Er wollte doch immer, dass ich für ihn arbeite. Also...

Kurz vor 10:00 Uhr bin ich wieder so weit in Ordnung, dass ich meinen Termin wahrnehmen kann. Ich spähe vorsichtig aus der Toilettentür, ob die Luft kollegenfrei ist. Alles ruhig. Also husche ich in mein Büro, krame in der Handtasche nach meinem Schminktäschchen und verstecke mich hinter der Schranktür. Mein Anblick ist wirklich scheußlich. Tränenverschmierte Wangen, rote Nase und noch verquollenere Augen. Mit ein bisschen Glück wird niemand merken, dass ich geweint habe. Ich sah vorher ja schon schlimm aus.
Erst einmal das Chaos in meinem Gesicht beseitigen, dann ein wenig Rouge, ein paar Drehungen mit der Wimpernspirale und farbigen Lipgloss. So wird es gehen müssen, denn es ist 10:00 Uhr, als ich aus meinem Versteck vorkomme und das Täschchen in eine Schublade lege.

Aus Erfahrung heraus, weiß ich, dass sich unsere Besucher sehr unwohl fühlen, wenn sie das erste Mal zu uns kommen. Um es meinem Gast so angenehm wie möglich zu machen, schlendere ich langsam zum Empfang, um die Frau dort in Empfang zu nehmen.
Dabby sitzt Kaugummi kauend hinter ihrem Tresen und öffnet die Post des Tages. Als sie mich auf sich zukommen sieht, späht sie über ihre Brille und konzentriert sich dann wieder auf die unzähligen Briefe, die vor ihr liegen.
„Na geht es wieder?“, fragst sie ohne mich anzusehen. Augenrollend stöhne ich. Also hat sie meine Flucht in Richtung Toiletten beobachtet.
„Hm, hm“, antworte ich und lehne mich gegen den Tresen, den Fahrstuhl im Blick. Mehr brauchen Dabby und ich nicht, um uns zu verstehen. Sie ist auch alleinerziehende Mutter. Das hat uns von Anfang an irgendwie zu Verbündeten gemacht und ich liebe sie dafür, dass sie mich nicht weiter löchert.

Wenigen Augenblicke später gehen die Fahrstuhltüren auf und geben den Blick auf eine dunkel gekleidete, zierliche Frau Preis, an dessen Rock sich ein kleines, blondes Mädchen mit blauen Augen klammert. Ich schätze das Kind auf etwa vier Jahre.
Die Mutter sieht ungepflegt aus. Ihre Sachen sind abgetragen, ihre Haare hängen strähnig herunter und ihre Wangen sind eingefallen. Das kleine Mädchen ist hingegen sauber und ordentlich gekleidet. Was mag dieser Frau wiederfahren sein?
Sie wirkt unentschlossen, fasst ängstlich, als sie aus dem Aufzug tritt und sich suchend umsieht.
Als sie Anstalten macht wieder zu gehen, gehe ich schnell auf die beiden zu und versuche sie zum Bleiben zu bewegen. Ich hoffe, der Frau die Angst nehmen zu können und führe sie und ihre kleine Tochter in ein kinderfreundliches Zimmer, mit vielen Spielsachen.

Thomas kommt eine Minuten später mit Kaffee, einem heißen Kakao und Keksen zu uns. Wir stellen uns vor, erklären Olivia, so heißt die Mutter, welchen Themen sich unser Verein widmet und mit welchen Mitteln wir unterstützen können.
Schweigend hört sie uns zu, bis sich das Mädchen endlich traut vom Schoß ihrer Mutter zu rutschen, um zu den Spielsachen zu gehen. Auf diesen Moment haben wir gewartet. Sobald sich die Kinder wohlfühlen, entspannen sich auch ihre Eltern.

Mit Tränen in den Augen sieht die Mutter ihrer Tochter beim Spielen zu und beginnt uns ihre Geschichte zu erzählen. Vor vier Jahren ist sie nach London gezogen, um hier Kunst zu studieren, hat dann aber den falschen Mann kennen gelernt und das Studium geschmissen. Als sie unerwartet schwanger wurde, hat er sie sofort verlassen und ist zu einer anderen Frau gezogen.
Zu ihren Eltern konnte sie nicht zurück. Sie waren sehr gläubig und hätten das uneheliche Kind nie akzeptiert. Olivia stand mit ihrem dicken Bauch ganz alleine dar.

Die letzten vier Jahre hatte sie sich mit Gelegenheitsjobs, mehr recht als schlecht durchgeschlagen. Jetzt geht es aber so nicht mehr weiter. Sie ist am Ende, ausgelaugt, ohne Job und ihre Wohnung wurde auch gekündigt. Aber das wichtigste: sie ist erneut schwanger und weiß nicht, wie sie ihre Kinder ernähren oder wovon sie die Krankenhauskosten, die in nächster Zeit auf sie zukommen werden, begleichen soll.

Ein Schluchzer unterdrückend sieht sie zu ihrer Tochter hinüber. Es ist so viel Liebe in ihrem Blick, so viel Sorge und Verzweiflung.
Ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken herunter und ich werde kreidebleich. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit kenne ich nur zu gut und weiß genau, wie sich diese Frau fühlt. Von der Welt im Stich gelassen, allein, und unendlich einsam. Olivias Geschichte ist auch meine Geschichte.

Um Fassung ringend, greife ich ihre Hand und ziehe Olivia aus dem Stuhl in meine Arme. Ich wiege sie, bis ihre Tränen versiegt sind und sie sich soweit beruhigt hat, dass wir uns wieder setzen und mit ihr über die Hilfe sprechen, die wir ihr anbieten können.
Drei Kaffee später, huscht das erste Mal ein zaghaftes Lächeln über ihr Gesicht. Den Blick den sie jetzt ihrer, in das Spiel vertieften, Tochter zu wirft, ist ein anderer. Zuversicht und Hoffnung spiegeln sich in ihren Augen wieder.
Wir werden sie und ihre kleine Hanna in eins unserer Projekte aufnehmen, indem wir die beiden in einer sicherer Unterkunft unterbringen, die Mutter während der Schwangerschaft begleiten und die kleine Familie im Anschluss dabei unterstützen, wieder in ein geregeltes Leben zurückzufinden.

Beim Abschied vereinbaren wir ihren Einzugstermin, geben ihr noch einigen Formulare mit und begleiten sie zum Fahrstuhl. Als sich die Fahrstuhltüren öffnen, dreht sie sich noch einmal zu mir um und nimmt mich ganz fest in die Arme.
Die Tränen, die sie jetzt vergießt sind Freudentränen. Ich erwidere ihre Umarmung und weine mit ihr, für sie und ein wenig auch für mich.

So einen emotionalen Morgen, brauche ich nicht jeden Tag und muss, als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, über die Ironie des Schicksals lächeln.

Der Verein, für den ich tätig bin, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Familien in Notlagen zu unterstützen. Wir kümmern uns unter anderem um mittellose, werdende Mütter, die in einer privaten Klinik, außerhalb von London, untergebracht werden. In der Klinik werden sie medizinisch und psychologisch betreut und auf ein Leben mit Kind vorbereitet. Nach der Geburt begleiten wir die Mutter und unterstützen sie beim Neustart.

Die Ironie dabei: Finanziert werden die Klinik und unser Verein ausschließlich durch Gelder aus dem Hause Christian Grey. In den letzten Jahren, hat er in vielen Großstädten rund um die Welt, solche Kliniken eröffnet und investiert Millionenbeträge in diese Projekte. Den Grund für sein Vorgehen kennt niemand, nicht einmal ich.

Bei dem Gedanken, was er wohl denken würde, wenn er wüsste, dass ich für ihn arbeite, schüttle ich den Kopf. Er wollte doch immer, dass ich für ihn tätig bin. Also bin ich nur seinem Wunsch nachgekommen.

Zum Feierabend fahre ich noch auf einen Kaffee bei Mike, meinem schwulen Autoverkäufer vorbei. Ich freu mich auf ihn. Er ist ein guter Freund und Zuhörer, der es zeitweise schafft, mich mit seinen lustigen Anekdoten, aus dem Leben eines Automobilverkäufers, abzulenken.

Bei meiner Suche nach einem kleinen Auto, habe ich ihn vor einem Jahr kennen gelernt. In meinem vorherigen Leben, hat mal jemand zu mir gesagt, dass die Schweden und Deutschen die sichersten Autos bauen. Einen Saab konnte ich mir nicht leisten aber dafür einen Kleinwagen von VW.
Ich muss in diesem riesigen Autohaus, zwischen den ganzen Autos so verloren ausgesehen haben, dass Mike sich meiner annahm und mir genau DAS Auto heraussuchte, welches zu meinem Geldbeutel und zu mir passte.

Nach nur einer halben Stunde, hatte ich meine Unterschrift unter einen Kaufvertrag gesetzt und war nun stolze Eigentümerin eines knallroten VW Polo.
Und als extra Zugabe, erhielt ich Mikes Freundschaft. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht viele Freund und freute mich riesig mit ihm reden zu können. Unsere tiefschweifenden Gespräche über Kosmetik, Mode und Frauenprobleme dauern manchmal die ganze Nacht. Aber am besten sind die Abende, an denen wir etwas trinken gehen. Schwule Freunde haben wirklich Vorteile. Ich brauche nie Angst haben, von einem fremden Mann angesprochen zu werden, da alle annehmen, dass wir ein Date haben.

Heute allerdings würde ich auf meinen Kaffee und Mikes guter Laune verzichten müssen. Als ich das Autohaus betrete, ist er in ein sehr intensives Gespräch mit einem äußerst attraktiven Mann vertieft, der bei geöffneter Fahrertür, auf einem Fahrersitz eines schwarzen SUV Platz genommen hat. Die Augen des Mannes sind nicht etwa auf das Cockpit gerichtet sondern fixieren Mike. Sein Blick wandert an Mikes Körper runter und wieder hoch. Das was er sieht, lässt seine Augen funkeln und Mike sexy lächeln.

Mike ist heute wirklich eine Augenweide. Der dunkelgraue Anzug, den wir letzte Woche zusammen gekauft haben, sieht wirklich fantastisch an seinem durchtrainierten Körper aus. Er steht vorn übergebeugt, mit seinem Oberkörper halb im Fahrerhaus und erläutert dem jungen Mann den Innenraum des Fahrzeugs. Seine dunkle, verführerische Stimme, mit der er den potentiellen Käufer bedenkt, kann ich bis hier hören. Er ist eindeutig auf der Jagd und seine Beute hat bereits angebissen.

Ein wenig enttäuscht, kehre ich den beiden Turteltauben den Rücken.

„He, schöne Frau. Wollen Sie schon gehen? Ich dachte wir hatten ein Date?“, höre ich Mikes Stimme hinter mir und im nächsten Moment hat er mich von hintern umarmt und gibt mir einen sehr sinnlichen Kuss hinter mein Ohr. Wüsste ich nicht genau, dass er nur auf Männer steht, hätte ich ihm eine geknallt. Stattdessen drehe ich mich um und lasse mich von ihm in die Arme ziehen.
„Du weißt, dass wir beobachtet werden?“, flüstere ich ganz leise an sein Ohr und blicke über seine Schultern. Der junge Mann sieht uns irritiert und mit gerunzelter Stirn zu, wie wir uns begrüßen.
„Hm, Hm, aber das macht es doch viel interessanter. So verkaufe ich nicht nur ein teures Auto, sondern bekomme auch noch seine Telefonnummer. Zwei Fliegen mit einer Klappe.“, murmelt er mir ins Ohr und küsst mich auf die Stirn.
„Mike, du bist unmöglich.“, kichere ich. „Aber ich drück dir die Daumen, für beides und jetzt lass mich los. Wir telefonieren heute Abend.“, dann löse ich mich aus der Umarmung, gebe ihm eine Kuss auf die Wange und verabschiede mich.
„Vergiss nicht, deine heiße Unterwäsche anzuziehen.“, höre ich Mike mir hinterherrufen, bevor die Tür zu fällt. So ein Idiot, denke ich, muss aber über seinen blöden Spruch lachen. Der junge Mann tut mir jetzt schon leid. Wenn er wüsste, auf was er sich da einlässt, würde er es sich sicherlich noch einmal überlegen.

Es ist zwar noch ein wenig früh, aber Christian wird sich freuen, dass ich ihn früher abhole. Als ich nach einer viertel Stunde bei seiner Nanny ankomme, bleibe ich im Türrahmen stehen, um ihm beim Spielen zu zusehen. Er sitzt vor einem bodentiefen Fenster in der Sonne und spielt lautstark mit einem Hubschrauber, den er über seinem Kopf kreisen lässt. Bei diesem Anblick muss ich schlucken und schließe für einen Moment die Augen. Die Erinnerung an Charlie Tango und einen wunderschönen, vergangenen Tag, hat mich kalt erwischt und ich brauche einen Moment, bis sich mein Herzschlag wieder beruhigt hat.

„Mommy, Mommy!“, ruft Christian, als er mich entdeckt, springt auf und stürzt sich freudestrahlend in meine Arme. Ich umarme ihn ganz fest und drehe mich mit ihm um die eigene Achse. Christian quietscht vor Freude und vergräbt seinen kleinen Kopf an meiner Brust. Als ich ihn wieder absetze, sind wir beide so außer Atem, dass wir uns erst einmal hinsetzen müssen.

Die Nanny kommt zu uns herüber und berichtet von den wichtigen Dingen des Tages und das sie dabei waren ein neues Lied zu erlernen. Als ich das höre, stellen sich meine Nackenhaare auf. Meinen wütenden Blick quittiert die Nanny mit einem breiten Grinsen und streichelt Christian über den Kopf.
Mein Sohn singt für sein Leben gerne und ist emsig dabei, Neuerlerntes durch ausgiebiges und lautes Üben zu festigen. Bei dem Gedanken, ihn den Reste des Tages Trällern zu hören, bekomme ich Kopfschmerzen. So sehr ich ihn auch liebe, muss ich doch zugeben, dass Singen nicht seine Stärke ist.

Das Grinsen der Nanny wird noch breiter, als sie mir mitfühlend auf die Schulter klopft und aufsteht, um die Eltern von Christians kleiner Freundin, Maggi zu begrüßen.

Sandy und Bill holen ihre Tochter immer gemeinsam ab. Christians neugieriger Blick auf diese intakte Familie entgeht mir nicht. Er beobachtet genau, wie Bill seine Tochter begrüßt und liebevoll in die Arme schließt.

Ich weiß der Tag wird kommen, an dem er fragen wird, wo SEIN Daddy ist.

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