich das nicht so erwartet habe. Ich spiele mit den kleinen Härchen in seinem Nachen, um ihm zu zeigen, dass ich Spaß gehabt habe. Ich beiße ihm irgendwann noch sanft auf die Unterlippe, um zu zeigen, dass wir das definitiv wiederholen könnten und ich mich daran gewöhnen kann, auch wenn ich jetzt langsam echt gehen sollte, wenn ich nicht den Ärger meiner Mutter einkassieren möchte.
Vor allem nicht nach so einem Abend.
Als ich fertig bin, löse ich mich außer Atem von ihm. Meine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig und ich bin mir sicher, dass das von meinem heftig klopfendem Herzen und dem Kribbeln in meinem Magen kommt. Shadow sieht ungefähr so mitgenommen aus und ich beiße mit auf die Lippen, um nicht darüber zu lächeln, dass ich dieselbe Wirkung auf ihn habe wie er auf mich.
»Gute Nacht«, murmle ich irgendwann in die Stille herein und stolpere unbeholfen einige Schritte zurück, weil ich mich sonst womöglich niemals auch nur einen Millimeter in Richtung Tür bewegt hätte.
»Dir auch. Schlaf gut«, gibt Shadow zurück und weicht ebenfalls einige Schritte zurück, einfach in die entgegengesetzte Richtung von mir. Natürlich löst das den unerklärlichen Drang in mir aus, sofort zu ihm zu gehen und ihn nicht einfach hier verschwinden zu lassen, auch wenn ich weiß, dass ich ihn morgen in der Schule wieder sehen werde.
»Shadow!«, rufe ich also, sobald er sich umdreht, einfach um seinen Anblick noch ein letztes Mal geniessen zu können.
»Ja?«, fragt er ein wenig verwirrt und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich bevorzuge Bambi«, meine ich ziemlich lahm. Bambi ist irgendwie mein Name bei Shadow geworden und mir ist gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich es mag, wenn er mich so nennt. Bis er mir vorher einen anderen Spitznamen verpasst hat.
Ein schüchternes Lächeln bildet sich auf seinen Lippen aus und ganz ehrlich gesagt ist es das schönste, welches ich jemals an ihm gesehen habe. Es ist viel zu entwaffnend für mein armes, kleines Herz. Dabei hat er nämlich einen Mundwinkel höher nach oben gezogen als den anderen und dadurch werden seine Zähne halb entblößt, was ihn irgendwir strahlend wirken lässt, auch wenn in seinen Augen schüchterne Vorsicht und ein Fünkchen Stolz brennt.
»Ich auch«, meint er simpel, worauf mein Herz einmal mehr Purzelbäume schlägt, weil das wahrscheinlich bedeutet, dass er mich wieder Bambi nennen wird.
»Schreib mir, wenn du Zuhause bist«, breche ich die Stille zwischen uns dann noch einmal. Wenn er mir schreibt, muss ich mir nämlich keine Sorgen machen, ob er gut nach Hause gekommen ist und da man von mir aus schon noch ein rechtes Stück bis zu ihm hat und es schon dunkel ist und er alleine unterwegs ist, müsste ich mir sonst schon Sorgen um ihn machen.
»Werde ich. Und jetzt geh endlich rein, sonst lässt deine Mutter uns nie wieder ausgehen«, befiehlt er spielerisch und zwinkert mir zu. Ich kann mir vorstellen, dass meine Wangen rot sind, aber jetzt weiß ich wenigstens, dass er irgendwann einmal wieder gerne mit mir ausgehen würde.
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