Kein Kraut
Ida hatte das Unkraut schon gepackt, aber sie zögerte, es herauszuziehen. Was war das für eine Pflanze? Sie erkannte die Art nicht. Sicher keine einheimische Pflanze; vielleicht eine eingeschleppte? Oder eine von denen, die sich als Folge des Klimawandels selbst neue Verbreitungsgebiete erschlossen hatten?
Unkraut musste weg, sonst wuchs das Gemüse nicht. Andererseits sollte man nicht die Gelegenheit verpassen, einen neuen aggressiven Eindringling früh genug zu erkennen. Oder die Möglichkeit, eine neue Nutzpflanze anzubauen. Die Pflanze roch auffallend gut; schon allein deshalb konnte sie vielleicht nützlich sein.
Ida zog die Handschuhe aus, stand auf und ging zum Haus, um ihren größten Schatz zu holen: das Buch.
Ein richtiges Buch, auf Papier gedruckt. Sehr viel, sehr dünnes Papier, in einem sehr stabilen Einband. Die meisten Menschen hätten es nur noch als Brennstoff gesehen. Schließlich gab es immer noch genug Strom, um Smartpads aufzuladen, und oft sogar Internet. Wer braucht da gedruckte Bücher? Unhandlich, unpraktisch, unmodern. Auch, wenn die Zivilisation fast zusammengebrochen war: so tief war man noch nicht gesunken.
Wenn man allein in der Wildnis lebte, sah das allerdings schon anders aus.
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Ida saß neben der Pflanze am Beetrand und blätterte und blätterte. Das konnte einfach nicht sein. Die Pflanze war nicht zu identifizieren. Diese Kombination von Merkmalen war einfach nicht vorgesehen.
Das widerstrebte ihr zutiefst. Sie brauchte Ordnung, und Gewissheit. Sie hatte den größten Störfaktor, andere Menschen, bereits weitgehend ausgeschlossen. Die Natur ist oberflächlich chaotisch, aber aus der richtigen Perspektive wohlgeordnet. Genetische Abstammungslinien bilden eine weitverzweigte Systematik, und jedes Ding hat seinen Platz darin.
Diese Pflanze nicht.
Eine bisher unentdeckte Art? Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Dann sollte sie sich allerdings wenigstens irgendwo in die Systematik einfügen, in eine Ordnung, Familie und Gattung passen.
Tat sie aber nicht.
Ida war ratlos. Vielleicht verstand sie die Beschreibung eines Merkmals falsch und kam deshalb nicht zum richtigen Ergebnis? Bei aller Ausgefeiltheit waren manche Merkmale doch eher unscharf, nicht exakt abgegrenzt zu ähnlichen Ausprägungen.
Das musste es sein. Sie würde ein paar Alternativen testen.
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Ida stand in der Küche und schnupperte vorsichtig an dem dampfenden Sud. Er roch wie die Pflanze, nur etwas milder.
Nach vielem Herumprobieren hatte sie drei Kandidaten ermittelt, drei Pflanzen, deren bisher unbekannte Verwandte diese sein mochte. Bei allen dreien war vermerkt, dass aus ihren Blättern Tee gemacht wurde. Das war keine Garantie, dass es bei dieser auch eine gute Idee war, aber angesichts des guten Geruchs war der Gedanke verlockend.
Es war ein Risiko. Es konnte eine sehr, sehr schlechte Idee sein. Mit ihrem kleinen Heimlabor hatte sie ein paar mögliche Giftstoffe ausschließen können, aber es blieben noch genug übrig.
Was auch immer an Wirkstoffen in der Pflanze sein mochte, es war sehr verdünnt in diesem Sud. Äußert unwahrscheinlich, dass sie davon direkt tot umfallen würde. Vielleicht konnte die Wirkung aber dazu führen, dass sie sich genau das wünschen würde. Andererseits, wie solle sie sonst herausfinden, ob man den Tee trinken konnte?
Sie pustete noch etwas Wärme fort, atmete noch einmal den Duft ein, dann trank sie langsam.
Es schmeckte auch gut.
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Ida betrachtete sich in dem großen Wandspiegel, den die Vorbesitzer des Hauses praktischerweise zurückgelassen hatten. Blaues Batik-Kleid, grüne Batik-Hose, lila Batik-Schals, eine Holzperlenkette mit einem Anch-Anhänger und Federn daran, die graumelierten Haare hinten im Zopf, vorne ein paar lose Strähnen ins rundliche Gesicht hängend. Dazu noch ein leicht entrücktes Lächeln – perfekt. Ihre Kräuterfrau-Maske für den wöchentlichen Stadtbesuch war komplett.
Sie hatte schon ihr ganzes Leben lang anderen Menschen gegenüber eine Maske getragen. Bis vor kurzem war es die Maske der Normalität gewesen. Sie hatte so getan, als wäre sie wie alle anderen, als könnte sie Menschen mühelos verstehen und mit ihnen kommunizieren. In Wirklichkeit war es immer harte Arbeit gewesen. Gesten, Haltung, hunderte von Details im Gesichtsausdruck – sie hatte sie alle mühsam analysieren und identifizieren müssen. Ständig. Pflanzen bestimmen war ein Witz dagegen.
Diese Maske war viel besser. Eine eklektische Mischung aus Esoterik, New Age, Neo-Paganismus, Selbstversorgung, Naturfreundschaft und was sich sonst noch so ergab. Für jeden "anders" genug, um auf Distanz zu bleiben; genau das, was Ida bevorzugte.
Sie stutzte. Irgendetwas an ihrem falschen Lächeln war nicht richtig. Sie hatte die Augenpartie mit einbezogen, sie war ja schließlich keine Anfängerin, aber trotzdem sah es nicht echt aus.
Das war schlecht. Die Maske diente nebenbei auch als Marketinginstrument, um einige ihrer Produkte zu verkaufen. Undefinierbare Naturverbundenheit mit geheimnisvoller Glücklichkeit – das zog gut in dieser zugrunde gehenden Welt, ohne zugleich Begehrlichkeiten zu wecken.
Mit einem sichtbar falschen Lächeln war aber schnell der feine Grat zu unheimlicher Verrücktheit überschritten. Nicht gut fürs Geschäft.
Dabei hatte sie jetzt gerade ihr neues Produkt, ihren neuen Kräutertee am Start: eine Mischung herkömmlicher Kräuter mit "Wohlgeruch", wie sie die neue Pflanze getauft hatte. Der Name war noch nicht vergeben, und er klang sehr authentisch, fand Ida. Wie ein echter, volkstümlicher Pflanzenname. Das war ihr gut gelungen.
Komisch, jetzt sah das Lächeln richtig aus.
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Vorsichtig hangelte Ida sich am Geländer der halb zerstörten Brücke entlang. Das letzte Hochwasser hatte sie schwer beschädigt, aber niemand kümmerte sich darum. Auf der einen Seite war sowieso nur noch Wildnis, auf der anderen Seite standen die meisten Häuser leer. Eine Häuserzeile war abgebrannt, das war neu. Es stank.
So schnell, wie es ihr für ihre Maskerade noch gerade angemessen schien, setzte Ida den Weg fort, zum Stadtteilzentrum, dahin, wo noch etwas Leben war und wo es noch Geschäfte gab. Bernds Laden, zum Beispiel. Auch, wenn er nicht viel hermachte, gewährleistete der Laden doch die Grundversorgung des Stadtteils. Das Angebot war etwas wechselhaft, je nachdem, was Bernd aus seinen verschiedenen Quellen gerade beziehen konnte. Und eine der Quellen war Ida.
"Frieden und Glückseligkeit!" wünschte sie, als sie den Laden betrat.
Bernd, glattrasiert aber Haare strubbelig, der Hemdkragen unordentlich aus dem tadellosen weißen Kittel hervorragend, saß an der Kasse und sah von seinem Smartpad auf. Er schien zunächst verärgert über die Störung, dann schaltete er sein professionelles, künstliches Lächeln ein. "Ähm, ja – das wünsche ich dir auch."
Ida war einen Moment aus dem Konzept gebracht. Bernds Reaktionen waren so... deutlich.
"Wie ... läuft es denn so?", fragte sie.
"Ach, es läuft", sagte Bernd. "Halbwegs. Die Welt geht weiter zugrunde; die Menschheit ist schlecht, dagegen ist halt kein Kraut gewachsen. Man stemmt sich dagegen an, so gut es geht, nicht wahr?"
"Ja", sagte Ida. Sie war verwirrt. Sie verstand, ja sie verstand wirklich, dass es nicht tatsächlich um das ging, was Bernd sagte.
"Du hast sicher etwas mitgebracht, Ida?", fragte Bernd.
"Ja, natürlich", sagte Ida. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Rolle. Entrücktes Lächeln, Einssein mit dem Universum – und die Geschäfte abwickeln. Sie tätschelte die prall gefüllte Umhängetasche. "Ich habe heute extra viel Kräutertee dabei!"
"Ah", sagte Bernd. Sein Lächeln war breit, aber er klang nicht begeistert. Eigentlich sah er eher ... peinlich berührt aus. "Weißt du,..."
"Es ist eine neue Mischung. Mit Wohlgeruch!"
"Wohlgeruch?" Jetzt sah Bernd offen verwirrt drein.
"Fragrantia odorata." Ida hatte sich den Namen etwas zusammengestückelt aus ihrem Buch. Ein Botaniker hätte sie wahrscheinlich ausgelacht, aber zum Glück war Bernd keiner. "Ist in dieser Gegend eigentlich nicht heimisch, aber jetzt habe ich es wildwachsend gefunden. Alles ist im Fluss. Ist das nicht schön?"
"Nun, ja, so kann man es auch sehen", sagte Bernd.
"Hier, riech mal!" Ida zog eine Papiertüte aus ihrer Tasche, öffnete sie und hielt sie Bernd hin.
Bernd streckte erst den Kopf nur ein wenig vor und schnupperte, dann beugte er sich näher heran und schnupperte noch einmal. "He, das ... das riecht wirklich gut!"
"Nicht wahr?", sagte Ida. "Die Pflanze macht ihrem Namen wirklich alle Ehre!" Sie musste sich zusammennehmen, damit aus ihrem entrückten Lächeln kein verschmitztes Grinsen wurde.
"Schmeckt das auch so?", fragte Bernd.
"Oh ja!"
"Sehr schön." Bernd sah nachdenklich aus. Genauer gesagt schien er gerade ein paar Kalkulationen im Kopf anzustellen. "Das ist gut. Das ist ... sehr gut. Neulich ist nämlich mal eine Lieferung Kaffee bei Neumann in der Innenstadt angekommen. Keine Ahnung, wo er den herhat. Aber seitdem geht Kräutertee nicht mehr gut. Zu langweilig, sagen mir die Kunden. Zu fade. Aber mit der neuen Geschmacksnote..."
Er lächelte. Nein, er grinste. "Wir sind wieder im Geschäft!"
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Ida dehnte sich. Der Rückweg aus der Stadt war noch anstrengender gewesen als der Hinweg, mit den Sachen, die sie bei Bernd praktisch im Tausch für den Kräutertee gekauft hatte. Er war verdächtig großzügig gewesen. Entweder waren mit dem Kaffee so viele andere Waren gekommen, dass die Preise heruntergegangen waren, oder er verdiente mehr an dem Tee als Ida dachte. Ihm war anzusehen, dass es ihm nicht viel ausmachte, ihr mehr zu geben.
Das war etwas, was sie den ganzen Rückweg beschäftigt hatte. Wieso fiel es ihr auf einmal so leicht, Bernds Absichten zu erkennen? Seine Mimik und Gestik zu interpretieren? Hatte die lange Einsamkeit ihre Wahrnehmung verändert? Aber warum jetzt? Letzte Woche hatte sie noch nichts davon gemerkt.
Sie warf einen Blick auf den Tee, den sie sich aufgesetzt hatte. Erst die Beete kontrollieren; wenn sie sich einmal hingesetzt hatte, würden ihre Beine nicht mehr aufstehen wollen. Sie hatte in der Umgebung noch mehr Wohlgeruch gefunden und einen Teil in ein Beet umgepflanzt. Es war noch nicht ganz klar, wie gut das den Pflanzen bekam.
Sie nahm ihre Handschuhe, falls sich ein paar Sofortmaßnahmen anboten, trat hinaus – und bleib wie angewurzelt stehen.
Mitten zwischen den Beeten stand ein Mann. Groß, hager, zerzaust. Und mit einem Gewehr.
Vielleicht war er auf der Jagd. Sein Blick legte allerdings nahe, dass sie die Beute war.
Sie schluckte. Sie konnte sich nicht wehren, sie konnte nicht entkommen, niemand konnte ihr helfen. Niemand würde je erfahren, was passiert war; Bernd würde nur vergeblich darauf warten, dass sie nächste Woche wiederkam.
Es gab nur eins, was sie tun konnte.
Sie strahlte über das ganze Gesicht. "Besuch! Wie schön!" Sie breitete die Arme aus. "Komm doch näher!"
Der Mann sah sie misstrauisch an, trat aber ein paar Schritte auf sie zu.
"Ich glaube, ich kenne dich noch nicht", sagte sie. "Ich bin Ida. Und wie heißt du?"
Der Mann musterte sie mit einem Blick, der es ihr noch schwerer werden ließ, unbekümmert zu bleiben. "Hasso", sagte er.
"Schön", sagte sie. Schön, dass er was gesagt hatte. "Komm doch rein, der Tee ist fast fertig."
Der Mann sah sie prüfend an, schielte zum Haus rüber. Wahrscheinlich wog er die Chancen ab, dass das eine Falle war.
"Der Tee reicht bestimmt für zwei", sagte sie, als ob er sich darüber Sorgen machen würde. "Und ich kann auch noch mehr aufsetzen. Eigentlich wollte ich gerade noch kurz nach den Beeten schauen, aber das kann ich auch später machen. Gastfreundschaft geht vor."
Sie ging langsam zur Tür, eine Hand ihm entgegengestreckt, als wollte sie ihn mit sich ziehen, ihr Lächeln immer ihm zugewandt. Sie trat ein und ging zum Tisch. Zum Glück hatte sie tatsächlich zwei Stühle; einen, um die Beine daraufzulegen. Sie nahm einen weiteren Becher aus dem Regal, stellte ihn auf den Tisch, sah in die Teekanne.
"Ich glaube, der hat schon genug gezogen", sagte sie und goss ein. Sie platzierte seinen Becher vor dem Zweitstuhl, nahm ihren Tee und setzte sich.
"Setz dich, trink!", sagte sie. "Meine neueste Kräuterteemischung. Ich nenne sie 'Wohlgeruch', nach der neuesten Zutat."
Er wirkte verunsichert. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, sich in dieser Situation wiederzufinden. Das war gut für sie. Jetzt mochte er sich spontan überlegen, die Gelegenheit zu nutzen sich erst einmal ein wenig umzusehen und sie auszuhorchen. Und noch etwas zu trinken, bevor er tat, was er eigentlich tun wollte. Oder, mit viel Glück, anstatt.
"Komm", sagte sie und deutete auf den freien Stuhl. "Lass den Tee nicht kalt werden! Dann verfliegt der gute Geruch."
Er gab sich einen Ruck, zog den Stuhl zurück und setzte sich, etwas umständlich mit dem Gewehr in den Händen. Die rechte Hand, nah am Abzug, ließ er am Gewehr, mit der linken nahm er seinen Becher. Er roch daran.
"Herrlicher Geruch, oder?", fragte sie. "Wohlgeruch. Ich habe die Pflanze erst vor kurzem in meinen Beeten entdeckt. Sie wächst hier eigentlich gar nicht. Oder wuchs, denn jetzt scheint sie sich hier ausgebreitet zu haben. Ich versuche, sie anzubauen, damit ich ganz viel Tee damit machen kann. Die Leute werden ihn lieben!"
Er starrte sie an, dann nippte er vorsichtig.
"Schmeckt genauso gut wie es riecht, nicht wahr?", fragte sie.
"Ja", sagte er. "Ist lecker."
Sie strahlte, was ihr Gesicht hergab. "Das ist schön, dass es dir schmeckt! Ich glaube, alle werden den Tee mögen. Ich habe noch niemanden getroffen, der ihn nicht mochte." Sie verkniff sich, über die Größe der Stichprobe zu reden, auch wenn sie dringend weiteren Gesprächsstoff brauchte.
Sie musste ihn zum Reden bringen. Was war eine gute Frage? "Bist du häufig hier draußen?"
Er zuckte mit den Schultern. "Geht so."
"Jagst du Rehe?", fragte sie. "Es gibt hier welche. Ich musste einen Zaun bauen, sonst hätten sie mir meinen Salat weggefressen."
Er zuckte wieder mit den Schultern. "Wenn es sich ergibt."
"Was machst du sonst?" Gefährliche Frage, aber ihr fiel nicht mehr viel ein.
"Ich guck, was es so zu holen gibt."
Das war eine verblüffend ehrliche Antwort. Das durfte jetzt nicht in die falsche Richtung gehen.
"Ah, natürlich", sagte sie schnell. "Die Leute haben so viel einfach zurückgelassen! Das ist Verschwendung, und zugleich Umweltverschmutzung. Ich finde es schön, wenn jemand einen Beitrag leistet, dass das nicht so bleibt."
Er sagte nichts dazu.
"Interessierst du dich auch für Pflanzen?", fragte sie.
Er sagte immer noch nichts.
"Pflanzen sind meine Leidenschaft", sagte sie. "Ich meine, ich baue einige an und ich sammle andere, ich lebe praktisch von ihnen, aber auch die übrigen faszinieren mich."
Sein Blick sagte, dass ihn andere Dinge mehr faszinierten.
Ein Geistesblitz durchzuckte sie. Sie beugte sich vor, legte mühsam unterdrückte Begeisterung in ihre Stimme. "Soll ich dir meinen größten Schatz zeigen?"
Er war interessiert.
Sie stand auf, ging zum Regal, griff mit Mühe das große Buch und schleppte es zum Tisch.
"Vorsicht", sagte sie. "Nur mit gewaschenen Händen anfassen!"
Sie legte das Buch auf den Tisch, schlug es auf und blätterte darin.
"Schau, hier findet man alle Pflanzen der Welt! Egal was es ist, mit diesem Buch kann man es bestimmen! Man muss sich ein bisschen einfinden, wie es funktioniert, aber wenn man es einmal verstanden hat, geht es ziemlich leicht! Hast du eine Lieblingsblume?"
"Nicht wirklich", sagte er.
"Dann ... nehmen wir die hier." Zum Glück hatte sie noch eine herumliegen, auch wenn sie nicht so viel von Deko hielt. "Also, man hangelt sich quasi an bestimmten Merkmalen entlang, wie zum Beispiel ..."
🌿
Sie erklärte. Sie erzählte. Mehr und mehr redete sie, wenn er schon nicht wollte.
Sie redete um ihr Leben.
"Das fasziniert dich wirklich", sagte er plötzlich.
"Ja", sagte sie. "Es bedeutet mir alles. Und es ist alles, was ich habe."
"Deine Esoterik-Nummer ist eine Lüge. Du bist einfach ein Botanik-Freak."
Ihr rutschte ein schiefes Lächeln heraus. "Ja, das bin ich wohl."
"Und du hast Angst vor mir."
"Ja", sagte sie.
"Weil ich ein Gewehr habe."
"Auch."
Er sah sie an.
Es war aus. Sie hatte keine große Chance gehabt, und es hatte einfach nicht geklappt.
Vielleicht würde es nicht ganz so schlimm werden. Vielleicht würde es schnell gehen.
Die letzte Zeit war schön gewesen, allein in der Wildnis. Ihre Pflanzen, ihr Buch.
Das Buch würde er vielleicht vernichten, aus Ärger darüber, dass sie nichts wirklich Wertvolles hatte. Aber außer ihr interessierte sie sowieso niemand dafür.
Es war schon ganz in Ordnung, rational betrachtet.
Es fühlte sich aber nicht so an.
"Hör auf!", schrie er und knallte seinen Teebecher auf den Tisch.
Das hatte sie nicht erwartet. "Ich mache doch gar nichts", sagte sie.
"Doch! Du ballerst mich voll, mit diesen ... Gefühlen!"
Gefühle? "Was meinst du?"
"Diese ... Traurigkeit. Wehmut, oder wie das heißt. Hör auf damit!" Er packte sein Gewehr, schwenkte es links herum und rechts herum, als wäre er unschlüssig, ob er damit schießen oder prügeln sollte. "Wie machst du das?!"
"Ich weiß nicht, was du meinst. Ich sitze hier einfach und ... schließe mit meinem Leben ab."
"Das ist nicht wahr!", schrie er. "Du verwendest irgend so einen Psychotrick! Du kannst doch irgendwas von diesem Para-Krams!"
Er war so wütend. Nein, verblüfft erkannte sie, dass er ängstlich war, panisch geradezu.
"Ich?", sagte sie. "Ich kann keine Psychotricks. Ich kann nicht mal normal sein, nicht mal mit Menschen normal umgehen, sie verstehen. Nur als ich heute Bernd den Tee verkauft habe, da ..."
"Der Tee!", schrie Hasso und sprang auf. "Du hast den Tee vergiftet! Du hast ihn sogar selbst getrunken, dich selbst vergiftet, nur um mir eins auszuwischen!"
Sie zuckte zusammen. "Der Tee ... Das passt! Seit ich den Tee getrunken habe, verstehe ich andere Menschen besser! Na ja, ich habe bisher nur zwei getroffen, aber ..."
"Du blöde ..." Er richtete die Mündung seines Gewehrs auf ihr Gesicht.
Sie sah ihn an, über den Gewehrlauf hinweg. Ein panischer Mann sollte das letzte sein, was sie sah. Immerhin konnte sie das jetzt erkennen. Traurig.
Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Das Gewehr zitterte.
Er brüllte – und rannte aus dem Haus.
Sie blieb wie erstarrt sitzen. Sie verstand Menschen jetzt besser, eindeutig, aber ganz verstand sie sie immer noch nicht.
🌿
Ida fand ihn hinter dem Gemüsebeet kniend, mit dem Gesicht zum Wald. Das Gewehr lag neben ihm. Wahrscheinlich wäre es vernünftiger gewesen, wegzulaufen. Sie ging trotzdem zu ihm hin.
"Hasso?"
Er schluchzte.
"Ich denke nicht, dass der Tee giftig ist", sagte sie. "Vielleicht eine leichte Droge. Eine, die Menschen wie mich etwas normaler werden lässt, sie andere bessere verstehen lässt. Das ist vielleicht ungewohnt, aber ziemlich harmlos."
"Harmlos?" Er drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war tränenüberströmt. "Du hast keine Ahnung, was du mir angetan hast! Andere Menschen verstehen! Begreifen, was sie fühlen! Was ich ... was ich ihnen ... angetan habe!"
Sie erstarrte. Er hatte an vergangene Begegnungen gedacht und sie jetzt anders verstanden? Darauf war sie noch überhaupt nicht gekommen. Sie verdrängte alle Erinnerungen, so gut sie konnte. Alle Erinnerungen an andere Menschen.
An Familie. An Freunde – oder solche, die sie für Freunde gehalten hatte. Mitschüler. Kollegen. An die, in die sie verliebt gewesen war.
Bilder tauchten aus ihrem Gedächtnis auf. Szenen spulten sich ab.
Sie sah sie mit neuen Augen.
Ihr wurde schlecht.
🌿
Sie saßen am Tisch, vor sich frischen Tee. Ohne Wohlgeruch.
"Es ist heftig", sagte er.
"Ja", sagte sie. "Folter."
"Meinst du, es hört wieder auf?"
"Ich weiß es nicht. Kann Wissen ungeschehen gemacht werden?"
Er seufzte. "Nein, wahrscheinlich nicht."
Sie lachte auf.
"Was?", fragte er.
"Vielleicht ist das einfach nur richtiges erwachsen werden? Begreifen, was man selbst und andere tun?"
"Weiß nicht", sagte er. "Käme verdammt spät bei mir."
"Bei mir auch", sagte sie.
"Und jetzt?", fragte er.
"Wie meinst du das?"
"Ich kann auf jeden Fall nicht so weitermachen wie bisher." Er fuhr sich durch die Haare. Ratlos, wie sie erkannte.
"Das ist ... wahrscheinlich gut für andere."
"Ja", sagte er. "Sehr sicher sogar. Du brauchst dir da wahrscheinlich weniger Gedanken zu machen."
"Doch", sagte sie.
"Wieso? Hast du Leute mit deiner Botanik-Begeisterung buchstäblich zu Tode gelangweilt?"
"Ich habe Leuten wehgetan. Und ich habe eine große Ladung von dem Tee in Umlauf gebracht."
"Ach du dickes Ei. Oh, man. Das ..." Er dachte nach. "Das könnte eine gute Sache sein."
Sie sah ihn verwundert an.
"He, ich bin nicht der einzige Mistkerl auf der Welt!", sagte er.
"Du meinst ...?"
"Genau."
"... ich habe die Welt verbessert?"
"Japp."
"Um ein paar Kilo Tee."
"Du kannst noch mehr davon machen, oder?"
"Das ist nicht dein Ernst!"
"Warum nicht?", fragte er. "Wenn's nicht mehr braucht, als die Blätter von einer Pflanze, die hier von selber wächst, dann kann die ganze Welt verbessert werden. Sollen's die anderen auch abkriegen; dann können sie's wenigstens nachfühlen."
Sie dachte darüber nach. "Das kann ich nicht alleine."
"Musst du ja auch nicht. Such dir jemanden, der dir hilft. Die richtigen Leute zu finden sollte jetzt eine Leichtigkeit für dich sein."
"Hast du schon was vor?", fragte sie.
"Ich? Du weißt ... Na ja, du kannst dir denken, was ich für einer bin!"
"Warst."
"Vielleicht war, aber das macht nichts ungeschehen."
"Aber ich weiß, oder kann mir zumindest denken, was nicht mehr geschehen wird."
Er schnaufte. "Okay, ich kann's versuchen. Zumindest, bis mich meine Vergangenheit einholt."
"Gut", sagte sie. "Vielleicht haben wir bis dahin ja schon die Welt gerettet."
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