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m u r m u r

september 2012

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Harry || Allys rechter Mundwinkel zuckt leicht nach oben, dann folgt der linke und schließlich breitet sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen aus. „In Ordnung. Lass uns frühstücken. Aber wir gehen ins Café North."

In meinem Kopf entstehen einige Fragezeichen, weil ich überhaupt keine Ahnung von dem Café habe, von dem sie plötzlich schwärmt. Aber ich merke, dass mein Magen dringend trockenes Toast benötigt und ein wenig Kaffee sicherlich auch nicht verkehrt wäre, weswegen ich bereitwillig zustimme.

Als ich das Haus jedoch verlassen möchte, hält Ally mich sanft am Oberarm fest und zieht mich wieder ins Innere.

„Willst du wirklich so gehen?", fragt sie mich leise.

„Wieso?" Verwirrt sehe ich an mir herunter und seufze, als ich bemerke, dass ich immer noch den schwarzweißen Anzug der Mottoparty trage. Während er gestern Nacht jedoch durchaus stylisch gewesen ist, ist der Stoff durchs Schlafen nun völlig verknittert und der Regenguss gestern Nacht hat einige Schlammflecken auf die Hose geworfen. Abgesehen von dem verwahrlosen Aussehen ist es jedoch sehr viel schlimmer, dass ich mit diesem Aufzug direkt die Aufmerksamkeit aller erwecken würde. Dabei ist genau das es, was ich heute tunlichst vermeiden will.

Seufzend versuche ich zumindest das Hemd glatt zu streichen, was Allys amüsiertem  Gesichtsausdruck nach auch nicht wirklich zu funktionieren scheint. Sie versucht ihre Emotionen zu verstecken, hinter einem Schleier von Gleichgültigkeit, aber ich bin im Laufe der letzten Jahre so gut darin gewesen, mein Gegenüber lesen zu müssen, aus Angst, dass ich etwas Falsches sage, dass ich sie nun durchaus durchschaue. Man muss nur ein wenig den weißen Schleier zur Seite rücken, um Allys Farben hindurch schimmern zu sehen.

„Ich könnte dir etwas von Seth zum Anziehen leihen", schlägt sie schließlich vor.

Erleichtert atme ich aus, denn den Anzug loszuwerden ist gerade mein größtes Anliegen. „Das wäre toll, wenn das für deinen Bruder in Ordnung ist."

Sie bedeutet mir, kurz auf sie zu warten und verschwindet leisen Schrittes die Treppenstufen hoch. Ich nutze die Zeit, die sie verschwunden ist, um nicht neugierig im Hausflur umzusehen, wobei ich ein schlechtes Gewissen habe, weil es mich eigentlich überhaupt nichts angeht.

Ich habe mich wie ein Eindringling hier eingeschlichen und doch fühle ich mich durchaus wohl in diesem chaotischen Haushalt, weil ich zum ersten Mal seit langem das Gefühl habe, nicht Harry Styles von One Direction sein zu müssen. Stattdessen haben mich alle Bewohner dieses Haushalts einfach als Harry gesehen und hätten mich eher mit einer Taschenlampe aus dem Haus gejagt, als Bilder meines elendigen Ichs an die Presse zu verkaufen.

Auch im Flur sind überall Bilderrahmen und Fotos zu finden, als würden wir uns in einem lebendigen Fotostudio befinden. Sie strahlen einem von jedem Stück Wand entgegen und anfangs bin ich erschlagen von all den grinsenden Gesichtern. Doch bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, dass jedes Bild etwas Besonderes an sich hat. Das hier sind keine einfachen Fotos, sondern echte Schnappschüsse, die das Leben einfangen. Meist sind die drei Kinder des Hauses zu sehen, die jedoch selten einfach nur in die Kamera grinsen, sondern immer in Aktion sind.

Während Seth häufig während des Tanzens fotografiert wurde, ist der andere Junge auf den meisten Bildern voller Dreck und mit einem verschmitzten Grinsen unterwegs. Ally hingegen wurde auf dem Großteil der Fotos mit einem Buch in der Hand abgelichtet. Meistens lächelt sie ebenfalls, doch manchmal hat sie einen abwesenden Gesichtsausdruck, der sie wirken lässt, als wäre sie in ihren Gedanken verschwunden.

„Hier. Seth schläft schon wieder, aber er hat sicher nichts dagegen, wenn du dir was ausleihst."

Ich zucke zusammen, als Ally plötzlich wieder neben mir auftaucht und sehe hastig auf den Boden, weil ich nicht will, dass sie bemerkt, dass ich ihre Familie analysiert habe. Ich selbst hasse es, wenn jeder versucht sich ein Bild über meine zu machen, ohne Gemma oder meiner Mum überhaupt begegnet zu sein. Und doch habe ich gerade genau dasselbe getan, als ich etwas in diese Bilder interpretierte.

„Die Fotos sind gut", meine ich mit roten Wangen, während ich ihr die Kleidung aus der Hand nehme.

Achselzuckend zeigt sie mir die Tür, hinter der sich das Gästebad befindet. „Mein Vater ist Fotograf."

Kurz warte ich, ob noch ein weiteres Wort über ihre Lippen kommen wird, doch Ally bleibt stumm, weswegen ich schließlich in den Waschraum verschwinde.

Das Badezimmer ist so winzig, dass ich mich kaum um meine eigene Achse drehen kann, doch die farbenfrohen Akzente in dem sonst sehr schlicht eingerichteten Zimmer täuschen gekonnt darüber hinweg.

Der beengte Platz erschwert es, mich aus dem Anzug zu quälen. Als ich mich schließlich in eine ausgewaschene Jogginghose und einen schwarzen Pullover zwänge, der an den Schultern ein wenig eng sitzt, stoße ich mir den Fuß am Waschbecken und hüpfe auf einem Bein auf der Stelle. Dabei beiße ich meine Lippen zusammen, um keinen Schmerzenslaut loszulassen, bis der Schmerz endlich wieder abgeklungen ist.

Dann falte ich den Anzug, bevor ich ihn vorsichtig in die Plastiktüte stecke, die Ally mir netterweise ebenfalls gegeben hat und verlasse das Badezimmer wieder.

„Hat dein Bruder vielleicht auch eine Kappe, die er mir leihen könnte?", frage ich das Mädchen, das geduldig auf mich gewartet hat.                                                   

Sie sieht verwirrt von ihrem Handy auf. „Wofür brauchst du eine Kappe? Es ist nicht einmal wirklich hell draußen."

Ich beiße mir auf die Unterlippe und rücke den Anzug in der Plastiktüte zurecht, obwohl er ohnehin schon perfekt eingepackt ist.

„Das hilft als Tarnung", gebe ich schließlich mit roten Wangen zu. „Ich kann darauf verzichten, heute irgendeinem meiner Fans in die Arme zu laufen. Mein Kopf explodiert jeden Moment und es täte ganz gut, ein paar Stunden einfach mal zu verschwinden."

Ally öffnet den Mantelschrank im Flur und stellt sich auf Zehenspitzen, um aus der obersten Etage eine Kiste zu ziehen, die mit Kopfbedeckungen fast überquirlt.

„Können deine Fans wirklich so anstrengend sein, Harry?"

Ich lasse die Plastiktüte zwischen meinen Händen hin- und herschwingen, während ich ihr bei der Suche zusehe. Kurz versuche ich, Augenkontakt herzustellen, aber sie ist ein Meister darin, überall hinzusehen außer in mein Gesicht. Gerade mustert sie stirnrunzelnd eine pinkgestreifte Bommelmütze, die mich an meinen letzten Skiurlaub erinnert, weil meine flüchtige Bekanntschaft damals eine ähnliche besaß.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich entscheide, ob ich ihr wirklich eine ehrliche Antwort geben kann. Aber wenn Ally jemand wäre, der Details aus meinem Leben ausplaudert, dann hätte sie alleine durch die gestrige Nacht ohnehin schon genug Material sammeln können. Nach kurzem Zögern beschließe ich, dass ich deswegen genauso gut auch über eine weitere Klippe springen kann, in der Hoffnung, dass sie mich nicht verraten wird.

„Das Verhalten meiner Fans gestern Abend war keine Ausnahme, Al. Ich meine, ich liebe sie dafür, dass sie die Band so sehr unterstützen, aber manchmal ist es einfach zu viel." Fahrig streiche ich mir durch die Haare und presse die Worte über die Lippen, die ich immer hastig anhängen muss, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Mittlerweile fliegen sie einfach in die Freiheit, während ich sie bei den ersten Malen gewaltsam in ihren Käfig treiben musste. „Ich weiß, dass ich nicht meckern darf, denn eigentlich ist mein Leben perfekt."

„Kein Leben ist perfekt. Auch deines wahrscheinlich nicht", meint Ally mit einem kleinen Lächeln und drückt mir eine dunkelblaue Nike-Kappe in die Hand. „Und es ist auch okay, wenn du das zugibst."

Ich ziehe mir die Kappe über und versichere mich dann kurz im Spiegel, dass sie wirklich tief genug in meiner Stirn sitzt. Zusammen mit den langärmeligen Sweatshirt, der schlabberigen Jogginghose und den dunklen Farben sollte sie hoffentlich genug Schutz bieten, um zumindest den Cafébesuch mit ihr unauffällig hinter mich bringen zu können.

„Wollen wir dann los, Al?"

Stumm zieht sie die Haustür hinter uns beiden zu und führt mich dann zur nächsten Metrostation, die uns ins Stadtzentrum bringt.

„Wohnst du schon lange in Manchester?", frage ich, während die Bahn sich schließlich ruckelnd in Bewegung setzt.

„Schon immer", murmelt sie, während sie ihr Handy zwischen den Fingern dreht.

Stumm sehe ich ihr dabei zu, doch irgendwann verschwindet es in ihrer Schultasche, die sie ebenfalls mitgenommen hat, um danach direkt zur Schule gehen zu können.

„Soll ich deinen Rucksack tragen?", biete ich ihr an, doch sie schüttelt bloß stumm den Kopf.

Während des Weges versuche ich Konversation zu betreiben, doch Ally ist kein leichter Gesprächspartner. Sie hört durchaus aufmerksam zu, aber meistens schweigt sie, während ich erzähle. Ich habe Angst, dass ich sie langweile und mit jedem Meter werde ich unsicherer.

„Hier müssen wir raus", meint Ally schließlich, als wir die Shudhill Station erreichen.

Ich warte, bis sie vor mir die Bahn verlassen hat und laufe dann neben ihr die Straße entlang. Das Northern Quarter ist mir wahrlich nicht fremd, bin ich doch auch in der Nähe Manchesters aufgewachsen und erst gestern auf einer Party hier in dieser Gegend aufgeschlagen.

Es ist so früh, dass die meisten Leute, die unterwegs sind, bloß gehetzt zu Arbeit eilen und ich keinen neugierigen Blicken ausgesetzt bin. Erleichtert atme ich aus, während ich die Umgebung in mir aufnehme.

„Kommst du oft hierher?" Fragend sehe ich Ally an.

„Es ist mein Lieblingsviertel in Manchester", erzählt sie mir mit sanfter Stimme.

Ich nicke lächelnd. „Ich mag es auch echt gerne. Als ich noch zur Schule gegangen bin, bin ich oft am Wochenende mit meinen Freundin hierhergekommen oder habe alleine die Läden durchstöbert."

Schweigend laufen wir die Shudhill Street entlang, bis wir schließlich ein wenig später vor einem Café anhalten, dessen gemütliche Beleuchtung direkt einladend von dem wolkenbehangenen Himmel ablenkt. Der Name des Northern Cafés ist großräumig durch die Druckbuchstaben zu erkennen, weswegen ich weiß, dass wir am richtigen Ort angekommen sind.

„Das kenne ich gar nicht", gebe ich zu und kann Ally gerade noch die Tür aufhalten, bevor sie sie selbst bereits geöffnet hat.

„Willkommen im besten Café Manchester", lächelt sie, sobald wir uns im Inneren befinden und die Tür mit einem leichten Klingeln wieder hinter uns zufällt.

Trotz der frühen Stunde vibriert das Geschäft bereits unter Gesprächen und Gähnen, sowie den herumeilenden Bedienungen, von denen eine uns mitteilt, dass wir uns einfach einen Tisch aussuchen dürfen.

Als Ally zu einem Tisch am Fenster herübergehen will, halte ich sie vorsichtig am Ellbogen auf.

„Ist es für dich okay, wenn wir ganz hinten im Laden sitzen?", bitte ich sie. „Da ist die Gefahr, dass ich erkannt werde, geringer."

Die meisten Anwesenden sind deutlich älter als wir und viele von ihnen sind in Anzüge gehüllt, dennoch will ich nichts riskieren.

„Klar", meint Aly achselzuckend. „Sag mir einfach, wo du am liebsten sitzen willst. Das ist okay für mich."

Ich bahne uns einen Weg durch den Raum, wobei ich einmal fast über einen Rollkoffer stolpere, was Ally zum Lachen bringt, während meine Wangen Feuer fangen. Hastig eile ich weiter und versuche von dem Missgeschick abzulenken, in dem ich mich für einen der Tische entscheide.

Ich rutsche auf die rote Lederbank und warte dann geduldig, bis sie ebenfalls neben mir Platz genommen hat.

Um in der Stille was zu tun zu haben, die sich wieder wie ein Schleier über uns beide legt, nehme ich die Karte durch und blättere in ihr, obgleich ich ohnehin weiß, dass mein Magen heute nicht viel zu sich nehmen kann.

„Sind die Smoothies gut?", frage ich Ally schließlich, als mir die Stille zu viel wird.

Sie zuckt mit den Achseln. „Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Die meisten davon sind mir zu gesund."

Meine Augen fixieren wieder die Karte vor meinen Augen, bis das Schweigen in meinen Ohren immer lauter wird und schließlich in einem lauten Knall explodiert. Die Sekunden wandern hinweg, wandeln sich in Minuten und mit jedem Moment fühle ich mich unwohler.

Nachdem die Bedienung unsere Frühstücksbestellung aufgenommen hat und wir erneut in eine verhängnisvolle Stille getaucht werden, die die dumpfen Kopfschmerzen in meinem Kopf mit jedem Schlagen präsenter machen, kann ich nicht mehr. Seufzend klappe ich die Karte zu und mustere das Mädchen, das mir schräg gegenüber sitzt und eine hellblonde Haarsträhne zwischen ihren Fingern dreht.

„Redest du immer so wenig? Oder liegt es an mir?", frage ich sie, nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen habe. Dennoch dauert es eine Weile, bis ich die Wörter überreden kann, über meine Lippen zu gleiten.

„Nein, es liegt nicht an dir", versichert sie mir hastig. „Wirklich nicht. Es tut mir leid. Ich rede nur wenig, wenn ich jemanden nicht kenne."

Ich nicke erleichtert, während ihre Worte den Knoten in meinem Magen auflösen.

„Aber so kannst du auch niemanden kennenlernen", merke ich an.

Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Vielleicht will ich das gar nicht?"

„Ich bin es aber wert kennengelernt zu werden, Al", entgegne ich stur. „Und ich glaube, dass wir beide uns gut verstehen könnten, wenn du dich einfach darauf einlassen würdest."

Ihre Mundwinkel zucken. „Vielleicht, Harry. Aber ich glaube nicht, dass wir je die Chance haben, das herauszufinden."

„Wieso nicht?"

Ich bekomme keine Antwort auf meine Frage, weil in diesem Moment unser Frühstück gebracht wird. Während vor Ally nun ein riesen Berg an Blaubeerpfannkuchen mit Ahornsyprup und einer heißen Schokolade thront, gebe ich mich mit trockenem Toast und Kaffee zufrieden.

„Schmeckt das überhaupt?" Zweifelnd nickt sie in Richtung meines Tellers.

„Nein, nicht wirklich", gebe ich zu. „Aber ich befürchte, dass ich doch noch einiges an Alkohol im Blut habe und will meinen Magen nicht unnötig herausfordern."

„Weise Entscheidung, Mister Styles", grinst sie und schiebt sich dann ein Stück Pfannkuchen in den Mund.

Nach einigen Minuten betrachte ich Ally möglichst unauffällig dabei, wie sie nachdenklich an ihrem Getränk zippt. Ihre Finger umklammern die Tasse, als würde sie alle Weisheiten der Welt enthalten, die sich ihr jedoch nicht erschließen wollen.

„Ich kann versuchen mehr zu sagen, wenn dich die Stille so sehr stört", meint sie schließlich mit leisen Worten. Sie vibrieren beinahe unbekannt in all dem Gemurmel des Cafés, das wie eine ständige Begleitung durch die Wände fliegt.

„Das war wirklich kein Vorwurf", versichere ich ihr hastig. „Ich habe einfach nur Angst, dass ich dich langweile, weißt du?"

Sie schenkt mir ein ehrliches Lächeln. „Tust du nicht, Harry. Versprochen."

Eine Scheibe trockenen Toasts verschwindet nach und nach in meinem Mund, wobei ich bei jedem Bissen mehr das Gesicht verziehe, denn der Geschmack erinnert mich auf schlimmste Weise an ein trockenes Stück Papier.

„Wie wäre es mit einem Deal, während wir Frühstücken?", schlage ich vor.

Ally mustert mich kritisch, als wüsste sie nicht ganz, was sie von mir halten soll. Ich kann es ihr nicht verdenken, wenn man bedenkt, wie wir uns kennengelernt haben. Die Situation spricht eindeutig nicht dafür, dass ich jemand bin, dem man vertrauen kann. Kotzende Popstars bekommen sicherlich keinen Vertrauensvorschuss.

„Kommt drauf an, wie der Deal aussieht", murmelt sie schließlich. „Wie genau lautet er denn?"

Ich versuche, betont beiläufig auszusehen, während ich die nächsten Worte in die Freiheit entlasse. Sie muss nicht direkt wissen, dass ich sie durchaus interessant finde, weil sie so anders ist als alle Personen, denen ich seit langem begegnet bin. Allison Baker ist wunderbar normal und unaufdringlich.

„Für jeden Fakt, den ich dir aus meinem Leben erzähle, bekomme ich einen aus deinem, Al."

Ihr Zeigefinger streicht nachdenklich über ihre Tasse. „Mein Leben ist nicht so interessant wie deines."

Das Leder quietscht leicht, als ich mich in ihre Richtung beuge. Die rote Farbe der Sitzbank wirkt wie ein Warnsignal, das ich jedoch grundsätzlich ignoriere.

„Interessant ist immer Auslegungssache. Außerdem ist mein Leben auch nicht immer spannend", entgegne ich.

Sie grinst amüsiert, wobei ihre Augen ein wenig kleiner werden und mich dennoch durch ihren blauen Farbton immer noch faszinieren.

„Sicherlich nicht, Harry. Ich meine, so gut wie jeder bereist schließlich wöchentlich die ganze Welt und wird von Fans verfolgt. Total normal", erwidert Ally sarkastisch und ich habe das Gefühl, dass ich endlich wieder das Mädchen vor mir habe, das ich gestern Nacht bereits kennengelernt habe. Es dauert, bis dieses hinter all der Stille zum Vorschein kommt, aber das Warten ist es definitiv wert.

„Haben wir nun einen Deal, Al?"

Lächelnd schüttelt sie meine ausgestreckte Hand. „Wir haben einen Deal."      

Ein Stuhl am Nachbartisch wird lautstark zurückgeschoben, als die Besitzer gewechselt werden, doch ich wende meinen Blick nicht einmal in die Richtung, weil es mich einfach nicht interessiert. Meine heute Frühstücksbegleitung ist viel interessanter, habe ich doch das Gefühl, dass ganze Welten in ihren Gedanken schlummern, die nur darauf warten, an die Oberfläche gekitzelt zu werden.

„Dann lass uns starten, Al. Wohin würdest du gerne einmal Reisen?"

Stirnrunzelnd sieht sie mich an. „Wie kommst du denn auf diese Frage? Ich dachte, wir starten mit was Einfachem? Meinem Mittelnamen oder so?"

„Du hast einen Mittelnamen?", ziehe ich sie auf.

„Du nicht?"

Ich nippe an meinem Kaffee. „Doch, ich habe auch einen. Aber danach werden wir nicht fragen, weil das doch langweilig wäre."

„Ich könnte dich auch einfach googeln", merkt Ally trocken an und nickt in Richtung ihres Handys, das neben ihrem Blaubeerteller liegt und ein wenig mit Sirup verklebt ist.

Lachend schüttele ich den Kopf. „Das wirst du nicht tun."

„Wieso nicht?"

„Weiß nicht. Einfach nur so ein Gefühl", gebe ich schließlich zu und mustere sie unsicher. „Wirst du es tun?"

Ally schiebt das Handy von sich und schüttelt den Kopf. „Nein. Ich werde dich nicht googeln, denn das wäre nicht fair. Außerdem wüsste ich gar nicht, was genau ich glauben sollte, weil im Internet alles Mögliche stehen kann. Da frage ich dich lieber direkt."

Mit einem Lächeln im Gesicht nehme ich einen weiteren Schluck Kaffee. „Dann wirst du auf meinen Mittelnamen noch ein wenig verzichten müssen."

„Es gibt ohnehin wichtigeres im Leben als Namen", lässt sie mich achselzuckend wissen und legt dann die Stirn in Falten. „Du willst wissen, wohin ich reisen würde, wenn alles möglich ist?"

Ich nicke stumm, um ihr Zeit zum Nachdenken zu geben. Sie lässt sich Zeit, wiegt Optionen ab und es dauert, bis sie mir schließlich eine Antwort gibt. Aber genau das ist es, was ich will. Keine schnelle Ausrede, sondern den wirklichen Wunsch ihres Herzens, denn dieser kann einem so viel mehr über eine Person erzählen als tausend bloß daher gesagte Worte.

„Paris", meint Ally schließlich. „Ich würde nach Paris reisen."

„Warum?"

Ein trauriges Lächeln legt sich auf ihre Lippen. „Weil ich dort noch nie gewesen bin und es wunderschön sein soll."

„Ist es wirklich, Al."

Ich erinnere mich an meinen ersten Abend in Paris, in der Niall und ich uns geweigert haben, die Augen zu schließen. Stattdessen haben wir uns aus dem Hotelzimmer gestohlen und sind in den Schatten der Nacht durch die Straßen gelaufen, um den Zauber der Stadt der Liebe in uns aufzunehmen. Die meisten behaupten, dass ich die strahlenden Lichter liebe, immer weiter nach den Sternen greifen will und meistens haben sie Recht. Aber was ich wirklich liebe, sind die Schatten der Nacht, die es mir erlauben, für einige Stunden jemand anderes zu sein. Nicht mehr Harry Styles, bloß Harry, der genauso verloren wie alle anderen durch die Straßen streift.

„Wenn ich das nächste Mal nach Paris reise, dann nehme ich dich mit", beschließe ich.

Augenverdrehend sieht sie mich an. „Ich glaube nicht, dass du dich dann überhaupt noch an mich erinnern wirst."

Meine Kaffeetasse landet mit einem sanften Knall auf dem hölzernen Untergrund und hinterlässt einen Abdruck auf dem sonst so sauberen Tisch.

„Warum sollte ich mich nicht mehr an dich erinnern können?"

Sie weicht meinem Blick aus, lässt ihn schweifen und sieht dennoch nie in meine Augen, als wäre ich der Drache, der ihr Leben in eine Feuerwand verwandelt. „Weil du Harry Styles bist und ich nicht. Ich bin bloß Ally."

Meine Finger verkrampfen sich bei ihren Worten um das kalte Porzellan, das von außen so perfekt wird und im Inneren doch bloß eine Tasse ist wie jede andere. „Das gibt gar keinen Sinn, Al."

„Könnte am Restalkohol liegen", scherzt sie, doch ich bin nicht bereit, ihre Worte so schnell wieder zu vergessen.

„Das würde ich komplett nüchtern genauso sehen", versichere ich. „Und ich verspreche dir, dass ich dich nächstes Mal mitnehme nach  –"

„Stopp", ruft sie schockiert und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass ich der Grund bin für ihre Aufregung. „Man macht keine Versprechen, wenn man betrunken ist."

Verwirrung weht durch mein Inneres, während ich versuche, den Sinn hinter ihren Worten zu greifen, der mir doch nie verständlich sein wird. Ich suche nach der Wahrheit, doch sie erschließt sich mir nicht.

„Warum nicht?"

„Weil Versprechen etwas Kostbares sind und man sie nur dann geben sollte, wenn man es ernst meint. Also bitte keine leeren Worte, Harry."

Die Ernsthaftigkeit ihrer Worte lässt mich nachdenklich werden. Sie klingt so überzeugt, als wäre es die Wahrheit der Welt, die alle Kriege beenden kann.

„Was bist du, Al? Die Königin der Versprechen?"

Sie stupst mich an, kann jedoch nicht verhindern, dass ihre Wangen rot werden. Ihre so helle Haut ist nicht dazu geeignet, jegliche Formen der Verlegenheit im Dunkeln zu halten, was mich amüsiert. „Ich habe dich gestern Nacht gerettet. Also hör auf, dich über mich lustig zu machen."

Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. „Tue ich gar nicht. Ich finde das wirklich interessant. Erzählst du mir die Geschichte dahinter?"

Sie nimmt einen Schluck Kakao und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sie schließlich zu sprechen ansetzt. Gleichzeitig fühlt es sich an, als wäre keine einzige Sekunde vergangen, bis sie die ersten Wörter in die Freiheit verlässt. Allison Baker ist der größte Wiederspruch der Welt und ich nehme mir vor, das Rätsel zu lösen, das sie umgibt.

„Mein Dad ist professioneller Reisefotograf und aufgrund seines Jobs immer sehr viel in der Weltgeschichte unterwegs", erzählt Ally mir schließlich, wobei ihre Worte erst leise durch den Raums schwirren, bevor sie lauter werden und mich ganz in ihren Strudel reißen. Nichts anderes ist mehr wichtig in diesen Momenten, bloß die Buchstaben, die über ihre Lippen kommen. „Er liebt seinen Job und ist wunderbar in ihm, weswegen er immer wieder Angebote bekommt. Das bedeutet aber auch, dass er immer längere Zeit nicht zuhause ist. Als ich drei war, habe ich deswegen einmal bitterlich geweint, weil ich ihn nicht gehen lassen wollte."

Stumm bedeutete ich ihr weiterzuerzählen, denn ich kann diesen Umstand wahrscheinlich besser nachvollziehen, als die meisten anderen. Bloß bin ich es nicht, der zurückgelassen wird, sondern derjenige, der andere immer wieder zurücklassen muss, während ich meine Abenteuer lebe.

„Ich habe Dad damals schluchzend erzählt, dass ich Angst habe, dass er nie wieder kommen wird. Da hat er sich lächelnd neben mich gekniet und mir von der Macht der Versprechen erzählt", meint Ally mit einem kleinen Lächeln. „Er versprach mir, immer wieder zu mir zurückzukommen und zeigte mir, wie wichtig es ist, Versprechen zu halten. Seitdem hat er mir einiges versprochen und nicht ein einziges davon gebrochen."

Ich schweige, während ich ihre Worte verarbeite und schließlich beißt Ally sich mit roten Wangen auf die Unterlippe.

„Das hört sich wahrscheinlich total bescheuert an, aber ich glaube wirklich an Versprechen, Harry. Sie bedeuten mir viel", murmelt sie und fixiert den leeren Teller vor ihr.

„Nein, überhaupt nicht bescheuert", versichere ich ihr. Es ist die Wahrheit, denn ich finde es viel mehr beeindruckend, dass sie mir diese Geschichte überhaupt erzählt hat. „Es ist bloß sehr außergewöhnlich und das ist toll."

Irgendetwas scheint sich endlich in Ally zu lösen, denn während des restlichen Cafébesuchs werfen wir Fragen zwischen uns in den Ring und sie hat keine Probleme damit, einige Details über sich selbst zu teilen. Es ist interessant Kleinigkeiten über ihr Leben zu teilen.

Noch viel besser gefällt es mir, dass ich endlich einmal wieder mit jemandem reden kann, der nicht bereits alles über mich weiß oder das zumindest zu denken scheint. Für Ally bin ich eine genauso weiße Leinwand wie sie es für mich ist und es macht unheimlich viel Spaß, die Farbe langsam in die Wirklichkeit zu zaubern.

Wir reden, lachen noch viel mehr und die Zeit verfliegt schneller, als ich es mir wünschen würde.

„Ich muss jetzt los", meint Ally schließlich und zieht einen Stift aus ihrem Rucksack, mit dem sie eine frische Serviette bekritzelt.

Stirnrunzelnd sehe ich auf die fast unleserlichen Zahlen, die sie für immer festgehalten hat, als sie mir die Serviette schließlich reicht.

„Das ist meine Handynummer", erklärt sie mir, während sie sich ihren Rucksack über die Schultern schwingt. „Schreibst du mir bitte, wenn du wieder bei deiner Mum bist? Ich würde gerne wissen, ob du gut nach Hause gekommen bist, damit ich mir keine Sorgen mache."

Ich nicke und falte die Serviette vorsichtig, bevor ich sie in die Hosentasche der Jogginghose stecke.

„Ich melde mich bei dir, sobald ich wieder dort bin. Versprochen, Al."

Lächelnd winkt Ally mir zum Abschied zu und ich starre ihr hinterher, bis die Cafétür mit einem lauten Knall wieder ins Schloss fällt. Die Explosion reißt mich zurück in die Gegenwart, vorbei ist die Parallelwelt, in der ich mich seit letzter Nacht befunden habe und die angenehme Stille, die mir dieses Mädchen geschenkt hat. Stattdessen prasseln die Geräusche wieder auf mich ein und ziehen mich auf den Abgrund hinab

Doch ich lächele, denn ich bin Harry Styles und ich muss funktionieren.

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