Kapitel 14
"Ich geh mal eben schnell auf Klo!", rief Reece wie aus der Pistole geschossen keine zwei Sekunden nachdem wir aus dem Auto gestiegen waren.
"Das Klo ist in der anderen Richtung!", setzte ich gerade an aber er war schon um die Ecke gebogen und hörte mich nicht mehr.
Mit den Schultern zuckend und einer erhobenen Augenbrauen schaute ich ihm nach. Die ganze Autofahrt hatte er auf sein Handy gestarrt und wie besessen darauf herumgetippt.
Ich musste zugeben, ich war schon sehr neugierig, was er da so wichtiges zu klären hatte. Nicht mal ein paar Augenblicke hatte er seine Augen vom Smartphonedisplay lösen können.
Sofia griff nach meiner Hand und zusammen gingen wir auf den Hof mit den aufgebauten weißen Pavillons, um uns etwas vom Buffet zu holen und unsere lange nicht mehr gesehene Familie zu begrüßen.
"Julie?", rief eine Frau etwas älter als mittleren Alters und kam auf uns zugerannt. Sie kniete sich zu Sofia, die mit aufgerissenen Augen und einem unwohlen Gesichtsausdruck, der laut und deutlich Hilfe schrie, zu mir hoch sah.
Die Frau ging Sofia durch die Haare und zwickte sie in ihre Wange.
"Ich bin Julie!", sagte ich leise und die Frau erhob sich sodass ihr Becken einmal laut knackte.
Ihre Augen weiteten sich und sie musterte mich von oben bis unten.
"Du? Oho! Ich dachte du wärst deine Mutter!"
Verwirrt sah ich an mir herunter. Sah ich echt aus wie Mitte vierzig?
Die Frau lachte.
"Erkennst du mich denn gar nicht? Es ist zwar bestimmt schon gute vier Jahre her, dass wir uns gesehen haben aber seine allerliebste Großtante vergisst man doch nicht, oder?"
Kurz dachte ich nach, dann fiel es mir wieder ein.
"Tía!", rief ich lauter als geplant und fiel ihr um den Hals. Meine Großtante hatte den ganzen Weg von Spanien bis hier auf sich genommen, um die Hochzeit ihrer Nichte zu besuchen.
"Das da unten ist Sofia. Meine kleine Schwester. Sie ist vier."
Tía hatte Tränen in den Augen als sie sich wieder zu Sofia kniete. "Als ich eure Mutter das letzte mal gesehen habe, warst du noch in ihrem Bauch!", sagte sie und stupste Sofia auf die Nase woraufhin sie ein Paar Schritte zurückging.
Fragend sah meine kleine Schwester mich an.
"Babys kommen aus dem Bauch der Mama?" Ihr Blick sprach mehr als tausend Worte und ich lief rosa an. "Das erklärt dir Mama bestimmt irgendwann mal genauer...", murmelte ich und schaute weg.
"Dann werde ich sie gleich mal fragen!", sagte die Kleine entschlossen und stapfte los zu einen der Pavillons, in dem meine Eltern saßen.
Ich zuckte mit den Schultern und schaute Tía lachend an, die sich auch kaum ein Lachen verkneifen konnte.
"Tja, sobrina nieta. Das ist jetzt ein Problem, mit dem sich deine Mutter herumschlagen muss. Hab noch einen schönen Abend. Wir werden uns bestimmt nochmal über den Weg laufen.", sagte sie und ihr spanischer Akzent schlug etwas durch, was aber in höchstens zwei Stunden verschwunden sein würde.
***
"Reece?", schrie ich durch die offene Tür des Männerklos hinein in den Raum mit den Zigtausend Kabinen.
Keine Antwort.
"Reece? Bist du hier drin?", rief ich noch einmal und etwas klapperte. Etwas erleichtert atmete ich aus als ich Schritte hörte, die sich auf den Weg zum Ausgang machten.
"Man ich hab dich überall gesucht! Was machst du de-"
"Hi Julie!", unterbrach mich Aaron, der aus dem Klo getrottet kam und sich seine Hände an seiner Anzughose abwischte, sodass zwei hässliche dunkle Handabdrücke darauf entstanden.
Enttäuscht seufzte ich.
"Hast du Reece irgendwo gesehen?", fragte ich meinen Cousin, der daraufhin anstößig mit der Augenbraue zuckte.
"Ist er vor dir abgehauen? Kann ich natürlich verstehen. Mehr als zehn Minuten würde ich es mit dir auch nicht aushalten!", gab er sarkastiach dazu.
"Aaron!", sagte ich empört und stampfte mit dem Fuß auf den Sandboden.
"Du hast gefragt!"
"Ich hab gefragt ob du ihn gesehen hast und nicht ob du weißt wieso er weg ist!"
Aaron hob alarmiert seine Hände.
"Tut mir Leid Miss Gereizt!", sagte er und ich platzte fast wegen seiner ironischen Sassyness.
"Wenn ich ihn sehe sag ich Bescheid, okay?" Antwortete er und nahm seine Hände wieder herunter.
"Geht klar." Ich umarmte Aaron kurz und er wollte gerade gehen, als wir einen viel zu stärken Parfümduft und das laute Klacken von Absätzen auf dem Boden vernahmen.
"Kimberly", flüsterte er gepresst durch seine Zähne hindurch in mein Ohr.
"Soso! Meine Lieblingscousine datet also ihren eigenen Cousin!", sagte Kimberly belustigt und hielt sich gespielt erschrocken die Handfläche vor den Mund.
In ihren zehn Kilometer hohen Absätzen überragte sich mich um fast einen Kopf und guckte wie eine Gebieterin von oben herab auf meinen Kopf.
"Nein, das tue ich nicht.", wehrte ich mich und schaute ihr mit zusammengekniffenen Augen ins Gesicht.
"Und? Einen anderen Kerl in deinem Alter außer Aaron seh ich hier weit und breit nicht!"
Mein Blick fiel auf den Typ, der neben Kimberly stand und aussah, wie ein angeleinter Hund.
"Ach übrigens. Das ist Luca. Mein Date!", sagte sie mit angeberisch hochgezogenen, aber perfekt gezupften Augenbrauen.
Sie sah echt perfekt aus und ich verstand zu hundert Prozent, dass die Jungs von ihr regelrecht angezogen wurden. Aber wenn alle Leute so aussehen würden, wie ihr Charakter ist, würde sie nicht mal ein Zehntel so gut aussehen wie die Ariana Grande Nachmache, die sie vorgab zu sein.
"Julie ist mit Reece hier!", versuchte Aaron mich zu verteidigen. "Und wo ist dieser Reece?", konterte Kimberly und wickelte sich dabei eine barbieblonde Haarstähne um den Zeigefinger.
Ich schaute auf den Boden und wühlte mit meinen weißen Ballerinas im Sand, was sich als nicht so gute Idee herausstellte.
"Oh nein!" Kimberly schaute mich zu tausend Prozent gespielt mitleidig an. "Ist er abgehauen? Kein Wunder!"
Sie schnalzte mit der Zunge und blickte mich abwertend an.
Das Fass war kurz vorm Überlaufen und mein Gesicht färbte sich langsam aber sicher der Farbe einer überreifen Kirsche.
"Oder gibt es gar keinen Reece? Willst du nur, dass ich beeindruckt bin?"
Ich schnappte nach Luft und riss meine Augen auf. Das war definitv das letzte, was ich jemals wollen würde.
"Es gibt einen Reece. Nur ich weiß nicht, wo er hingegangen ist!", versuchte ich mich verzweifelt aus dieser Situation zu retten.
"Wenn ich er wäre, hätte ich mich auch unauffällig verdrückt. Das hält man ja keine volle Stunde aus mit dir!"
Kimberly musterte mich noch abwertender als ohnehin schon und blieb mit ihren blauen Puppenaugen an meinem Kleid hängen.
"Wo hast du das denn her? Bestimmt aus der Altkleiderkammer, das erkenn ich ja von fünfzig Kilometer Entfernung!"
Jetzt war das Maß endgültig voll.
"Kannst du dich bitte um deine eigenen Angelegenheiten kümmer und mich in Ruhe lassen? Das geht mir sowas von am Hinterteil vorbei, was du von mir denkst und was du als Standart für sonstewas siehst! Wenigstens habe ich Leute, die nicht wegen meines Barbieaussehens oder meiner fake Oberweite mit mir abhängen! Okay? Halt dich bitte hier raus!", platzte es aus mir heraus und am Liebsten hätte ich Kimberly eine gescheuert. Aber ich war im Gegensatz zu ihr gut erzogen.
"Na dann!", sagte sie und ich erkannte in ihrem Blick, dass sie so einen Ausbruch meinerseits definitiv nicht erwartet hatte.
"Falls du diesen..."Reece" heute noch mal siehst, kannst du mir vielleicht seine Nummer geben? Dazu-", sie umrahmte ihr gesicht mit ihren Händen, "kann keiner nein sagen!"
Mir platzte ein weiteres Mal fast der Kragen.
"Obwohl- wenn der zugesagt hat mit dir hier her zu kommen, kann er ja nicht besonders toll sein. Lass es lieber, okay?"
Mit einem Fake Lächeln auf den Lippen klimpert sie mit ihren ellenlangen Wimpern, warf ihre langen blonden Haare über die Schulter und stolzierte mit Luca neben sich, der schaute wie ein zurechtgewiesener Welpe, zurück zu den anderen.
Ich war Millimeter davon entfernt, sie anzuspringen und ihr die Luft abzuschnüren aber wieder musste ich mich zügeln. Beruhigend legte Aaron seine Hand auf meine Schulter.
"Gut gemacht, Jules!"
Ich atmete fest aus und konnte nicht verhindern, dass mir ein paar Tränen in die Augen stiegen.
Ich war nicht nur angepisst, weil Kimberly schlecht über mich redete. Mich nervte es auch tierisch, das sie mir einfach nicht abkaufte, dass ich in der Lage bin, Freundschaften mit Jungs zu schließen, die mich eventuell auch mögen könnten.
Aber ihrer Meinung nach musste ein Mädchen so Fake sein, wie es nur ging, um die Lebewesen der männlichen Spezies von sich zu überzeugen.
Zum ersten Mal in fast einen Jahr fing ich an zu weinen. Aber nicht aus Freude, wie vorhin.
Ich war enttäuscht. Und traurig. Und verunsichert.
"Aaron!", schluchzte ich laut und legte meinen Kopf an die Brust meines Cousins.
"Bin ich wirklich so schrecklich?"
"Jetzt sag bitte nicht du hast dieser blöden Schnepfe auch nur ein Wort abgekauft!"
Mit verheulten Augen sah ich ihm ins Gesicht, welches noch von Wut errötet war.
"Was ist, wenn Reece wirklich abgehauen ist? Weil ich einfach nicht gut genug bin!"
Wieder schluchzte ich.
Aaron strich über meinen Kopf.
"Du bist toll so wie du bist und Leute wie Kimberly müssen erst noch checken, dass irgendwas in ihrem Walnussgehirn falsch läuft."
Ein letztes Mal seufzte ich.
"Er wird wiederkommen. Versprochen.
Und wenn nicht, latsche ich ihm persönlich ins Gesicht! Mit den High Heels meiner Mutter!"
Jetzt begann ich zu lachen.
Aaron konnte einen einfach immer wieder aufbauen, wenn auch nicht ganz komplett.
Doch obwohl ich Reece nicht mal zwei Wochen kannte, wusste ich, dass er nicht eine dieser Personen war, die mithilfe einer schlechte Ausrede einfach so abhauen.
Aber war es wirklich so?
Oder spielte er mir nur etwas vor?
Mein Gehirn war Matschepampe und ich musste mich einfach kurz hinlegen.
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