15.

Es gibt Dinge im Leben, die einen alles an sich vorbeischweifenlassen. Es kann eine Liebeserklärung sein. Ein Geschenk, dass dein Leben verändert, es kann ein Moment sein, den man sich niemals so hätte vorstellen können. Oder es ist ein Geständnis. Etwas, mit dem man niemals in deinem Leben gerechnet hätte.

Daher merke ich anfänglich auch nicht, dass ich plötzlich nicht mehr alleine auf dem verregneten Platz bin - mitten in der Nacht. Ich merke es erst, als es zu dem Regen noch beginnt zu winden, wodurch mir noch einen Hauch kälter wird, und ich dann den Rauch eines Joints riechen kann. Verwirrt rümpfe ich die Nase, ehe ich mich umdrehe, sodass ich den Typen sehen kann.

Er ist wahrscheinlich in meinem Alter, so sieht er zumindest aus, und auch wenn er mich direkt anstarrt, habe ich nicht Angst oder etwas in der Art. Hoffentlich ist er kein Psycho.

Dann bleibt ja nur noch die Frage offen, wie er es geschafft hat, sich seinen Joint anzuzünden bei dem Wetter.

»Was machst du hier?«, fragt er mich schliesslich. Ich kann es ihm nicht verdenken. Es ist Nacht, morgen gehe ich zur Schule, es regnet wie verrückt und ich spiele nicht einmal Basketball hier.

»Ich verstecke mich«, antworte ich etwas unsicher. Ist es klug, sich einem Wildfremden anzuvertrauen? Andererseits...er kennt mich ja nicht, was will er also schon machen?

Ein weiterer dummer und naiver Gedanke, denn mit den meisten Vergewaltigern ist man ja nicht unbedingt verwandt, aber der Junge nähert sich mir keinen Schritt, es liegen also immer noch ungefähr drei Meter zwischen uns.

»Aha. Sieht aus, als würde es funktionieren.«

Ich zucke mit meinen Schultern.

»Und du?«

»Ich verstecke mich nicht«, sagt er, nicht ohne vorher noch einen Zug zu rauchen. Was für ein Klugi.

»Das sehe ich. Aber du scheinst etwas vergessen zu wollen.«

Das ist doch das, was alle machen, die Joints rauchen. Entweder sie kommen mit einem Geschehnis nicht klar oder sie wollen vergessen, was vor ihnen liegt, nachdem etwas passiert ist.

»Richtig. Also, vor wem versteckst du dich?«

Vor so ziemlich allen Menschen, die ich kenne, oder die mich kennen könnten.

»Vor meiner Mom. Sie ist wütend auf mich.«

Und frustriert von meiner Existenz. Dabei trägt sie die Schuld daran. Hätte sie nicht an Verhütung denken können, wenn sie mich schon nicht richtig gewollt hat?

»Meine ist auch wütend auf mich. Was hast du denn gemacht?«

Ich atme, würde ich am liebsten sagen, aber es kommt mir nicht über die Lippen. Ich hoffe noch immer, dass sie das aus reiner Wut auf mich zu mir gesagt hat, doch diese Hoffnung schindet mit jeder Sekunde, die ich hier draussen verbringe und sie nicht kommt. Dabei habe ich einen typisch-Hope Platz ausgesucht.

»Ich habe Sport gemacht, während ich verletzt gewesen bin«, erkläre ich und halte meine Hand hoch, dessen Verband auch nichts mehr taugt. Er hätte wahrscheinlich nicht nassen werden dürfen, damit die Salbe richtig einwirken kann. Tja, dafür ist es jetzt leider zu spät.

»Dann bin ich nicht sofort nach Hause gekommen und habe den Zorn meiner Mom richtig aktiv gemacht.«

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Als wäre es normal. Als wäre das normal. Als würde mir das alles nichts ausmachen. Nicht einmal der Schauerregen, den ich sonst immer so hasse, wenn ich darunterstehe.

»Bist du sicher, dass das nicht an deinen Geschwistern liegt und sie einfach ihre Wut an dir auslässt?«

»Welche Geschwister?«, frage ich ironisch.

Ein trauriges Lächeln liegt auf meinen Lippen, als ich merke, dass der Typ tatsächlich versucht, mir bessere Laune zu machen. Er verzieht das Gesicht und eine Weile ist es still. In diesen wenigen Sekunden kommt es mir zum ersten Mal heute Abend nicht so vor, als würde der Regen auf mich eindreschen, es ist ein wenig friedlicher.

»Ich bin von meiner alten Schule geflogen«, beginnt der Typ schliesslich. »Meine Mom ist unglaublich sauer auf mich und hat mir gesagt, dass sie nicht will, dass ich wieder zu ihr komme. Ich würde ihren Ruf ruinieren oder so was.«

Er zuckt mit den Schultern, mindestens so gleichgültig wie ich vorher, doch nur schon an der Tatsache, dass er diesmal viel länger an dem Joint zieht als vorher, lässt mein schlechtes Gewissen wieder aufkeimen.

Ich meine, er ist von seiner Mutter verstossen worden, während ich von meiner indirekt beleidigt worden bin. Da liegt ein gewaltiger Unterschied dazwischen. Und weil ich nicht weiss, was ich dazu sagen soll, rutsche ich zu ihm, bevor ich ihm die Schulter tätschle. Er soll wissen, dass er mit mir reden kann, auch wenn ich ihn kaum kenne.

»Das ist eigentlich gar nicht so schlimm, weil ich sowieso nicht mehr bei ihr wohne, aber ich will nicht, dass sie meiner Schwester jetzt das Leben zur Hölle macht. Wir sind Zwillinge, und deshalb denkt Mom immer, dass wir dasselbe machen, auch wenn wir total anders sind.«

»Was ist denn passiert?«, rutscht es mir so unsensibel heraus, dass ich mich dafür ohrfeigen könnte. Dank meinem Gesichtsausdruck beginnt er zu lachen, während ich mich langsam echt frage, wieso ich ihm nicht schon vorher begegnet bin. Er scheint nett zu sein. Ich muss ihn echt langsam fragen, wie er heisst.

»Ich bin froh, dass du fragst, denn ehrlich, das machen nicht viele. Meine Mom glaubt einfach dem Direktor. Sie haben mich gefilzt und Drogen in meinem Schliessfach und Rucksack gefunden. Eigentlich wäre das gar nicht so schlimm gewesen, wenn das meine gewesen wären. Sind sie aber nicht. Ich habe nur Zigaretten und eigentlich rauche ich ja auch keine Joints, aber im Moment habe ich das echt nötig. Tut mir übrigens leid, wenn dich der Geruch stört.«

Irgendwie bin ich erleichtert, dass er nicht von der Schule geflogen ist, weil er etwas gemacht hat, sondern dass er gewissermassen unschuldig ist.

»Kein Problem. Ich bin übringens Hope.«

Ich strecke ihm erwartungsvoll die Hand aus, sodass er mich mit hochgezogener Augenbraue angrinst.

»Edan, aber ich bevorzuge Ed. Ich will nicht zu förmlich oder reich klingen.«

»Nachdem das genau unsere Realität ist«, seufze ich, als er meine Hand schüttelt, um die Theathralik zu unterstreichen.

»Das ist irgendwie wie im Kindergarten«, sagt Ed schliesslich. »Man freundet sich mit jedem an, obwohl man einen grossen Teil seiner Geschichte gar nicht kennt.«

Ich schnaube.

»Ich weiss gar nicht, wieso alle den Kindergarten so toll und friedlich finden. Ich habe schon im Kindergarten Probleme mit einigen Menschen gehabt, die mich aus heiterem Himmel gehasst haben.«

Und mit diesem Satz bricht das Eis zwischen uns beiden eindeutig, auch wenn ich den Kindergarten in meinem Kopf selbst immer positiv darstelle.

»Ich denke, ich sollte langsam nach Hause. Und du solltest das auch machen. Wenn du nicht zu deiner Mom willst, kannst du auch zu mir kommen. Ich habe ja eine eigene Wohnung. Und ich kann dir deine Hand wieder in Ordnung bringen. Ausser natürlich, du willst krank werden.«

Ich überlege einen Moment lang tatsächlich, ob ich zu Ed nach Hause gehen sollte. Ich kenne ihn schliesslich kaum.

»Wo wohnst du denn?«

»Da drüben«, sagt er und deutet auf einen Block direkt gegenüber dem Basketballplatz. »Du kommst auch lebend und gesund wieder raus. Ich denke nur nicht, dass es klug ist, dass jetzt jemand von uns alleine ist...oder hier draussen.«

Ich nicke zustimmend, bevor mir überhaupt klar wird, was ich da eigentlich tue. Aber was soll mir dieser blonde Metallica-Liebhaber schon machen? Er hat schon so genug Probleme. Ich hoffe es zumindest.

»Okay. Machst du mir eine heisse Schokolade?«, frage ich, als mir klar wird, wie kalt es hier tatsächlich ist.

»Nein«, antwortet Ed schneller, als dass ich meine Frage noch begründen kann. Einen Moment lang sehe ich ihn verwirrt an. Nett.

»Ich meine, ich würde dir schon eine machen, aber ich habe noch nie zuvor eine heisse Schokolade gemacht. Noch nie in meinem ganzen Leben. Wenn du mir sagst, was ich machen muss, kriegst du eine, ohne Frage«, lächelt er entschuldigend, während wir uns in Bewegung setzen. Sich jetzt noch zu beeilen, bringt auch nicht mehr viel, wo wir doch schon sowieso klatschnass sind.

»Danke, Ed. Und ich meine damit nicht die heisse Schokolade, sondern, dass du zu mir gekommen bist.«

Wer liebt heisse Schokolade auch so?
Und meint ihr, dass Edan vertrauenswürdig ist?

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