~Kapitel 5~
Sicario hielt sich in einem der Boote versteckt. Die leichten Wellenbewegungen des Wassers schaukelten es hin und her, was zur Folge hatte, dass ihm unheimlich übel würde. Er hasste Wasser. Bereits als Kind hatte er es verabscheut. Seine Brüder hatten es geliebt, im See schwimmen zu gehen, welcher nur eine Viertelstunde Fußmarsch von ihrem Haus entfernt war. Diese Leidenschaft hatte er nie geteilt. Wasser war für ihn eine rohe Gewalt. Eine Gewalt, welche in der Lage war, still und leise Leben zu nehmen.
Stirnrunzelnd lugte er aus seinem Versteck hervor. Ares, Mark und Stan hielten sich um den Bootsverleih auf, während Rico sich bei ihrer Zielperson befand. Er hatte vollstes Vertrauen in seine Brüder und wartete nur darauf, zuzuschlagen. Es war ein Leichtes gewesen, die junge Frau und Knox' Sohn ausfindig zu machen. Gerade mal einen halben Tag Arbeit hatte es in Anspruch genommen, die Register zu durchforsten, welche Fled ihnen bereitgestellt hatte. Es waren alles feinsäuberlich sortierte Akten gewesen. Bilder und Berichte, die genaustens nach Datum geordnet worden waren. Videos, die einen Einblick in jedes kleinste Detail des Lebens von Knox gezeigt hatten. Wenn man dachte, dass das, was Fled ihnen bei ihrem ersten Treffen gezeigt hatte schlimm war, wurde man nach diesen Videos schnell vom Gegenteil überzeugt. Knox war ein Meister darin, Menschen zu töten und sie zu quälen. Er war sich nicht zu schade dafür, die grausamsten Methoden für seine Morde und Folterungen anzuwenden. Fleds Familie war durch die Hand des Killers gestorben. Sicario war der Einzige, der dessen wahren Namen kannte, doch war sein Respekt vor Matthew zu groß, als dass er ihn so angesprochen hätte. Der Kopfgeldjäger mochte tief im Inneren ein herzensguter Mann gewesen sein, doch dieser Auftrag bedeutete ihm viel. Er hatte eine beinahe nicht zu lösende Verbissenheit, sodass Sicario nicht wissen wollte, was Knox ihm in ferner Vergangenheit noch alles angetan hatte.
Wachsam hielt er nach seinen Brüdern Ausschau. Dies war etwas, was Matthew nicht wusste. Er dachte, sie wären eine wild zusammengewürfelte Truppe von Kriminellen, die sich zufällig zusammengefunden hatte, aber dabei stammten sie alle aus demselben Elternhaus. Zugegeben war das nicht immer vorteilhaft, da sich nicht immer die benötigte objektive Entscheidungsgewalt hatten und es unter ihnen oftmals Unstimmigkeiten gab, welche ihren Auftrag gefährden konnten. An und für sich waren sie jedoch eine toughe Gruppe, die mittlerweile eine Erfolgschance von 98 % aufweisen konnte. Etwas, worauf man stolz sein konnte. Bettelte man in dieser Welt um Gnade, kam man nicht weit. Und das war ihr Vorsatz: niemals Schwäche zeigen.
Seine drei älteren Brüder flankierten mittlerweile den Bootsverleih, während Rico die Frau mit ihrem Kind immer näher zu Sicario selbst trieb. Sie gaben sich als Mitarbeiter des Palmengartens aus, damit sie ihr Vertrauen hatten erschleichen können. Niemand würde denken, dass sie eine Entführung planten. In den Augen ihrer Opfer war keinerlei Anzeichen von Angst zu erkennen. Soweit Sicario wusste, hieß die Frau Valia. Wie ihr Sohn hieß, wusste er jedoch nicht, sondern nur, dass er Knoxs eigen Fleisch und Blut war. Der kleine Junge mit den schwarzen Haaren und den stahlgrauen Augen hüpfte aufgeregt mit seinem blauen Spielzeugauto in der Hand hin und her und rief immer wieder "Mami, lass uns Boot fahren!" Die Ähnlichkeit, welche der Kleine zu dem Killer hatte, war unübersehbar. Ihm war die Tragweite dieses Plans noch nicht ganz bewusst. Matthew wollte Knox brechen, er wollte sich mit allen Mitteln an ihm rächen. Aber was würde mit den beiden passieren? Würde der Junge irgendwann den Platz des Killers einnehmen und sich selbst diesen Namen machen? Würde Matthew die Frau umbringen oder sie doch ziehen lassen?
Er konnte die Szenarien in seinem Kopf nicht länger durchspielen, denn als die beiden nur noch zwei Meter von seinem Versteck entfernt waren, gab Rico ihm ein Zeichen. Sofort sprang er auf und schnappte sich den Kleinen, während Rico Valia von hinten überrumpelte. Sie pressten rechtzeitig ihre Hände auf die Münder ihrer Opfer, sodass ihnen kein Schrei entweichen konnte. Ungeduldig sah Sicario sich um. Es dauerte nur eine Minute, da kam ein schwarzer VW Bus angefahren, in welchem seine Brüder saßen. Mit Mühe und Not schafften sie es, ihre Geiseln in den Bus zu zerren. Der Kleine gab recht wenig Widerstand und das war Sicario nur Recht, denn er war nicht gerade der stärkste, doch Valia schrie wie am Spieß, als Rico seine Hand von ihrem Mund löste. "Halt die Klappe, Weib!" Sein jüngster Bruder hob drohend die Hand. Das kantige Gesicht wirkte angespannt, doch die Frau verstummte augenblicklich. Sicario sprang in den Bus und sah sich ein letztes Mal prüfend um. Es gab keine Zeugen. "Fahr endlich los, Blödmann!", schrie er aufgebracht. Ares hörte auf den Befehl und trat aufs Gas.
Ohne viel Zeit zu verlieren, hielten sie sich an Matthews Plan. Nun war die Betäubung an der Reihe. "Gib mir das Benzodiazepin." Mark reichte ihm zwei Spritzen nach hinten. Sicario warf einen skeptischen Blick auf den Kleinen. Er hatte aufgehört zu weinen, lag nun ganz still in seinen Armen. Ein abwertendes Lachen verließ seine Kehle. "Er ist wie sein Vater. So beherrscht und willensstark." Währenddessen spritzte er dem Jungen das Betäubungsmittel. "Tun Sie ihm bitte nichts ... Corvin ist nicht wie Madoc." Er machte sich von den perversen Vorstellungen los, welche er sich im Bezug auf den Kleinen ausgemalt hatte, und gestattete sich, Valia zu mustern. Sie hatte sich ihr volles, braunes Haar hinter die Ohren gelegt und das Kinn herausfordernd angehoben. Ihre Haut war gerötet und gereizt, ihr Gesicht aufgedunsen und mit Furchen übersäht. "Eine Meth-Abhängige also." Sicario lachte kopfschüttelnd. Valias alte Schönheit schlummerte unter einer Droge, die sie hatte um zwanzig Jahre altern lassen. Und in so jemanden hatte sich der Killer einst verliebt. "Sie widern mich an. Rico, wärst du so freundlich?" Rico murrte kurz, doch dann schlug er zu. Der Kopf der jungen Frau schlug nach hinten an die Fensterscheibe und sie wurde ohnmächtig. Trotzdem verabreichte Sicario ihr das Benzodiazepin - für den Fall der Fälle.
Mark, Ares und Stan sagten kein Wort. Sie waren noch nie gesprächig gewesen. Man könnte fast meinen, sie würden einander ignorieren. Stan und Ares glichen sich bis aufs Haar. Braune, schulterlange Haare, kastanienbraune Augen, ein bordeauxroter Anzug. Mark hingegen konnte man sich als typischen deutschen Mann vorstellen. Und dann kamen er und Rico, die Außenseiter der Truppe. Rico war kräftig gebaut, hatte schwarze Haare und grüne Augen. Er lief nur mit Tang-Top und Jogginghose herum, um seine unzähligen Tattoos zu präsentieren. Sicario hingegen war schmächtig, hatte blaue Augen und einen Iro auf dem Kopf, den er sich immer nach Lust und Laune färbte. Wären sie ein Körper gewesen, dann wäre Sicario der Kopf, Rico die Arme und ihre Brüder Beine und Rumpf. Ein perfektes Zusammenspiel unterschiedlicher Regionen. Aber ohne den Kopf war der Körper zu nichts zu gebrauchen. Und genau so war es mit ihnen. Hätten seine Brüder ihn nicht, wären sie schon längst ermordet worden, da sie einfach nie genug nachdachten, sondern immer ihren Impulsen nach handelten.
Mit einem ergebenen Seufzen holte er sein Handy heraus und wählte die Nummer einer ihrer Auftraggeber und stellte auf Lautsprecher. Eine raue Stimme meldete sich, im Hintergrund ertönte der herzzerreißende Schrei eines Mannes. "Sicario?" Er musste schlucken. Nicht wegen dem Schrei, sondern wegen der schneidenden Stimme am anderen Ende des Hörers. "Sir, wir haben Sie." Es blieb kurz still. Nur der Schrei des Mannes war zu hören. Sicario kannte ihn irgendwo her. War das ...? "Ausgezeichnet. Bringen Sie sie gegen 22 Uhr in den Grüneburgpark. Um den Rest kümmere ich mich", wurden seine Gedanken unterbrochen. Dann legte der alte Mann ohne Umschweife auf. "Ihr habt ihn gehört." Sicario sah angespannt aus dem Fenster. Er kannte die Absichten von Fled, aber nicht die des geheimnisvollen Fremden. Eigentlich musste er das auch nicht, denn sie arbeiteten immer nur für den Meistbietenden. Irgendetwas an diesem Auftrag passte nicht ins Bild und diese Tatsache ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Alles schien viel zu einfach und viel zu reibungslos zu laufen. Als ob jemand wollte, dass es genauso ist. "Wohin uns das wohl noch führen wird?"
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