Große Kröten und zu fleißige Bienchen

„Oha...“, stöhne ich überrascht, als mein Sohn mit stolz geschwellter Brust, freudestrahlend in die Küche hüpft und sich zu unserem Kater Ole beugt, um ihn zu begrüßen. „So möchtest du heute zu deiner Nanny gehen?“, frage ich ihn mit weit aufgerissenen Augen und muss mir dabei ein Prusten verkneifen. Den sich anbahnenden Lachanfall kann ich nur mit Mühe tarnen, halte eilig eine Hand vor meinen Mund und atme mehrmals tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Ein breites Grinsen stellt sich dennoch ein, als ich Christian noch einmal von oben bis unten betrachte.

Vielleicht ist es doch keine so gute Idee gewesen, ihn seine Sachen alleine aussuchen zu lassen. Er ist schließlich erst drei und in diesem Alter suchen normalerweise die Mommy’s die Sachen aus, die getragen werden. Da heute aber ein besonderer Tag ist, bestand Christian darauf, seine Sachen alleine auszuwählen. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich mich nur wieder von diesem kleinen Kerl habe einwickeln lassen?

Wieder gleitet mein Blick an ihm hinab und ein Glucksen entsteigt meiner Kehle. Jeder Zirkusclown wäre stolz auf meinen Sohn, denke ich und streichle ihm kopfschüttelnd die Wange. Mit seiner hellblaugestreiften Lieblingssommerhose, den rotkarierten Socken und seinem quietschgelben Long-Shirt mit den aufgedruckten Dinos, macht er jedem Pfingstochsen alle Ehre.

Christian nickt bestätigend, klettert neben mir auf seinen Stuhl und küsst mich auf die Wange. „Ja Mommy, Maggie hat Geburtstag, hast du das schon vergessen?“, ohne sich stören zu lassen, greift er nach einer Scheibe Toastbrot und beschmiert sie dick mit Erdbeermarmelade. Natürlich habe ich nicht vergessen, dass seine kleine Freundin, die mit ihm zusammen von seiner Tagesmutti betreut wird, heute Geburtstag hat. Schließlich haben wir gestern extra für sie einen Papageienkuchen gebacken. Ich weiß ja, dass er sich auf die Geburtstagsfeier freut und vor lauter Aufregung gestern Abend erst sehr spät eingeschlafen ist, dennoch bin ich mir nicht sicher, was ich jetzt machen soll.

Es gibt zwei Möglichkeiten: Ich kann ihn enttäuschen, in dem ich ihm sage, dass er so nicht gehen kann oder ich lasse ihn gehen, riskiere aber damit, dass sich die anderen Kinder über ihn lustig machen. Ich stecke wirklich in einer Zwickmühle.

„Und du bist dir sicher, dass du diese Sachen anziehen möchtest?“, hake ich noch einmal möglichst beiläufig nach, während ich mir einen weitere Tasse Kaffee einschenke. Christian sieht kritisch an sich herunter und nickt dann bestätigend. Er scheint mit seiner Auswahl sehr zufrieden zu sein. „Maggie mag die Dinos und ich auch. Kann ich noch einen Kakao haben?“ Jetzt nicke ich resigniert und gebe mich geschlagen. Ich werde ihn so gehen lassen. Vielleicht empfinde nur ich seine Kleiderauswahl merkwürdig.

Die hochgezogenen Augenbrauen seiner Nanny zeigen mir allerdings, dass auch sie sehr überrascht auf Christians Erscheinungsbild reagiert, als wir mit dem Kuchen bewaffnet, bei ihr ankommen. Ich schüttle mahnend den Kopf und deute mit dem Zeigefinger vor dem Mund an, dass sie sich ihren Kommentar verbeißen soll. Sie kichert leise, kniet sich zu Christian und hilft ihm aus der Jacke. „Du hast dich heute aber chic gemacht.“ sagt sie mit Belustigung in der Stimme, als sie die gewagte Farbauswahl betrachtet. Dann richtet sie sich wieder auf und kommt grinsend auf mich zu und tätschelt mir den Arm „Das wird schon. Wir werden heute eine Menge Spaß haben. Mach dir keine Sorgen.“, mit warmen Worten beschwichtigt die Nanny meine Sorgen.

In der Zwischenzeit hat Christian seine Schuhe gewechselt und das Geschenk für Maggie aus seinem Rucksack gezerrt.

„Christian, verabschiede dich noch von deiner Mommy.“, ermahnt ihn die Nanny. Christian hält in der Bewegung inne und dreht sich zu uns um und lächelt voller Vorfreude. Mein Herz zieht sich bei diesem Anblick zusammen. Dieser kleine Kerl hat so viele Liebe zu verschenken und ich habe das Glück, seine Mom zu sein. Ich lache zurück, beuge mich vor und breite meine Arme aus. Christians Turnschuhe quietschen, als er zu mir stürmt und mich umarmt. Dieser Moment dauert nur ein paar Sekunden, denn schon fängt das quirlige Kerlchen an zu zappeln. Ich kann das verstehen. Er möchte zu Maggie und ihr sein Geschenk überreichen. Ich drücke ihn noch einmal an mich. „Ich liebe dich.“, flüstere ich ihm ins Ohr und löse meine Umarmung. „Ich liebe dich auch, Mommy.“, antwortet er mir glücklich und drückt mir einen feuchten Kuss auf den Mund. Dann verschwindet er, auf der Suche nach Maggie, ins nächste Zimmer.

Ich grinse immer noch, als ich das Büro betrete.

Debby sitzt am Empfang und reicht mir die Post. „Na, du siehst ja glücklich aus.“, merkt sie freundlich an, als sie meinen zufriedenen Gesichtsausdruck erblickt. „Bin ich auch.“, antworte ich keck. „Ich bin verliebt in einen wunderschönen, jungen blonden Mann, mit herrlichen grauen Augen.“, schwärme ich und drehe mich um meine eigene Achse. Debbie stöhnt. „Kathrin du bist unmöglich. Wie alt bist du jetzt, 25 oder jünger? Such dir doch mal einen wunderschönen Mann in deinem Altern. Ich bin mir sicher, dass es dort auch einige Exemplare mit blonden Haaren und herrlichen grauen Augen gibt.“, entgegnet sie mir mit einem schiefen Lächeln und steht auf, um ein Fax aus dem Kopierraum zu holen. Mitten in der Bewegung erstarre ich. „Ähm, ja, Ich werde dann mal an die Arbeit gehen. Bis später Debbie.“ Wenn sie wüsste, wie nah sie an der Wahrheit liegt, denke ich und gehe mit hängenden Schultern in mein Büro.

Ich schaffe es noch meine Jacke in den Schrank zu hängen, als auch schon das Telefon läutet. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn da nicht diese Nummer wäre, die mir anzeigt, dass es sich um ein Gespräch aus Seattle handelt.

Vorsichtig nehme ich ab „Verein für Familien in Not, Sie sprechen mit Kathrin Morgan.“ Am anderen Ende der Leitung vernehme ich ein lautes Kreischen. „Ana, bist du es? Hier ist Kate.“ „Oh Gott...“, stöhne ich ins Telefon und schnappe bebend nach Luft. Ich traue meinen Ohren kaum. Es ist Kate, meine Kate. Ich habe so lange nicht mit ihr gesprochen, dass mir ihre Stimme fremd vorkommt. Im nächsten Moment bin ich aber schon wieder alarmiert. Wir haben uns in den letzten Jahren nur per Brief verständigt. Wenn sie jetzt anruft, muss etwas passiert sein. „Ja Kate, ich bin es. Ist etwas passiert? Warum rufst du mich hier an?“, frage ich ängstlich.

„Oh Ana, es ist so schön dich zu hören. Du klingst so erwachsen. Ich erkenne dich kaum wieder.“, trällert sie vergnügt. „Nein, es ist nichts passiert. Ich weiß, ich soll nicht anrufen aber mach dir keine Sorgen. Ich rufe für meine Recherchen ständig überall auf der Welt an. Da fällt dieses eine Telefonat gar nicht auf. Und außerdem musste ich dich unbedingt anrufen, weil ich vergessen habe, dir zu schreiben, dass José in London, in einer Galerie, seine Bilder ausstellen wird. Ich dachte, dass du ihn vielleicht treffen möchtest?“, fragte Kate verschmitzt.

„José ist in London?“, kreische nun ich. „Ist er schon hier? Wie kann ich ihn erreichen. Oh Kate, das ist so toll. Ich freu mich riesig.“

„Ana...“, tönt Kates Stimme lachend durchs Telefon. „...habe ich mir doch gedacht, dass du dich freust. Aber ein paar Tage musst du schon noch warten. Die Ausstellung beginnt erst in zwei Wochen und José fliegt erst kurz vorher nach London. Du musst also nicht gleich losstürmen. Ich habe José übrigens nicht gesagt, dass ich dich anrufen werde, damit es auch für ihn eine Überraschung ist. Ich bin übrigens echt eifersüchtig. Ich wäre auch gerne mitgeflogen. Das wäre bestimmt lustig, wir drei zusammen. Ach nee, wir wären ja zu viert. José nimmt seine Freundin Elena mit. Sie ist sehr nett. Du wirst sie mögen. Ich wünsche euch echt viel Spaß, auch wenn ich nicht dabei sein kann. Aber das nächste Mal feiern wir zusammen, versprochen! Ach ja, bevor ich es vergesse. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich dich anrufe. Und ich wollte dich vorbereiten, weil du ja nicht so auf Überraschungen stehst. Ich hoffe, dass ist immer noch so? Wenn nicht, halt ich meine Klappe, denn es ist eine Überraschung, über die du dich sehr freuen wirst. Also sag, willst du es hören oder nicht?“, Kates Gabe ohne Punkt und Komma zu reden, hat sie noch immer nicht verloren. Ich muss die ganzen Informationen erst einmal verarbeiten. „Ana, bist du noch da?“, fragt Kate forsch.

„Kate, lass mich doch erst einmal Luft holen.“, zicke ich sie überfordert an. „Du rufst hier nichtsahnend an und überschüttest mich mit einem Haufen Informationen, die ich erst einmal verarbeiten muss.“, fahre ich aufgebracht fort.

„Ok, ok Ana. Tut mir leid. Ich war so aufgeregt, da sind die Pferde mal wieder mit mir durchgegangen.“, entschuldigt sie sich.

„Ist schon gut.“, beruhige ich sie. „Ich freue mich auch, dich zu hören. Aber, dass ich ein wenig geschockt bin, kannst du verstehen oder? Hier auf Arbeit hast du mich wirklich auf dem falschen Fuß erwischt. Hier rechne ich ja mit Allem, aber nicht mit einem Anruf aus den Staaten. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe, als ich die Nummer aus Seattle im Display gesehen habe? Ich bin fasst in Ohnmacht gefallen.“, antworte ich nun schon etwas ruhiger und kichere vergnügt. Kate kichert auch am anderen Ende, sagt aber nichts. „So ich setze mich jetzt erst einmal hin, dann können wir in Ruhe reden.“ Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und lausche Kates Stimme und ihren Anekdoten von den Geschehnissen der letzten Jahre. Wir lachen so viel, dass ich Seitensticke bekomme und mich nach vorne beugen muss. Es ist so, als ob wir uns erst gestern gesehen hätten. Mit ihr zu sprechen, fühlt sich an, wie nachhause kommen. Ich möchte den Hörer auf keinen Fall auflegen, will einfach bis in alle Ewigkeit mir ihr reden. Sie erzählt mir, dass sie sich fett fühlt, seitdem sie schwanger ist. Auf meine Frage, welche Kleidergröße sie jetzt trägt, kam nur 38 und dann prusten wir los. 38 ist für Kate immer ein Synonym für Adipositas gewesen. Dass jede 3. Frau diese Kleidergröße trägt, hat sie dabei nicht interessiert.

Auch über ihre Hochzeit plaudern wir eine Weile und schmieden Pläne, wie ich daran teilnehmen kann und welche Verkleidung ich anlegen muss, damit mich niemand erkennt. Es herrscht eine so ausgelassenen Stimmung zwischen uns beiden, dass wir die Zeit total aus den Augen verlieren. Wir reden über alles und jeden und über jeden Klatsch und Tratsch, außer über Christian und Christian. Ich vermeide es sie nach ihm zu fragen und sie übergeht alle Themen, die ihn betreffen. Sie verliert nicht ein Wort über ihn und ich erzähle ihr nicht, dass ich ein Kind von ihm habe. Mir ist bewusst, dass ich sie mit meinem Schweigen über meinen Sohn hintergehe, aber in den letzten drei Jahren konnte ich unbehelligt mein Leben leben. Ich weiß, dass dies nicht der Fall gewesen wäre, wenn ich Kate nach der Geburt eingeweiht hätte. Sie hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich nach Seattle zurück zu holen. Für mein Kind und mich war es hier in London aber die bessere Alternative. Ohne die ständige Angst, konnte ich ihm hier eine gute Mutter werden.

Nach einer halben Stunde schlüpft Thomas in mein Büro und deutet auf die Uhr. Ich nicke ihm zu und scheuche ihn wieder hinaus.

„Kate, ich muss Schluss machen. Ich habe gleich einen Termin aber ich will nicht auflegen.“, jammere ich ins Telefon. „Es ist so schön mir dir zu reden. Ich wünschte du wärst hier bei mir und wir könnten den ganzen Tag zusammen verbringen.“, seufze ich.

„Ana, das liegt ganz bei dir. Ich wollte es erst nicht ansprechen aber wenn du schon selbst davon anfängst, kann ich meinen Senf ja dazu geben. Meinst du nicht, dass du endlich nachhause kommen solltest? Es sind drei Jahre ins Land gegangen und es ist Gras über die Sache gewaschen. Kein Mensch redet mehr davon. Pack deine Sachen und komm zurück. Dann müssen wir uns auch keine Gedanken machen, welche Verkleidung du auf meiner Hochzeit tragen könntest, auch wenn die Vorstellung lustig ist. Du bist erwachsen geworden, stehst auf eigenen Beinen und lebst dein Leben. Und auch er lebt sein Leben. Ich höre zwar nichts von ihm, da er den Kontakt zu uns vollkommen abgebrochen hat, aber soweit ich weiß, ist er wieder der Alte. Mensch, denkst du er hat nichts Besseres zu tun, als immer noch nach dir zu suchen? Die Zeitungsanzeigen, sind automatische Updates denke ich, die er vor drei Jahren aufgegeben hat und die laufen ebenso lange, bis sie widerrufen werden. Also es gibt keinen Grund, nicht zurück zu kommen. So und jetzt habe ich alles gesagt, was mir auf dem Herzen liegt.“

Ich habe schon darauf gewartet, dass sie mich bittet zurück zu kommen. Eigentlich wundere ich mich, dass sie nicht gleich davon angefangen hat. Mit schwerem Herzen, richte ich mich auf und stütze den Kopf in die freie Hand. „Kate, ich kann nicht, ich bin jetzt hier zuhause. Ich habe einen Job, den ich liebe.“

„Ana, willst du mich verarschen? Einen Job, den ich liebe...bla, bla... Spinnst du? Man hier sind deine Freunde und deine Familie.“, dröhnt Kate in den Hörer und ich erschrecke, über ihren Ausbruch.

„Kate, bitte lass es! Ich habe jetzt keine Zeit mit dir darüber zu reden.“, flehe ich sie an.

„Gut, reden wir später. Ich will dich nicht aufhalten. Ich sage Dir aber gleich, dass das letzte Wörtchen noch nicht gesprochen ist. Und bevor ich auflege, muss ich dir aber schnell noch erzählen, dass dich im Sommer deine Mutter besuchen kommt. Sie macht mit einer Freundin eine Europarundreise, die auch London mit einschließt. Sie plant, glaube ich, zwei oder drei Wochen bei dir zu bleiben. Eigentlich soll ich es dir noch nicht erzählen. Sie will dich überraschen. Also bitte verrate mich nicht. Ok?“

Vollkommen geschockt schüttle ich den Kopf. „Meine Mom, hier her nach London? Oh Gott, das geht nicht Kate. Du musst sie unbedingt aufhalten!“, brülle ich entsetzt ins Telefon.

„Ana, geht es dir gut? Warum soll deine Mutter nicht kommen? Ich glaube sie hat schon alles gebucht und durchgeplant, dass es nicht auffällt. Sie wird kommen. Drehst du jetzt vollkommen durch?“, fragt Kate besorgt.

Mein Herz fängt langsam wieder an regelmäßig zu schlagen. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, dass es aus dem Takt geraten ist. Die fast vergessene Panik kriecht langsam meinen Rücken hinauf und schnürt mir die Kehle zu. Was soll ich denn jetzt nur machen? Sie wissen doch alle nichts von meinem kleinen Sohn. Wie werden sie reagieren, wenn sie erfahren, dass ich von Christian ein Kind habe? Ich bin mir sicher, dass sie mich hassen werden, weil ich es ihnen nicht gesagt habe. Aber das konnte ich damals nicht und dann war der Punkt irgendwie überschritten, es zu beichten. Ich habe es immer vor mir her geschoben. Dass die Wahrheit jetzt als Licht kommen soll, bereite mir eine Heidenangst.

„Kate, ich kann es dir nicht sagen, aber meine Mutter darf auf keinen Fall nach London kommen. Du musst mir helfen!“, beschwöre ich sie eindringlich.

„Jetzt machst du mir Angst, Ana. Was ist los mit Dir? Wenn du jetzt nicht mit der Sprache rausrückst, setze ich mich in den nächsten Flieger und komme zu dir, ganz egal welche Konsequenzen das nach sich zieht. Das ist mir völlig wurscht. Also rück es raus!“

„Kate, bitte...“

„ANA!“, faucht Kate gefährlich.

Geschlagen sacke ich in mich zusammen. Das ist dann jetzt wohl der Point of no Return, denke ich und versuche mich zu beruhigen. Dieser Moment ist doch unerwarteter eingetreten, als gedacht. Mir bleibt jetzt keine andere Wahl mehr, als zu beichten, wenn ich nicht will, dass Kate alles auffliegen lässt.

„Also gut, du hast es nicht anders gewollt.“, erkläre ich aufgeregt und atme noch einmal tief durch, bevor ich die Bombe platzen lasse. „Kate, ich habe ein Kind!“, bricht es aus mir heraus. Ich lausche auf Kates Reaktion, aber am anderen Ende der Leitung herrscht bedrückende Stille, dann prustet Kate los.

„Pfff... ja und ich bin der Weihnachtsmann. Ana, wovon redest du? Was für ein Kind? Ich bin echt irritiert.“

„Kate, du bist total blöd, weißt du das? Es hat mich viel Überwindung gekostet es Dir zu erzählen. Also bitte hör auf zu lachen, denn es handelt sich hierbei nicht um einen schlechten Scherz. Ich habe wirklich ein Kind. Ich bin eine richtige Mommy. Das ist auch der Grund, warum ich nicht nach Seattle zurückkommen werde. Wir haben uns hier ein neues Leben aufgebaut. Es geht uns gut. Bitte versteh das.“

„Ana? Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich glaube dir immer noch kein Wort. Wenn es stimmt und du ein Kind hast, warum hast du es mir nicht erzählt oder in einem deiner Briefe erwähnt? Ich verstehe dich nicht. Du und ein Kind, das wäre doch eine so wundervolle Nachricht gewesen. Bin ich die Einzige, die davon nichts weiß?“ Enttäuschung klingt in Kates Stimme mit. Ich fühle mich schlecht, weil ich es ihr erst jetzt sage. Sie ist meine beste Freundin. Sie hat mir vor drei Jahren aus dem ganzen Schlamassel herausgeholfen und ich vertraue ihr nicht genug, um ihr von dem Kind zu erzählen. Wenn sie sich jetzt abwenden würde, kann ich es ihr nicht verdenken.   

„Nein. Es weiß niemand.“, antworte ich. „Nicht einmal meine Mom oder Ray. Ich wollte einfach nicht, dass es jemand erfährt und dass soll auch so bleiben.“, bitte ich betreten.

„Ähm ok. Dann werde ich das mal so hinnehmen. Aber ich habe noch einige Fragen. Wie alt ist das Kind? Ist es ein Junge oder ein Mädchen und die wichtigste Frage: Wer ist der Vater? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du in einem deiner Briefe einen Mann erwähnt hast.“ Ich seufze, denn Kate denkt, ich habe hier einen Mann kennengelernt und mit ihm zusammen ein Kind in die Welt gesetzt. Da muss ich sie wohl enttäuschen.

„Ach Kate...“, stöhne ich. „Ich habe einen kleinen Sohn. Er ist drei Jahre alt und sein Name ist Christian.“ Es war heraus, endlich. Erleichterung macht sich in meiner Brust breit. Am anderen Ende ist es auf einmal verdächtig ruhig. Dann höre ich ein Klicken und dann nichts mehr. Kate hat einfach aufgelegt. Verdattert starre ich den Hörer an und lege dann selbst auf. Mit dieser Reaktion habe ich nicht gerechnet, kann es Kate aber auch nicht verdenken. Diese Kröte ist sehr groß und muss erst einmal geschluckt werden. Im Moment kann ich nichts weiter tun, als darauf zu hoffen, dass sie mir verzeihen kann.  

Noch am selben Abend schreibe ich ihr einen Brief und versuche alles zu erklären und sie um Verzeihung zu bitten. Es vergehen eineinhalb Wochen, ohne dass ich etwas von ihr höre. Im Stillen habe ich gehofft, dass sie mich anrufen wird. Aber das hat sie nicht und eine Antwort habe ich auch nicht erhalten.

Um mich abzulenken, stürze ich mich in meine Arbeit. Ich habe wirklich sehr viel zu tun. In den vergangenen Monaten haben sich die an uns gerichteten Anfragen, von anderen Kliniken, die sich um diese speziellen Fälle nicht kümmern können, fast verdoppelt. Ich komme kaum noch hinterher und habe das Gefühl, dass mir die Arbeit über den Kopf wächst. Die Kapazitäten unseres Vereins und meine eigenen sind ausgeschöpft. Unsere Kliniken sind überbelegt. Es gibt keine freien Betten mehr, was im Klartext heißt, dass wir seit einigen Wochen, weniger schwere Fälle, nicht mehr aufnehmen können. Die entsetzten Gesichter, der betreffenden Frauen gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie haben gehofft, bei uns Unterstützung zu finden und wurden von uns abgewiesen oder an andere Einrichtungen verwiesen.

Was wird jetzt aus ihnen und ihren Kindern? Die Ungewissheit und die mir gebundenen Hände, bereiten mir von Tag zu Tag immer bohrendere Kopfschmerzen. Ich kann es mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren und fange an nach Wegen zu suchen, die es mir und meinem Arbeitgeber ermöglichen, diese untragbare Situation zu verbessern. Was wir dringend brauchen, sind eine weitere Klinik und Geldzuwendungen. Wie ich allerdings das Eine oder das Andere beschaffen soll, ist mir schleierhaft. Die Fördertöpfe des Landes sind vollkommen ausgeschöpft, sodass ich mir eine Anfrage in diese Richtung sparen kann.

Gedankenverloren spaziere ich in meiner Mittagspause mit einer neuen Patientin im Park und genieße das schöne Wetter. Sie ist sehr froh, eine der Wenigen zu sein, die noch aufgenommen wurde. Ich mag sie. Sie erinnert mich ein wenig an mich selbst. Sie ist sehr jung und hat auf der High-School den falschen Jungen kennengelernt und sich von ihm schwängern lassen. Und nun ist sie hier, weil ihre Eltern sie vor die Tür gesetzt haben. Die alte Geschichte...

Wir schlendern durch den Park und bleiben vor dem leeren Gebäude, am Ende des Grundstücks, stehen. Ich bin schon etliche Male hier vorbei gekommen, aber dieses Gebäude ist mir nie aufgefallen. Es ist wirklich sehr schön, gut ein wenig in die Jahre gekommen, aber mit dem richtigen Händchen, könnte daraus durchaus ein ansehnliches Haus werden. Ich male mir im Inneren aus, wie das Gebäude aussehen könnte und da kommt mir ein Geistesblitz. Das ist es! Ich bin mir sicher, dass es im Eigentum unseres Vereins ist und es steht seit Jahren leer. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Manchmal sind die einfachsten Antworten so nah.

Ronald, der neue Freund von Mike, meinem Lieblingsautoverkäufer, arbeitet als Architekt in einem Architektenbüro. Eigentlich hat er sehr viel zu tun aber schon zwei Tage später, verabreden wir uns zur Gebäudebesichtigung. Ich bin gespannt, was er sagt. Von außen sieht es das Haus ganz passabel aus, was uns allerdings innen erwartet, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen und rechne schon damit, dass das Gebäude so marode ist, dass sich eine Restaurierung nicht mehr lohnt, aber falschgedacht. Ronald ist so von diesem Gebäude hingerissen, dass er beim Besichtigen der hohen Räume und der Stuckdecken, ins Schwärmen gerät. Er ist Feuer und Flamme und erklärt sich bereit, mir innerhalb einer Woche ein Umbaukonzept zu projektieren.

Wahrscheinlich überschreite ich hiermit meine Kompetenzen, aber das ist mir in diesem Punkt nicht wichtig. Wir müssen etwas unternehmen, auch wenn das bedeutet, mich ein wenig zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Die Konsequenzen werde ich überleben.

Mit dem Konzept bewaffnet betrete ich den Verwaltungsbereich, werde von der Sekretärin aber nicht zum Klinikleiter und Vereinsvorstand Dr. Harrison vorgelassen, da er in einem wichtigen Meeting steckt. Sie nimmt mir das Konzept ab und versichert mit, es an Dr. Harrison weiterzuleiten.

Ein paar Tage passiert nichts. Ich bin schon ganz hibbelig und drauf und dran die Sekretärin zu fragen, ob sie das Konzept überhaupt weitergeleitet hat. Am vierten Tag erhalte ich endlich eine Terminmitteilung per Email. Ich bin ein wenig verwundert, welche Personen noch alles zu diesem Termin eingeladen sind, atme aber leichtert aus und bereite mich den Rest des Tages auf die Besprechung vor.

Dr. Harrison erhebt sich, sobald er mich erblickt und kommt mit einem herzlichen Lächeln auf mich zu. „Kommen Sie herein Miss Morgan. Wir warten schon auf Sie.“. Vorsichtig öffne ich die Tür soweit, dass ich hineinschlüpfen kann und schließe sie dann wieder geräuschlos. Meine Verunsicherung löst sich in Gefallen auf, als ich in die Gesichter der anderen Anwesenden blicke. Mit wohlwollenden Minen nicken sie mir freundlich zu und lehnen sich dann in ihren Stühlen zurück. Mit zaghaften Schritten gehe ich zu Jane und setze mich auf den letzten freien Stuhl, neben ihr. Jane greift unter dem Tisch sofort nach meiner Hand und hält sie fest.

„Liebe Miss Morgan...“, beginnt Dr. Harrison, als er selbst wieder Platz genommen hat. „... Sie haben uns alle überrascht.“, mit einer ausladenden Geste schließt er alle Anwesenden mit ein. „Die Tatsache, dass die an uns gestellten Anfragen schon immer wesentlich höher waren, als die uns zur Verfügung stehenden Kapazitäten, ist uns allen nicht neu. Wir haben mit den gegebenen Mitteln bisher so gewirtschaftet, dass wir nur wenige Anfragen ablehnen mussten. Leider hat sich, wie Sie alle wissen, diese Situation in den letzten Monaten erheblich verschlechtert. Seit dem die staatlichen Unterstützungen eingeschränkt wurden, mussten einige öffentliche Einrichtungen schließen, sodass uns nun auch diese Anfragen erreichen. Wie standen vor einem unlösbaren Problem, bis heute.“ Dr. Harrison nimmt seine Brille ab, legt sie auf den Tisch und beugt sich in meine Richtung. „Bis heute Miss Morgan...“, fährt er fort. „Oder besser gesagt, seit dem ich vor ein paar Tagen, auf meinem Schreibtisch ein fertig ausgearbeitetes Konzept, inklusive Kostennote des Architektenbüros in Höhe von 20.000 Pfund, zur Erweiterung unserer Klinik vorgefunden habe. Möchten Sie dazu etwas sagen?“ Alle Blicke richten sich prompt auf mich. Augenblicklich fange ich an zu schwitzen. Das Gefühl im Mittelpunkt zu stehen, behagt mir nicht.

Ich räuspere mich und überlege, was ich eigentlich sagen will. Ich habe mich auf diesen Termin akribisch vorbereitet, aber unter den eindringlichen Blicken, sind alle meine Argumente, die ich mir parat gelegt habe, wie weggewischt. „Ähm...“, stottere ich und entziehe Jane meine Hand, um sie auf den Tisch zu legen. „Naja..“, improvisiere ich. „Sie wissen sicherlich, dass auch ich vor einigen Jahren auf die Hilfe dieses Vereins angewiesen war. Nur durch die Unterstützung, die ich hier fand, konnten mein Sohn und ich zusammen in ein neues Leben starten. Die Wärme, die ich hier vorfand, war einer meiner Gründe, warum ich unbedingt für diesen Verein arbeiten wollte und die Fortbildung zur Sozialarbeiterin angestrebt habe. Heute bin ich ein Teil dieses wundervollen Teams und bin sehr stolz auf unsere Arbeit. Aber ich weiß, wir können noch mehr erreichen. Ich habe lange überlegt, welche Möglichkeiten wir haben und da bin ich letzten Monat, bei einem Spaziergang mit einer Patientin, auf das gegenüberliegende Gebäude gestoßen. Es ist hervorragend geeignet. Ich habe nicht lange darüber nachgedacht und habe einfach ein Architektenbüro mit der Planung, für einen Umbau, beauftragt. Mir war in diesem Moment nicht bewusst, dass ich mit der Erteilung dieses Auftrages Kosten erzeuge, die nicht abgedeckt sind. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich hätte natürlich vorab um einen Kostenvoranschlag bitten sollen.“, schuldbewusst blicke ich nach unten. Ich weiß, dass ich einen Fehler, einen teuren Fehler begangen habe, für den ich jetzt gerade stehen muss. Ich will aber, dass sie mein Handeln verstehen, hebe meinen Kopf und schaue Jeden in dieser Runde direkt an. Sie sind alle ruhig und warten, dass ich fortfahre. Na gut Ana, mache ich mir selbst Mut, Augen zu und durch. Mehr als dir die Kosten in Rechnung zu stellen und dich rausschmeißen können sie nicht. Also fahre ich mutig fort und hebe mein Kinn. „Wissen Sie, ich kenne die Angst, die die Frauen in diesen prekären Situationen durchleben. Sie fühlen sich einsam und von Allen verlassen. Es kostet diese Frauen sehr viel Mut nach Hilfe zu fragen und wenn sie dann die Nachricht erhalten, dass sie keinen Platz bei uns bekommen, weil kein Bett frei ist, bricht für sie eine Welt zusammen. Ich kann damit nicht leben, diese Frauen zurück zu weisen. Ich hoffe, Sie können mein Handeln jetzt verstehen. Sie sollen es nicht gutheißen. Ich wünsche mir nur, dass Sie verstehen.“ Wieder lasse ich meinen Blick schweifen. Einige Anwesende haben Tränen in den Augen und nicken mir zustimmend zu. Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich auf allen Gesichtern ein zufriedenes Lächeln erblicke. Mein Herz macht einen Satz. Sie verstehen mich.

Dr. Harrison wischt sich verlegen eine Träne aus dem Augenwinkel und setzt seine Brille wieder auf. „Miss Morgan, wir sind alle überwältigt von Ihnen und Ihrem Einsatz. Auch wir haben uns die Köpfe zerbrochen. Wir haben sehr lange in unserer eigenen Soße gekocht, ohne die Möglichkeiten zu betrachten, die uns außerhalb unseres eigenen Kosmos zur Verfügung stehen. Und dann kommen Sie mit Ihren frischen neuen Ideen. Sie haben uns alle überrascht und mit Ihrem Enthusiasmus aufgeweckt und letztendlich angesteckt. Liebe Kathrin, im Namen des Vorstandes danke ich Ihnen für Ihren Engagement und den frischen Wind, den Sie in unsere Reihen mitgebracht haben. Wir alle sind begeistert und stehen hinter Ihnen und dem Projekt und werden es, sofern uns die Mittel zur Verfügung stehen, gemeinsam mit Ihnen umsetzen.“ Vollkommen sprachlos blicke ich wieder in die Runde. Zufriedene Gesichter, wo ich hinschaue. Jane tätschelt meine Schulter und zieht mich in ihre Arme. „Ich bin stolz auf dich.“, sagt sie und entlässt mich dann wieder aus ihrer Umarmung, weil Dr. Harrison noch nicht fertig ist. Er gießt sich ein Wasser ein und nimmt einen großen Schluck.

„Leider kann ich Investitionen in dieser Größenordnung nicht eigenständig freigeben. Beantragte Gelder, die die 3 Millionen Grenze übersteigen, bewilligt Herr Christian Grey immer noch persönlich. Herr Grey möchte wissen, wohin seine Millionen fließen und gleichzeitig über anstehende Projekte, die diesen Verein betreffen, genauestens informiert werden. Wie Sie wissen, liegt Herrn Grey sehr viel an diesem Verein. Erst letzten Monat hat er eine neue Klinik in Südafrika eröffnet. Wir sind uns sicher, dass Herr Grey auch für unser Projekt grünes Licht erteilen wird, sobald ihm die Notwendigkeit, durch aussagekräftige Argumente, nachgewiesen wird. Ja Miss Morgan, ...“, sagt Dr. Harrison und mein Herz fängt an zu flattern, als er nach den Unterlagen vor sich greift und sie mir lächelnd über den Tisch schiebt.

„... in diesem Punkt haben wir an Sie gedacht. Sie kennen dieses Projekt am besten, haben es quasi angestoßen und mit so viel Herzblut vorangetrieben, wie wir es selten, bei einem Mitarbeiter beobachten durften. Wir sind sehr stolz auf Sie und möchten, dass Sie es sind, die Herrn Grey dieses Projekt vorstellt.“ Dr. Harrison lächelt mir aufmunternd zu, steht auf und will mir die Hand reichen. Aber da liege ich schon unter dem Tisch...

***

Hallo zusammen,

war das Kapitel zu lang? Es entspricht 7 A4 Seiten. Ich wusste leider nicht, an welcher Stelle ich es teilen sollte. Also habe ich es komplett reingestellt. 

Ich hoffe, es ist trotzdem ok und dass Ihr viel Spaß beim Lesen hattet. 

Ana muss den Schock jetzt wohl erst einmal verdauen. Ihr Credo "Der frühe Vogel fängt den Wurm", sollte sie vielleicht noch einmal überdenken, denn wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt, kann sehr schnell hinaus fallen oder eben so einen brisanten Auftrag erhalten :) Mal sehen, wie sie damit umgeht...

Freu mich, wenn Ihr weiterhin mitfiebert. 

Gewidmet habe ich dieses Kapitel: behindxfacet. Sie begleitet mich schon von Anfang an und ist eine sehr treue Leserin. Lieben Dank an dich.

LG Eure 

Marit

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