~Kapitel 21~

Zitternd saß Dan auf seinem Stuhl und starrte wie hypnotisiert auf Aubrey, deren Atem ruhig und gleichmäßig ging. Das Gesicht des Mädchens wirkte tiefenentspannt, einzig und allein das Veilchen an ihrem Auge zeigte, dass ihr Zustand nicht so gut wahr, wie es den Anschein hatte. Immer noch zeichneten sich auf ihrem zierlichen Körper unzählige Hämatome ab und auch die Verletzung an ihrer Wade schien noch nicht verheilt zu sein. Wie viel Zeit wohl schon zwischen ihrer Vergewaltigung bis zu diesem Zeitpunkt vergangen war? Dan überlegte fieberhaft, aber es war ihm entfallen. "Das hat keinen Sinn, ich weiß es nicht mehr." Seufzend gab er es auf zu überlegen. Die Erinnerung würde wohl für immer fortbleiben.

Der Kellerraum, in dem sie sich befanden, war klein, kalt und verstaubt. Trotz das draußen warme Temperaturen herrschten, stiegen sie hier drinnen nicht an. Es waren wohl kaum mehr als 14 °C. Ihn störte die Kälte jedoch nicht. Er veränderte seine Position und strich sich die braunen Haare aus der Stirn. Seine Schulter schmerzte vom Messerstich, welcher The Lone Hunter ihm zugefügt hatte. Doch sonst spürte er nichts. Sein Körper war vollkommen taub, aber es war ihm nur recht. Zu oft hatte er unermessliche Qualen leiden müssen, ganz gleich, ob er die meisten davon am nächsten Morgen schon wieder vergessen hatte. Die Zeit im Waisenhaus war wie die Hölle auf Erden gewesen. Niemals hätte er gedacht, dass er selbst einmal zum Vergewaltiger wurde. Diese Männer hatten es genossen, ihre uneingeschränkte Macht zu demonstrieren. Keiner der Jungen hatte sich wehren können. Er versuchte, diese Erinnerung aus seinem Verstand zu verbannen, jedoch scheiterte er bereits nach ein paar Sekunden. Selbst nach all den Jahren sah er sie noch glasklar vor sich.

Ein dicker Mann mit Ziegenbart und weißer Schürze trat vor ihn. Er wusste, dass es der Koch war, welcher ihnen niemals genug Essen gab, sodass sie nie satt wurden. "Na los, Dan!", erklang es aus dem Mund eines Betreuers, woraufhin er sich brav in Bewegung setzte. Der Koch packte ihn am Handgelenk und zerrte ihn grob hinter sich her, ohne auf seine Schreie zu reagieren. Unsanft wurde er in einen Raum gestoßen, wo bereits die Mädchen warteten. Sie alle saßen in Reih und Glied auf einer Holzbank. Dan vermochte es nicht, in ihren Gesichtern zu lesen. Sie wirkten wie versteinert. "Wenn du gehorchst, bekommst du danach eine lange Umarmung", sagte der Koch mit seiner kratzigen Stimme und fuhr ihm zärtlich über die zitternde Unterlippe. In seinen Augen lag ein widernatürlicher und tierischer Ausdruck. Dan wollte nicht geschlagen werden und eine Umarmung war genau das, was er nach solchen Momenten brauchte. Also zog er sich aus. Die Blicke der Mädchen trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht. Er hörte, wie der Gürtel des Kochs scheppernd auf den Boden fiel. Es dauerte nicht lange, da folgte auch der Rest seiner Kleidung. "Du fühlst dich so gut an. So weich ...", raunte ihm der bullige Mann ins Ohr. Augenblicklich flutete eine Gänsehaut seinen Körper. Er brachte es weder über sich, die Hand des Kochs von seinem Glied zu entfernen, noch die Mädchen anzusehen, von denen ein paar schon bitterlich weinten. Grob wurde er auf den Boden befördert und dann fing der Koch auch schon an, ihn zu penetrieren ...

"Ich hätte sie alle umbringen sollen. Jeden einzelnen." Dan knirschte mit den Zähnen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Diese Männer hatten es geschafft, dass kleine Jungen eine Erektion bekamen. Es war zuwider der Natur und ihm wurde schlecht. Schnell lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf die schlafende Aubrey und horchte in sich hinein. Die Trauer um Eve war verschwunden, denn seine Gefühle schienen in einem schwarzen Loch versunken zu sein. Mühsam versuchte er sich an das Geschehnis zu erinnern, doch es schien so, als ob seinen Verstand ein undurchdringlicher Nebel umwabern würde. Die Dissoziation forderte ihren Tribut. Er vergaß von Stunde zu Stunde mehr und übrig blieb nur quälende Leere. Doch die Frau, welche ihn geliebt hatte, konnte er nicht vergessen. Eve war schon immer das komplette Gegenteil von ihm gewesen. Er war introvertiert und in sich zurückgezogen. Nichts tat ihm besser als die Einsamkeit. Eve jedoch war extrovertiert und die Freude in Person. Sie liebte das Leben mit all seinen Schattenseiten und ihr Optimismus war ansteckend. Aber nun war sie fort. Seinetwegen.

Als Aubrey schmerzerfüllt aufstöhnte, stand er schwerfällig auf. Dan hatte sowohl ihre Schussverletzung als auch den Messerstich versorgt und sie anschließend nackt an ein altes Krankenbett gefesselt, welches sich noch in diesem Haus befunden hatte. Durch seine körperliche Kraft war es ein Leichtes gewesen, es hier runter zu tragen. Er wusste nicht, wie lange sie schon hier waren. Das Einzige, was er wusste, war, dass er mit Aubrey in die Wüste von Texas geflohen war und sich nun in einem der Häuser versteckte, welche man vereinzelt alle paar Meilen antraf. Ein alter Freund hatte ihm einst von diesem Ort erzählt. Hier, in dieser abgeschiedenen Einöde, war The Lone Hunter geschaffen worden. So fühlte er sich seinem Idol noch näher. Ihr Kampf lag ihm immer noch in den Knochen. Dieser Mann liebte die Jagd, er analysierte das Kampfmuster seiner Opfer, und wenn der richtige Moment kam, schlug er zu. Aubrey war wohl der einzige Mensch, welcher ihn so aus dem Konzept bringen konnte. "Ich hätte sie vor ihm leiden lassen müssen." Ihm entfuhr ein gehässiges Lachen. Wenn das BKA es schaffte, seine Spur zu verfolgen, wovon er ausging, würde The Lone Hunter sich zweifellos mit auf den Einsatz begeben. Dan hatte pure Verzweiflung in seinen Augen gesehen und der Hass hatte den Killer innerlich aufgezehrt. Wenn die Beamten mitsamt des Killers hier eintrafen, würden sie sich in dessen Revier duellieren und er, der Defiler, würde verlieren. Dan wollte nicht mehr davonlaufen. Das hatte er nie gewollt. Er wollte sich bloß erinnern, nichts weiter. Und es stieß ihn nicht ab, dafür auch die sadistischsten Dinge auszuprobieren. Auch wenn er so seine Menschlichkeit verlor. Niemand musste verstehen, wieso er das tat. Wieso er mordete und Frauen vergewaltigte. Er verstand es selbst nicht richtig. Doch die jahrelange Ungewissheit über seine Herkunft verursachte quälende Kopfschmerzen.

Müde schüttelte er den Kopf und trat neben Aubrey. Die Augenlider des Mädchens flatterten. Er erhöhte das Licht der alten Stehlampe und richtete sie auf ihr Gesicht. Es dauerte nicht lange, da schlug sie die Augen auf. Blinzelnd sah sie ihm entgegen. "Madoc?", fragte sie heiser. Dan grinste und trat ins Licht. Als sie ihn erkannte, verflog ihre Desorientierung. Aubreys Augen füllten sich mit Tränen. "Nein, nein, nein ..." Ein Schluchzen verließ ihre Kehle und sie versuchte sich gegen die Fesseln zu wehren, jedoch vergeblich. "Er ist nicht hier. Und er wird auch nicht kommen." Sie fing an zu zittern und wand sich auf dem Bett. Es ächzte hörbar und das Metall quietschte unangenehm. Dan wartete, bis sie ihren Kampf aufgeben hatte. Erst dann erhob er wieder die Stimme. "Dieser Madoc von dem du sprichst ... Weißt du denn überhaupt, wer er ist?" Aubrey wich seinem Blick aus. "Er ist mein Lehrer. Natürlich weiß ich, wer er ist." Sein Grinsen wurde breiter. "Du verstehst nicht. Ich meine, ob du weißt, wer er wirklich ist." Nun blickte sie ihn doch an. Ihre blauen Augen wirkten wie ein unruhiger Ozean. Einer Ahnung nach wusste er, dass sich bereits eine Vermutung in ihrem Verstand herauskristallisiert hatte. Aber dennoch schüttelte Aubrey stumm den Kopf. "Das dachte ich mir", sagte er schmunzelnd, lief zurück zu seinem alten Klappstuhl und ließ sich auf ihm nieder. Somit trat er auch außer Aubreys Sichtweite und das schien ihr überhaupt nicht zu gefallen. Augenblick wurde sie nervös, und immer, wenn sie ihn ansehen wollte, musste sie ihren Kopf anheben. "Winde dich ruhig unter meinen Augen." Weiterhin schmunzelnd brannte sich sein Blick in ihre Haut wie Feuer. "Bitte sieh mich nicht so an." Aubrey schluckte schwer. Er grinste. "Und was wenn doch?", fragte er mit amüsiertem Unterton und lief wieder auf sie zu.

Die blanke Panik in ihren Augen ließ seinen Körper erbeben. Langsam beugte er sich an ihr Ohr hinunter und hielt dabei ihr Kinn fest, sodass sie den Kopf nicht bewegen konnte. "Was ist, wenn ich dich vergewaltige, Aubrey? Was würdest du tun?" Er ließ seine Hand über ihren Körper gleiten und führte schlussendlich seinen Finger in sie ein. Aubrey schnappte erschrocken nach Luft und wimmerte im nächsten Moment leise auf, als er seine Bewegung verschnellerte. "Ich weiß es nicht, Dan. Bitte lass mich in frieden", flüsterte sie angestrengt. Seine Lippen fingen an, ihren Körper zu liebkosen, was Aubrey eine Gänsehaut bescherte. Kurz vor ihren Lippen hielt er inne. "Was ist es, was dir angst macht?" Panisch und mit geröteten Wangen starrte sie ihn an. Nach einer Weile verließ ein gepresstes "Du" ihren Mund. Dan lachte auf. "Oh du hast ja keine Ahnung, wen du hier vor dir stehen hast. Du hast keine Ahnung, was ich alles mit dir machen könnte", murmelte er und ließ dann schlussendlich von ihr ab. Das Mädchen schloss gequält die Augen. "Danke, Dan." Er ignorierte sie und stellte sich neben die Stehlampe. "Wenn er erfährt, was ich ihr angetan habe, wird er sich rächen." Innerlich wand er sich bereits vor Aufregung.

"Um wieder auf den Punkt zu kommen. Kennst du den Unterschied zwischen Boss und Anführer?" Mit weiterhin geschlossenen Augen schüttelte sie den Kopf. "Es ist wie ein schmaler Grat zwischen Macht und Führung. Bosse sind herrisch. Und herrisch zu sein hat schon seit jeher eine negative Assoziation. Wenn eine Frau Befehle herausschreit, dann wird dies oftmals als herrisch betrachtet. Dieses fordernde Verhalten wird verpönt. Und The Lone Hunter ist jemand, der diesen Aufschrei der Frau als Anfechtung seiner Dominanz ansieht. Ich bin mir sicher, dass du weißt, dass er dominant ist. Er schüchtert andere ein. Und er befiehlt anderen etwas. Deswegen ist er ein Boss und kein Anführer." Er trank einen Schluck aus einer Wasserflasche, welche zuvor neben ihm gestanden hatte, ehe er weitersprach. "Anführer hingegen befehlen niemanden etwas. Sie sind nicht passiv und lassen andere die Drecksarbeit machen. Sie sind kooperativ. Vielleicht auch nett. Und das komplette Gegenteil eines Bosses. Und jetzt rate Mal, was von beidem eher auf Madoc zutrifft?" Aubrey atmete resigniert aus. "Madoc ist ein Boss. Aber inwieweit ist das relevant?" Ihre Stimme war leise und zurückhaltend, so als ob sie fürchtete, würde sie zu laut sprechen, dass er sich erneut an ihr verging.

Dan trat wieder näher auf sie zu. "Er ist The Lone Hunter. Und diese Charakterzüge spiegeln sich in ihm wieder, sobald er versucht, wie ein normaler Mensch zu sein. Mag sein, dass er dies besser hinbekommt als ich, aber er kann nicht ohne Schmerzen leben. Und damit im Umkehrschluss auch nicht ohne Dominanz. Siehst du die Parallelen?" Während er sprach, löste er Aubreys Fesseln und bedeutete ihr, sich aufzusetzen. Geschockt sah sie ihn an. "Nein, das kann nicht sein. Du lügst!", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Wir wissen beide, dass ich die Wahrheit sage. Er war der Proband von Sero Knox, welcher sein Vater war. Madoc ist der gefährlichste Serienmörder der Welt." Aubrey verzog das Gesicht, doch er wusste, dass sie verstanden hatte. Mit einem Seufzen vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und versuchte gleichzeitig, ihre Blöße zu verstecken. "Erschreckend, nicht wahr? Und nebenbei wirkt dein Körper keinerlei Reize auf mich aus, Aubrey. Es stört mich nicht, dass du nackt bist." Sie hob den Blick und runzelte wütend die Stirn. "So wie bei Eve?" Unwillkürlich zuckte er zusammen. Ein Bild erschien vor seinem inneren Auge. Ein kleines Mädchen mit feuerroten Haaren, welches einen pinken Pyjama trug, saß auf einem alten Bett. Sie hielt ein Bild in der Hand und hielt es ihm hin. "Dass sind deine Eltern." Sein Blick fiel auf das Foto. Rechts war eine junge, hübsche Frau mit schulterlangem braunen Haar und blauen Augen. Sie trug ein rotes Kleid und schwarze Stöckelschuhe. Ihr Gesicht zierte ein Lächeln und Grübchen bildeten sich über ihren Mundwinkeln. Ein großer, kräftiger Mann mit Schnurrbart und kurz geschorenen Haaren hielt sie im Arm. Dieser drückte ihr einen Kuss auf den Haaransatz und hatte die Augen geschlossen. Der Mann trug eine schwarze Hose und ein weißes Tank-Top.

Als die Erinnerung sich verflüchtigte, hielt Dan sich den Kopf. Tränen liefen seine Wangen hinunter und er war kurz davor, schluchzend auf die Knie zu sinken. Er hob den Kopf und sah in Aubreys verwundertes Gesicht. Schwer atmend presste Dan die Zähne aufeinander. "Ich habe zum ersten Mal meine Eltern gesehen", raunte er mit belegter Stimme. "Die Frau aus meinen Träumen. Sie ist es tatsächlich. Sie ist meine Mutter." Fassungslos schüttelte er den Kopf. Nach sechs Jahren. Nach sechs Jahren hatte man seinen Wunsch erhört. Er könnte platzen vor Freude. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust und er rief lachend einen Freudenschrei aus. "Endlich!" Dan lief lächelnd auf die alte Tür zu, die nach oben führte. "Komm, Aubrey, geh mit mir nach oben. Lass uns frühstücken. Ich habe momentan keine Lust an dir Experimente durchzuführen. Nicht mehr ...", rief er ihr heiter zu und lief dann die modrigen Stufen nach oben. "Ich bin geheilt." Mit einem Mal fluteten all seine Erinnerungen über ihn hinweg wie eine todbringende Lawine, was ihn dazu veranlasste, kurz stehenzubleiben. Doch dieser Strom an Erinnerungen war ihm willkommener als alles andere. Dan schloss dümmlich grinsend die Augen und wartete auf Aubrey, deren zögernde Schritte er bereits in seinem Rücken hörte.

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