Kein Weglaufen mehr, kein Zurück mehr

Hallo Ihr Lieben,

ja ich lebe noch :).

Einen dicken fetten Kuss an alle, die mir so liebe Kommentare geschrieben und sich sogar Sorgen um mich gemacht haben.

Viel Spaß mit dem neuen Kapitel.

***

Vor Schreck entgleitet mir die Maus und landet mit einem dumpfen Scheppern auf dem Boden. Wie benebelt starre ich auf den Bildschirm, lese Christians E-Mail wieder und wieder. Ich muss träumen, denke ich und kneife mir in den Oberschenkel. Ein brennender Schmerz durchzuckt mich und beweist, dass ich hellwach bin. Was bedeutet, dass dies hier real ist, was wiederum bedeutet, dass diese E-Mail real ist.

„...Da ich mich in einigen Tagen in London aufhalte, können Sie mir sehr gerne bei einem Abendessen, ihr Engagement und ihre überaus interessanten Motivationen für dieses Projekt näherbringen. Im Übrigen, möchte ich mir das zukünftige Klinikgelände ansehen und würde mich sehr freuen, wenn Sie mich begleiten würden..."

 

Die schwarzen Buchstaben bohren sich in meinen Verstand und drängen unbarmherzig weiter. Wie eine Bombe platzt die Erkenntnis in meinem Kopf. Christian wird wirklich und wahrhaftig nach London kommen. Ich bekomme keine Luft mehr und mein Magen krampft sich ruckartig zusammen. Im nächsten Moment fange ich hysterisch an zu Kichern, was wenig später in ein unkontrolliertes Schluchzen übergeht. Ich kann nicht einmal sagen, ob es vor Glück oder vor Entsetzten ist. Ich bin das reinste Nervenbündel, stehe kurz davor durchzudrehen und zu allem Überfluss ist mir auch noch speiübel.

Mit bebenden Schultern und schweißnassen Händen, krieche ich unter den Schreibtisch, um die Überreste meiner Maus wieder einzusammeln. Ich muss mich unbedingt beruhigen und einen klaren Kopf bekommen, bleibe aber verzweifelt auf dem Boden sitzen und raufe mir die Haare. Der Super-Gau ist eingetreten und es liegt nicht mehr in meiner Macht es aufhalten.

Gestern der heftige Zusammenstoß mit Elena, den ich erst einmal verarbeiten wollte, bevor ich mir überlege, wie ich nun am besten vorgehe, ohne noch jemanden zu verletzen. Und nun hat Christian mir die Handlungsmöglichkeiten aus den Händen genommen und ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, ihm gegenüberzutreten. Natürlich ist es mein sehnlichster Wunsch ihn wiederzusehen, seit dem ich weiß, wie sehr er unter meinem Verlust gelitten hat. Ich will ihm in die Augen sehen, ihm sagen wie leid es mir tut, damals so unüberlegt gehandelt zu haben.

Das Problem ist, dass ich diejenige sein will, die das Wann und Wo bestimmt. Ich will mich darauf vorbereiten, mir Worte zu Recht legen, mit denen ich versuche ihm zu erklären, warum ich gegangen bin und welche Rolle Elena spielt. Ich will mir über alle möglichen Szenarien den Kopf zerbrechen und eine Möglichkeit finden, wie wir vielleicht wieder zueinander finden können, sofern Christian dies nach so einer langen Zeit überhaupt noch in Betracht zieht und er überdies in der Lage ist mir zu verzeihen. Schließlich bin es ja nicht nur ich, die ihm gegenübertreten wird, sondern da ist auch noch sein Sohn, dem ich ihm vorenthalten habe.

Es gibt noch so viel zu bedenken, bevor ich Christian gegenübertreten kann und doch soll es schon in ein paar Tagen soweit sein? Das scheint mir unvorstellbar und dennoch bin ich hin- und hergerissen zwischen unbändiger Vorfreude und einem unsagbar schlechten Gewissen. Kann ich Christian wirklich nach drei Jahren unter die Augen treten und muss ich ihn vorher über mich aufklären oder soll lasse ich ihn ins offene Messer laufen?

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, die ich unter meinem Schreibtisch hocke und die zerstreuten Einzelteile meiner Maus betrachte. Ich lächle wehmütig bei diesem Anblicke. Es ist ein Sinnbild meines Lebens, denke ich. Vorsichtig nehme ich ein Teil in die Hand und wende es hin und her, dann greife ich nach dem nächsten. Sie passen zusammen. Ich lächle. Und dann noch eins und noch eins. Als ich das letzte Teil einsetze und die Batterien wieder einlege, fängt das rote Lämpchen auf der Unterseite wie wild an zu blinken. Mein Herz klopft und eine Träne läuft meine Wage herunter. Wenn es doch nur so einfach wäre, auch mein Leben wieder zusammenzusetzen. Ich wünsche es mir aber Hoffnung habe ich keine.

Drei Stunden später gehe ich nachdenklich an der Themse entlang und genieße den leichten Nieselregen und den frischen Wind, der mir ins Gesicht bläst. Für heute bin ich im Büro entschuldigt. Meine Kollegen haben mich nachhause geschickt, als mich eine Mitarbeiterin auf der Toilette würgen hörte. Ich war erleichtert, denn mir war wirklich sehr flau im Magen, was allerdings nichts mit einer Magenverstimmung  zu tun hatte. Aber das erzählte ich ihnen natürlich nicht.

Selbst Thomas scheint mir zum Glück verziehen zu haben. Er war rührig und bot mir sogar an, mich zum Arzt zu fahren, was ich natürlich mit fadenscheinigen Gründen ablehnte. Ich freue mich aber, dass er sich bereit erklärte meine heutigen Termine zu übernehmen. Ich weiß, wir müssen noch einmal über das Vorgefallene reden, aber das muss warten. Dennoch denke ich erleichtert, dass es Thomas mir, nach seiner heutigen Fürsorge für mich, nicht schwer machen wird. Er hat mich sogar aufmunternd angelächelt und auf die Wange geküsst. Mir ist ein riesen Stein vom Herzen gefallen, denn mir ist bis dahin nicht bewusst gewesen, wie sehr mich dieser nicht hätte stattfinden dürfender Kuss, aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

Bei der ganzen Anteilnahme an meiner „Krankheit", meldet sich mein schlechtes Gewissen schon wieder. Es ist mir unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen und die besorgten Blicke meiner lieben Kollegen auf mir zu spüren. Bin ich eine Betrügerin? Ein wenig komme ich mir so vor, denn krank bin ich ja eigentlich nicht. Oder ist man während eines Schockzustandes doch als krank anzusehen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich mich hundeelend fühle und Angst davor habe, nicht stark genug zu sein, für das Kommende.  

Was mache ich mir eigentlich vor? Ich muss mir die zwei Möglichkeiten die ich habe nur vor Augen führen und mich für eine von beiden entscheiden. Und das möglichst noch heute, wenn ich nicht an meiner inneren Zerrissenheit zerbrechen will. Ich brauche ein Ziel vor Augen, auf das ich mich konzentrieren und zusteuern kann. Wenn ich mich für einen Weg entschieden habe, gibt es kein Zurück mehr. Also was bleibt mir? Entweder ich laufe wieder weg, was zur Folge hätte, dass ich meinen Sohn aus seinem gewohnten Umfeld reißen muss und mich aus meinem geliebten Job und der damit einhergehenden Existenzgrundlage. Das würde bedeuten, dass ich für uns, an einem anderen Ort, ein neues Leben aufbauen muss und ich wieder einsam und auf mich selbst gestellt wäre. Allein dieser Gedanke lässt mich frösteln. Ich will hier nicht weg und ich will, dass Christian glücklich aufwächst. Er ist ein fröhlicher kleiner Junge, der gerne lacht und dessen Augen leuchten, wenn wir uns mit Menschen umgeben, denen er vertraut und die er liebt. Sein Glück und Seelenfrieden kann ich unmöglich aufs Spiel setzen. Er ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Schon als Baby, als er noch als kleines Häufchen im Brustkasten lag, habe ich ihm geschworen, ihn zu lieben und auf ihn aufzupassen und dafür zu Sorge zu tragen, dass die Steine, die ihm in den Weg gelegt werden, nur Kieselsteine sein werden. Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich es wäre, die dafür verantwortlich ist, dass sein Leuchten verschwindet? Da ich weiß, dass ich diese niemals zulassen werde, mir die Frage nach meiner Wahlmöglichkeit selbst beantwortet.

Ich werde nicht mehr weglaufen!

Mittlerweile bin ich bis auf die Haut durchnässt. Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass ich schon seit zwei Stunden unterwegs bin, nur bekleidet mit meinem Bürokostüm und einem dünnen Trenchcoat. Meine Hände sind eiskalt und ich friere, aber innerlich ist mir kochend heiß. Mein gefasster Entschluss endlich positiv in die Zukunft zu blicken und mich mit Christian zu treffen, egal mit welchen Konsequenzen, beflügelt mich und lässt meinen ganzen Körper vibrieren. Ich fühle mich auf einmal so lebendig, so stark. In jeder Pore meines Körpers kann ich das Leben spüren. Warum habe ich es mir nur so schwer gemacht? Natürlich ist da die Ungewissheit, über die ich jetzt noch nicht nachdenken kann, dass mich Christian längst vergessen hat und auch seinen Sohn verleugnet. Aber wer bin ich, wenn ich es nicht einmal versuche? Ich will mich in ein paar Jahren nicht fragen müssen: >>Was wäre gewesen, wenn?<<

Mir ist der Gedanke lieber, dass ich sagen kann: >>Ich habe es versucht.<<

Und außerdem kann ich Christian die Entscheidung nicht abnehmen, sich für oder gegen seinen Sohn zu entscheiden. Ich weiß, er wollte nie Kinder. Aber Christian hat nun mal einen Sohn und braucht dieses Wissen, um sich entscheiden zu können.

Beschwingt neige ich meinen Kopf gen Himmel, breite meine Arme weit aus und drehe mich im Kreis. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmt mich, als ich laut zu jubeln beginne.

Die Leute, die an mir vorbeijoggen und mir von der Seite merkwürdige Blicke zuwerfen, interessieren mich nicht. Ich spüre die innere Befreiung. Ich habe die Ketten gesprengt, die Dämonen verjagt. Es fühlt sich so gut an, endlich wieder frei atmen zu können, denn ich lebe!

Um 15:00 Uhr stehe ich bei Christians Nanny vor der Tür. Wir gehen heute ins Kino. Ich bin noch schnell zuhause vorbei gefahren und habe mich umgezogen. José war leider nicht mehr da und hat auch keine Nachricht hinterlassen. Ich bin schon ein wenig geknickt, hoffe aber, dass er sich heute Abend meldet.

Mein Sonnenschein hat mich schon sehnlichst erwartet. „Mommy! Da bist du ja. Wir kommen noch zu spät!", schmettert mir mein Kind aufgebracht entgegen und schlüpft dabei hüpfend in seine Turnschuhe. Im nächsten Moment verabschiedet er sich eilig von den anderen Kindern und seiner Nanny, greift nach meiner Hand und zieht mich hinter sich nach draußen. Er lässt mir nicht einmal die Zeit, mich bei seiner Nanny zu erkunden, wie der Tag war. Sie lacht nur, winkt mir zu und schließt hinter uns die Tür.

„Hallo mein Kleiner. Ich freue mich auch dich zu sehen. Hattest du einen schönen Tag?", entgegne ich lächelnd und lasse mich von ihm zum Auto zerren.

Auf der zwanzigminütigen Fahrt quasselt Christian ohne Luft zu holen, wie sehr er sich auf den Film freut und dass ihm ja noch einige Exemplare der Autos in seiner Sammlung fehlen. Christian ist ein großer Fan von Cars und da heute ein neuer Film in den Kinos anläuft, müssen wir uns den natürlich gleich am ersten Tag ansehen.

Pünktlich 16:00 Uhr sitzen wir bewaffnet mit Getränken und Popcorn auf unseren Sitzen und machen es uns bequem. Als das Licht langsam herunter gedimmt wird, werde ich plötzlich von hinten umarmt. Mit einem erstickten Schrei fahre ich hoch und verschlucke mich prompt am Popcorn. Ich huste und ringe nach Atem. Gelächter ertönt hinter mir und eine feste Hand schlägt mir mehrmals fest auf den Rücken.  

„José, da bist du ja!", quietscht Christian überglücklich, klettert über den Sitz und fällt José um den Hals. „Hey, kleiner Kerl, ich habe es dir doch versprochen. Hier ich habe dir etwas mitgebracht. Ich hoffe, er ist der Richtige?" Immer noch hustend drehe ich mich zu den Beiden um. Christian hält einen kleinen gelben Fiat 500 in den Händen und lächelt José strahlend an.

„Ja das ist er. Das ist Luigi. Den wollte ich schon immer haben. Danke José!"

„Schon gut kleiner Freund. Freut mich, dass er dir gefällt." José lächelt vergnügt und sichtlich mit sich zufrieden, bevor er Christian wieder auf seinen Platz hebt und dann verlegen zu mir blickt.

„Es sollte eine Überraschung sein. Bitte entschuldige, dass ich dich erschreckt habe." José klettert über die Sitzreihe und lässt sich auf den freien Platz neben mir fallen.

„Du bist ein Schuft und Schwerenöter!", murmele ich in seine Richtung, kann mir ein Grinsen aber nicht verkneifen. Ich freue mich, dass er hier ist. Obwohl ich mit den Beiden nachher ein ernstes Wörtchen reden muss. Ich mag keine Überraschungen, auch wenn diese eine wirklich gelungene ist.

„Mommy, was ist ein Schwerenöter?", fragt Christian ein wenig zu laut. Einige Leute drehen sich zu uns um und schmunzeln diebisch. Mir kommt es so vor, als wenn sie auf eine Antwort meinerseits warten. Ich werde rot.

„Christian, deine Mommy wollte sagen, dass sie sich riesig freut, mich zu sehen und dass sie sich sehr über unsere Überraschung freut. Denn ich bin ihr allerbester Freund und werde euch ab jetzt viel öfter besuchen, um mit euch ins Kino gehen oder mit dir zu spielen.", antwortet José statt für mich. Dankbar greife ich nach seiner Hand und drücke sie fest. Er hat nicht nur Christian geantwortet, der damit zufrieden zu sein scheint, sondern hat mir auch die Angst genommen, dass er sich von uns abwenden könnte. 

Nach dem Kino gehen wir noch zum Italiener und gönnen uns zum krönenden Abschluss des Tages eine Familienpizza mit extra Käse. Christian spielt in der Kinderecke mit seinem neuen Auto. Die Zeit nutze ich José von Christians E-Mail zu erzählen. Er ist nicht begeistert. Im Stillen denke ich, dass er noch immer etwas für mich empfindet. Diesen Gedankenverbanne ich aber sofort und frage ihn stattdessen, ob er schon etwas von Elena gehört hat. Zuerst will er damit nicht rausrücken, wahrscheinlich, um mich nicht zu beunruhigen. Ich bohre nach und endlich rückt er damit heraus, dass sie ihm eine SMS geschickt hat, in der sie ihn auffordert bis zum Ende der Woche nach Seattle zurückzukehren, da sie seine Dienste in Anspruch nehmen will. Ich schlucke, als ich ihm zuhöre und ein kalter Schauer läuft mir den Rücken herunter. José greift über den Tisch nach meiner Hand und schüttelt den Kopf.

„Ana, ich werde nicht zu ihr fliegen. Ich habe es mir genau überlegt und bin mir sicher, den Skandal durchzustehen, der auf mich zukommt, wenn Elena die Bilder und Videos veröffentlichen lässt. Wir stehen das zusammen durch. Wir schaffen das. Viel zu lange haben wir nach ihrer Pfeife getanzt. Damit muss jetzt Schluss sein. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, Ana.", dabei sieht er zu Christian und dann wieder zu mir. „Wir haben es verdient glücklich zu sein und auch wenn ich nicht derjenige bin, der die Vaterrolle für den kleinen Kerl da einnehmen darf und auch nicht der Mann nachdem du dich sehnst, weiß ich doch, dass ich dir sehr wichtig bin. Ich bin dein Freund und der Freund deines Sohnes und ich werde mich nie wieder von Euch fernhalten lassen. Das verspreche ich!" Josés Augen sind glasig. Er drückt fest meine Hand und gibt mir einen Kuss in die Handfläche. Auch in meinen Augen brennen Tränen. José hat mir gerade seine Liebe gestanden und ist doch bereit für mein Glück einem anderen Mann den Vortritt zu lassen. Nun kullert doch eine Träne meine Wange herunter. José hebt vorsichtig seine Hand von meiner und wischt mir lächelnd die Träne von der Wange.

„Nicht weinen Ana. Es wird alles gut."

„Danke José, ... für Alles. Wir stehen das durch, zusammen!", wispere ich und greife wieder nach seiner Hand. Wir lächeln uns an und beobachten dann Christian beim spielen.

José kommt wieder mit zu uns. Wir haben seine Sachen aus dem Hotel abgeholt. Er wird erst einmal bei uns unterkommen, bis er hier eine passende Wohnung gefunden hat. Als er mir sagte, dass er vorhabe ganz nach London zu ziehen, war ich erst verblüfft. Aber als er mir daraufhin schilderte, dass seine Bilder sich in Europa gewinnbringender verkaufen ließen und die Aufträge hier wesentlich lukrativer für ihn wären, konnte ich seine Entscheidung verstehen. Jetzt freue ich mich darauf, ihn bei uns zu haben und in Zukunft in unserer Nähe zu wissen. 

Sobald wir durch die Tür sind, fackle ich nicht lange. Ich drücke den quietschenden kleinen Kerl in Josés  Arme und schiebe beide ins Kinderzimmer. José sieht mich fragend an.

„Ich rufe jetzt Kate an. Ich will ihr die Chance geben sich zu rechtfertigen. Vielleicht ist ja alles nur ein blödes Missverständnis. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie dazu fähig ist, mich so zu hintergehen. Wir kennen uns nun schon so lange. Ich muss sie einfach sprechen. Ist es für dich in Ordnung, wenn ich euch ein wenig alleine lasse?", frage ich und lege meine Hände betend aneinander.

„Ja klar kein Problem, mach das. Ich habe mich sowieso schon gewundert, dass du sie nicht längst angerufen hast. Ich hätte sie wahrscheinlich gleich gestern durch den Hörer gezogen. Aber so bist du nun einmal.", dann grinst José frech. „Ich bin übrigens total neugierig auf ihre Erklärung, also lass dir ruhig Zeit. Wir Beide kommen schon klar oder Kumpel?", dabei zwickt er Christian in den Po. Christian kreischt lachend und windet sich in seinen Armen. José zwinkert mir lächelnd zu, hält mir die gedrückten Daumen entgegen und schließt dann hinter sich lachend die Tür.

Mit einer Taschentuchbox und dem Telefon, gehe ich in mein Schlafzimmer, setze mich auf mein Bett und wappne mich innerlich. Dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und wähle Kates Nummer. Gleich nach dem ersten Klingeln nimmt sie ab und schluchzt ins Telefon.

„Ana? Ich bin so froh, dass du anrufst." Oh, denke ich, sie weiß es wohl schon. Die Schlange hat sich wahrscheinlich gleich nach unserem Streit an Kate gewandt. Obwohl weshalb sollte sie das tun? Nun bin ich wirklich neugierig.

„Hallo Kate, ja ich bin es, deine beste Freundin.", blaffe ich in den Hörer. Ich warte nicht bis Kate antwortet.

„Kate, ich bin so wütend auf Dich. Bitte sage mir, dass das nicht wahr ist, was Elena mir gesagt hat. Ging es Christian wirklich die ganze Zeit so schlecht? Bitte sag mir, um unserer Freundschaft willen, die Wahrheit!"

„Es tut mir so leid, Ana. Ich wollte dich wirklich immer nur beschützen. Das musst du mir glauben. Bitte verzeih mir!", jammert sie in den Hörer.

„Kate!", fahre ich sie an. „Was ist mir Christian?"

„Ja ich..., ich habe gesehen, dass es Christian nicht gut geht, habe es aber verdrängt, weil er dir so wehgetan hat. Ich hatte einfach Angst um dich. Ana, du musst mir unbedingt glauben. Ich würde nie etwas tun, was dich absichtlich verletzten würde. Das weißt du doch! Aber seit gestern weiß ich, dass das Alles ein Fehler war. Elena hat angerufen und die Bombe platzen lassen." Wieder höre ich ein Schluchzen, dann ein Rascheln und wenig später ein schnaubendes Geräusch. Kate weint wirklich sehr selten und ich kann hören, dass es ihr miserabel geht. Aber ich bin ungeduldig und kann mich jetzt nicht um ihr Wohlbefinden kümmern. Ich muss wissen, was gestern vorgefallen ist.

„Kate, wovon redest du? Was ist passiert?", bohre ich nach.

„Ich weiß überhaupt nicht wo ich anfangen soll.", stottert sie. „Elena war sehr merkwürdig drauf, lachte ständig so gekünstelt und teilte mir mit, dass sie in London wäre und du sie bei Josés Ausstellung angegriffen hättest. Zuerst habe nichts von dem begriffen, was sie mir erzählte. In ihrer Stimme lag so viel Hass. Ana, warum hasst diese Frau dich so sehr? Ich verstehe das nicht. Bis dahin wusste ich ja nicht einmal, dass Ihr euch kennt."

„Wir kennen uns auch nicht, jedenfalls nicht bis gestern. Ich kannte sie nur aus Christians Erzählungen. Und diese Erkenntnis reicht mir aus, um zu wissen, dass ich ihr nie begegnen will. Kate, sie ist die Frau, die Christian das Alles angetan hat. Sie hat ihn als Teenager dazu genötigt ihr Sklave zu sein oder wie sie es nennen, ihr Sub. Du musst dir vorstellen, er war gerade mal 15 Jahre alt, fast noch ein Kind. Sie ist eine Kinderschänderin und schreckt vor nichts zurück. Wie kannst du dich nur mit dieser Person einlassen?", frage ich aufgebracht.

„Jetzt weiß ich das auch, Ana.", antwortet Kate resigniert. „Und hätte ich früher gewusst, dass sie ein so verlogenes Miststück ist, wäre ich nie mit ihr befreundet gewesen. Aber sie hat alles super geschickt eingefädelt. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass sie alles so geplant haben könnte. Wirklich nie! Sie war immer so nett und um meine Freundschaft bemüht. Schon von Anfang an. Ich habe sie bei Josés erster Ausstellung in Portland kennengelernt und später bei Eliots Eltern wiedergesehen. Sie ist eine langjährige Freundin der Familie. Darum habe ich mir nichts dabei gedacht, dass sie von deiner Beziehung zu Christian wusste und mich nachdem du weg warst, vor ihm warnte. Sie sorgte sich um dein Wohlergehen und erzählte mir so furchtbare Sachen über Christian, dass ich froh war, dich sicher in London zu wissen. Sie bedeutete, dass Christian sexuell abartig sei und er psychisch sehr labil ist und gefährlich werden könnte. Sie meinte, wenn er dich wieder in die Finger bekäme, würde er dich zerstören. Und Elenas Schilderungen bestätigten sich. Christian sah ich nach deinem Verschwinden immer seltener und wenn er doch einmal bei seinen Eltern auftauchte, war er in sehr schlechter Verfassung. Er wirkte geistig abwesend, körperlich ausgezerrt und roch nach Alkohol. Als ich Grace nach ihm fragte, sah ich ihre Sorge in den Augen. Sie meinte, dass Christian in psychologischer Behandlung wäre und sie hoffe, dass der Arzt ihm helfen könne, da sie mit ihren Kräften am Ende sei. Da war für mich alles klar. Ich konnte ja nicht wissen, dass er wegen deines Verlustes so am Boden lag. Elena hat sich dann meine Abneigung ihm gegenüber zu Nutze gemacht und mir immer weitere schmutzige Details seines verkorksten Lebens eingetrichtert." Kate hält inne, um Fassung ringend und auch ich kann nichts sagen. Ich bin wie tiefgefroren und kann mich nicht bewegen. Die Bilder, wie Christian abgemagert und ungepflegt dahinvegetiert, spulen sich vor meinem inneren Auge ab. Ich schaudere bei diesen Gedanken. Was hat ihm diese Elena nur angetan? Wut steigt in mir auf und ich balle die Hände zu Fäusten. Am liebsten würde ich auf irgendetwas oder jemanden einschlagen.

„Ana, bist du noch da?", fragt Kate vorsichtig.

„Ja", antworte ich aufgebracht.

„Was kann ich nur tun, damit du mir verzeihst? Dass du ein Kind mit Christian hast, konnte ich doch nicht wissen. Glaube mir, ich hätte anders gehandelt", wispert sie.

„Im Moment Nichts Kate. Ich muss das Ganze erst einmal sacken lassen. Lass mir einfach ein wenig Zeit. Aber weißt du was mich interessiert? Warum hat Elena dir das alles überhaupt erzählt? Sie muss doch damit rechnen, dass du dich an Elliot oder Grace wenden wirst."

„Wenn ehrlich bin, weiß ich es nicht. Ich glaube sie wollte sich an meinem Schmerz weiden. Und das hat sie auch getan. Sie hat mich ausgelacht und sich über meine Naivität lustig gemacht, wie einfach es doch gewesen ist, mein Vertrauen zu gewinnen. Und im gleichen Moment hat sie mir gedroht dich, José und mich zu zerstören, wenn ich den Mund nicht halten kann. Sie fühlt sich sehr sicher und sieht Christian als ihr Eigentum an. Sollte auch nur einer von uns in seine Nähe kommen oder sich jemand anderen anvertrauen, weiß ich nicht, wie Elena darauf reagieren wird. Ich denke sie wird mit allen Mitteln versuchen zu verhindern, dass ihr jemand Christian wegnimmt. Meiner Meinung nach, ist sie verrückt. Zum Ende des Gespräches klang sie sehr überdreht und schrill. Ihre Stimme war jedoch messerscharf. Ana, ich glaube sie ist gefährlich."

Eine halbe Stunde später glüht mein rechtes Ohr und mein Kopf dröhnt. Kate hat mir noch weitere abartige Details ihres Telefonats mit Elena wiedergegeben und mir über erschütternde Beobachtungen berichtet, die sie während der letzten drei Jahre, von Christian gemacht hat. Sie entschuldigte sich noch mehrmals und ich versprach ihr, mich bei ihr wieder zu melden.

Als ich vor fast zwei Stunden in mein Zimmer ging, um Kate anzurufen, habe ich mit vielem gerechnet, aber nicht mit diesen Offenbarungen. Einerseits bin ich erleichtert. Ich hatte wirklich Angst, dass Kate mit Elena unter einer Decke steckt. Zum Glück hat sich das nicht bewahrheitet. Kate hat in gutem Glauben gehandelt, auch wenn sie damit in Christians und mein Leben unwiderruflich eingegriffen hat. Ich kann ihr noch nicht verzeihen, weiß aber der Tag wird kommen. Jetzt bin ich noch zu aufgewühlt, wütend und zu keinem rationalen Gedanken fähig. 

Die alte Ana würde jetzt zusammenbrechen, sich unter der Decke zusammenrollen und sich in ihrem Leid suhlen. Kates schmerzhaften Schilderungen über Christians Dasein nach meinem Verschwinden, sein verwirrter Zustand und sein Hang zum Alkohol, wären genug Grund gewesen, mich innerlich zu zerreißen. Aber heute bin ich eine Andere. Ich werde den Schmerz nicht mehr so weit an mich heranlassen, dass ich nicht mehr in der Lage bin zu handeln. Ich, die neue Ana hat sich für das Leben entschieden. Was auch kommen mag, ich werde es aushalten und das Beste daraus machen.

Die nächsten Tage schmieden José und ich Pläne. Irgendwie muss ich mich ja auf das Treffen mit Christian vorbereiten. José und ich sind uns nicht einig. José ist der Meinung, ich solle als Ana zu diesem Termin gehen. Ich sehe das hingegen ganz anders. So sehr mir auch mein eigenes Leben und das meines Sohnes am Herzen liegen, kommt Christian dennoch wegen der Erweiterung des Klinikgebäudes nach London. Es hängt von diesem Treffen einfach zu viel für die Familien ab, für die ich mich verantwortlich fühle. Für mich steht fest, ich werde ich als Kathrin Morgan, inklusive der Projektunterlagen, zu diesem Termin gehen.

Am zweiten Abend rufe ich sogar Kate an. Sie ist immer noch geknickt, wirkt aber erleichter mich zu hören. Sie hat versucht etwas über Christian herauszufinden. Das was sie berichtet, ist nicht erfreulich und trifft mich hart. Christian und Elena verbringen anscheinend wirklich viel Zeit miteinander, gehen golfen oder reiten gemeinsam aus. Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Das einzig Gute ist, dass es so aussieht, als wenn sich Elena in Sicherheit wiegt. Das beruhigt mich ein wenig.  José hat sich währenddessen zähneknirschend bei Elena gemeldet und ihr mitgeteilt, dass er sobald die Ausstellung beendet ist, zu ihr in die Staaten zurück fliegt. Hoffentlich haben wir dadurch ein wenig Zeit gewonnen. In wenigen Tagen fliegt Christian hier her nach London. Ich bete, dass er Elena nichts von seiner Dienstreise erzählen wird.

Zwei Tage vor Christians Ankunft, erhalte ich von seiner Assistentin Andrea die angekündigte Terminbestätigung.

Von: Andrea Smith

Betreff: Termin Projektbesprechung

Datum: 20.05.2015

An: Kathrin Morgan

Sehr geehrte Frau Morgan,

Herr Grey landet am 21.05.15, 21:30 Uhr in London Heathrow und würde das Klinikgelände sehr gerne am 22.05.15 um 10:00 Uhr besichtigen.

Für das Geschäftsessen habe ich am selben Abend, um 20:00 Uhr einen Tisch im Parkrestaurant reserviert.

Bitte bestätigen Sie mir den Termin.

Mit freundlichen Grüßen

Andrea Smith

Ass. Grey Enterprises Holdings, Inc.

So jetzt ist es so weit, denke ich. Es gibt kein Zurück mehr. Wird schon schiefgehen, mache ich mir selbst Mut und bestätige den Termin.

Nun habe ich nur noch das Problem mit der Besichtigung des Klinikgeländes. Christian und mein erstes Wiedersehen kann unmöglich hier, unter den Augen der kompletten Belegschaft, stattfinden. Mein erster Gedanke ist Thomas. Er war von Anfang an in das Projekt involviert und wird mich kompetent vertreten können. Gut, meine Ausrede ist ein wenig lahm, da ich einen Impftermin beim Kinderarzt auch hätte verschieben können, aber Thomas zum Glück hackt nicht lange nach. Ich glaube er freut sich sogar darauf, Mr. Grey persönlich kennen zu lernen.

Mein Boss, der Klinikleiter, Dr. Harrison ist hingegen weniger begeistert. Da ich abends noch genügend Zeit habe, Mr. Grey das Projekt zu erläutern, kann ich ihn zu meiner Erleichterung doch noch umstimmen, die Besichtigung durch Thomas durchführen zu lassen.

20.05.2015 – 21:30 Uhr

Christian in London. Hier in London, ganz nah bei mir. Dieses Wissen zerreißt mich fasst. Ich würde so gerne zu seinem Hotel fahren und mich hinter einer Ecke verstecken, um einen kleinen Blick auf ihn zu erhaschen. Stattdessen wickle ich mich noch enger in sein Jackett, schnappe mir den zerknautschten, luftlosen Charlie Tango, wünsche mir für den nächsten Tag viel Glück und schlafe übermüdet ein.

21.05.2013 – 10:00 Uhr

Wieder erwartet habe ich gut geschlafen. Vielleicht liegt es an der ganzen Aufregung der vergangenen Tage. Jedenfalls bin ich hellwach und hibbelig, wie ein Duracellhase. Jetzt besichtigen sie gerade das Klinikgebäude. Ich habe Thomas gebeten, sich zu melden, wenn Fragen auftreten. Aber mein Handy klingelt nicht einmal. Also macht er seine Sache wohl ganz gut. Ich freue mich für ihn. Meine Gedanken schweifen ab. Wie mag Christian wohl aussehen? Ob er immer noch die grauen Krawatten, die ich so an ihm geliebt habe, favorisiert? Könnte ich jetzt nur Mäuschen spielen, wünsche ich mir. Was würde ich darum geben, jetzt nur einen klitzekleinen Blick auf ihn werfen zu können. Ein Ziepen an meinen Haaren, reißt mich aus meinem Tagtraum. Ich sitze beim Frisör. Einen schwachen Moment habe ich darüber nachgedacht, meine Haare wieder dunkel färben zu lassen. Dann wäre ich Ana, aber heute Abend bin ich nicht Ana, irgendwie aber auch doch. Ach ich weiß auch nicht. Ich bin durcheinander. Jedenfalls bleiben meine Haare blond, vorläufig. Wenn ich hier fertig bin, habe ich noch einen Termin zur Maniküre und bei der Kosmetik. Wenigstens äußerlich will ich perfekt aussehen. Das Chaos in meinem Inneren hingegen, wird niemand zu Gesicht bekommen.

Und die ganze Zeit ist José an meiner Seite. Sogar zum Frisör hat er mich begleitet und sich mit einer Klatschzeitung in die Kundenecke gelümmelt. Ich bin überwältigt von seiner Fürsorge. Er ist wahrhaftig ein guter Freund und wahnsinnig aufmerksam. Gestern war er sogar mit mir shoppen und hat ein wunderschönes Kleid für mich ausgesucht und betont, wie gut es zu der Farbe meiner Augen passe. Das Kleid ist figurbetont geschnitten, taubenblau und knielang. Ich bin mir sicher, dass ich heute Abend umwerfend aussehen werde.

Mittlerweile ist es 16:00 Uhr, als wir wieder zuhause ankommen. Klein Christian schläft heute bei Jane. Er war ganz aufgeregt, als wir ihn vorhin bei Jane abgesetzt haben. Ein bisschen schlechtes Gewissen habe ich schon, ihn abgeschoben zu haben, aber die Zeit brauche ich heute einfach für mich. Ich bin ein reines Nervenbündel, tigere durch die Wohnung und finde einfach keine Ruhe. Plötzlich hält José mir ein Glas vor die Nase.

„Trink das. Das bringt dich runter."

Ich gehorche und stürze die braune Flüssigkeit herunter und reiße die Augen weit auf, als der hochprozentige Tropfen mir brennend die Kehle herunterläuft. Tränen schießen mir in die Augen und ich muss Husten. José sieht mich kopfschüttelnd an und gluckst. Dann trinkt er einen kleinen Schluck aus seinem Glas, verzieht genießerisch das Gesicht und stöhn glückselig.

„Ich habe nicht gesagt, dass du es auf ex trinken sollst.", sagt er breit grinsend und stuppst mich an die Schulter. Ich verziehe beleidigt das Gesicht, muss aber zugeben, dass Jose Recht hat. Eine wohlige Wärme breitet sich in meinem Inneren aus. Ich fühle mich gleich viel besser und halte es sogar für zehn Minuten auf der Couch aus, bevor ich wieder aufspringe, um mich fertig zu machen.

Thomas hat den ganzen Tag nicht angerufen. Ich bete, dass alles gut gegangen ist.

Um 18:00 Uhr bin ich fertig und stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und betrachte mich von allen Seiten. Ich muss lächeln. Auch wenn man das nicht selbst über sich sagen oder denken soll, finde ich trotzdem, dass ich wirklich hübsch heute Abend aussehe. Auch mit der Farbe des Kleides hat José rechtbehalten. Meine Augen leuchten.

„Du bist wunderschön Ana. Er wäre ein Narr, wenn er dich nicht mehr lieben würde." José lehnt locker an der Tür und mustert mich von oben bis unten. Dann streckt er einen Daumen hoch und pfeift anerkennen. Ich werde rot und wende mich ab.

„Das schaffst du schon Ana. Keine Panik. Mr. ober cool Grey, wird nach dir lechzen, wenn er dich sieht.", witzelt José und ich danke ihm für die Aufmunterungsversuche. José beugt er sich zu mir und drückt mir einen lauten Schmatzer auf die nackte Schulter.

„Du solltest noch etwas drüber ziehen, sonst reißt er dir dieses unsagbar sexy Kleid sofort vom Leib. Sag mal, was trägst du eigentlich drunter? Du weißt, dass man auf alle Eventualitäten eingestellt sein muss oder?",  dabei wackelt er schelmisch mit den Augenbrauen. Ich kichere und schiebe ihn aus dem Badezimmer, um zum einhundertsten Mal auf die Toilette zu gehen.

19.30 Uhr fährt mein Taxi vor. Ich schlüpfe schnell in meine schwarzen Pumps und ziehe meinen Mantel über. Bevor ich gehe, zieht José mich noch einmal in seine Arme. Mit wackligen Beinen und den Unterlagen unter dem Arm mache ich mich auf den Weg. Jetzt geht es los.

Vor dem Restaurant zögere ich und kaue nervös auf meiner Unterlippe. Was machst du eigentlich hier, Ana? Ich weiche einen Schritt zurück und besinne mich dann meines Versprechens. >Ich werde nicht mehr weglaufen.< Mit klopfendem Herzen und erhobenen Hauptes steige ich die fünf Stufen zum Eingangsbereich hoch und betrete das Restaurant. Ein Kellner erwartet mich, nimmt meinen Mantel entgegen und bittet mich einen Moment zu warten, bis ich zu meinem Tisch geleitet werde.

Verstohlen blicke ich mich um. Kann ich Christian von hier aus vielleicht schon sehen? Christian entdecke ich nicht, dafür aber mir eine andere vertraute Person. Taylor, der an der Bar sitzt und einen Kaffee trinkt. Als er mich erblickt und erkennt, um wen es sich bei mir handelt, verschluckt er sich, stellt dann blitzartig seine Tasse ab und greift nach seinem Telefon.

Ich schüttle warnend den Kopf und eile zu ihm, bevor er die Verbindung zu Christian herstellen kann. Taylor sieht mich an, als wäre ich ein Geist und lässt es zu, dass ich ihm vorsichtig das Telefon aus der Hand nehme und es auf den Tresen lege.

Es ist so eine Freude Taylor zu sehen. Er hat sich überhaupt nicht verändert. Vielleicht ist er nur noch ein wenig attraktiver geworden. Und die ganze Zeit war er an Christians Seite und hat auf ihn aufgepasst. Tränen verschleiern meine Sicht und ich kann sehen, dass auch Taylor um Beherrschung ringt. In seinen Augen spiegelt sich Freude. Im nächsten Moment packt er mich und zieht mich grob in seine Arme. Ich bekomme keine Luft und ringe nach Atem.

„Wo warst du nur Mädchen?", höre ich ihn an meinem Ohr flüstern. Dann lässt er mich langsam los und stellt mich wieder auf meine eigenen Füße. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass er mich hochgehoben hat.

Auf einmal wird Taylors Blick skeptisch. Er kneift die Augen zusammen und  blickt sich aufmerksam im Restaurant um, bevor er sich wieder auf mich konzentriert und wie nebenbei nach dem Telefon greift.

„Bitte Taylor, sage ihm nicht, dass ich hier bin. Bitte tue es für mich. Ich bin Kathrin Morgan und ich habe vor, diesen Termin wahrzunehmen. Bitte lass mich zu ihm.", flehend blicke ich Taylor an und kann nur mit Mühe meine Tränen zurückhalten. Ich weiß nicht, wie er sich entscheiden wird. Sollte Taylor aber der Meinung sein, dass es für Christian, aus welchen Gründen auch immer hier nicht sicher ist, wird er mich nicht zu ihm lassen. Sekundenlang sieht mir Taylor in die Augen, dann wird sein Blick auf einmal weicher und nachdenklich.

„Ich weiß nicht Miss Steel, ob das eine so gute Idee ist, aber es ist Ihre Entscheidung. Ich für meinen Teil, habe sie nicht gesehen." Im nächsten Moment sehe ich nur noch einen breiten Rücken vor mir. Taylor hat sich wieder zum Tresen umgedreht und bestellt sich einen neuen Kaffee. Er dreht sich noch einmal zu mir und nickt in eine Richtung, in der ich annehme, dass sich dort unser Tisch und Christian befindet. Ich blicke in diese Richtung und dann wieder zu Taylor, der wieder auf seinem Barhocker Platz genommen hat und mich verschmitzt ansieht.

„Viel Glück Ana und nun gehen Sie schon." Ich nicke hastig und steuere die Richtung an, die mir Taylor gezeigt hat.

Und dann sehe ich ihn und mein Herz setzt einen Schlag aus. Christian sitzt an einem kleinen quadratischen Tisch, der für zwei gedeckt ist und blättert in irgendwelchen Unterlagen. Fasziniert von seinem Anblick bleibe ich wie angewurzelt stehen und lasse das Bild auf mich wirken. Er sieht unwahrscheinlich gut aus in seinem dunklen Anzug, dem grauen Hemd und der hellgrauen Krawatte. Mit seinem mahlenden Kiefer und seinen zerzausten Haaren, die so aussehen, als wäre er gerade mit seinen Finger hindurch gefahren, sieht er wild und sexy aus. Alles um mich herum verschwindet auf einmal aus meinem Blickfeld. Ich sehe nur noch Christian, den Mann, dem ich vor über drei Jahren mein Herz geschenkt habe. Es ist, als wenn ich ihn erst gestern das letzte Mal gesehen habe. Ich liebe ihn und ohne jeden Zweifel weiß ich, dass ich zu ihm gehöre. Ich habe ihm immer gehört.

Als ob Christian spürt, dass ich hier bin, hält er inne und wartet. Dann hebt er langsam den Kopf und die Zeit bleibt in dem Moment stehen, als sich unsere Blicke treffen.

***

Ich hoffe, ihr seid mir nicht zu böse, dass es so lange gedauert hat. Dafür waren es auch 9 Seiten :)

Liebe Grüße

Eure Marit

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